In einem früheren Blogpost ergab sich die Frage, auf welche Informationen sich der für die Collectio Senonica verantwortliche Sammler stützen konnte, um die im Großen und Ganzen korrekte chronologische Anordnung seines Materials zu erreichen. Daher soll im Folgenden ein genauerer Blick auf Datumsangaben in den Rubriken des ersten Teils der Collectio Senonica geworfen werden, die in deren beiden erhaltenen Überlieferungen Paris, BnF, Lat. 9654 und vor allem Vatikan, BAV, Pal. Lat. 582 zu finden sind.
Dieser erste Teil der Sammlung, im Vaticanus auf fol. 5r-33r, enthält Rechtstexte – fast ausschließlich Kapitularien – von Pippin dem Jüngeren und Karl dem Großen. Gemessen an der alten MGH Edition von Boretius und Krause sind hier 38 Nummern kopiert, ganz überwiegend vollständig, wobei dem Sammler mindestens eine Nummer (BK 13) in zwei verschiedenen Exemplaren vorlag und auch doppelt abgeschrieben wurde. Zusätzlich nahm er die Recapitulatio solidorum (in der Textklasse A2; siehe Ubl 2018) sowie das (vermeintliche) erste Bischofskapitular Ghaerbalds von Lüttich auf, bei dem es sich womöglich aber tatsächlich um das „Beratungsergebnis der Geistlichkeit auf einer Reichsversammlung“ (Pokorny 2005, S. 95) handelt.
Dieses Textkonvolut bietet die Collectio Senonica gegliedert in 32 optische Einheiten oder Kapitellisten, d.h. es sind mehrfach Kapitularien miteinander verbunden worden bzw. dem Sammler bereits in verbundener Gestalt in seinen Vorlagen begegnet. Für eine perfekte chronologische Sortierung hätte es also 32 Rubriken mit Angaben zur Datierung bedurft. Tatsächlich standen dem Sammler aber nur in etwas über der Hälfte der Fälle (17) explizite Datierungen zur Verfügung, nämlich, in Reihenfolge ihres Vorkommens in der Collectio, zu BK 12, 22, 41, 42, 43, 46, 48, 51, 53, 62, 64, 65, 71, 73, 20a, 78 und 74. Ergänzend hat er zudem die knappe Rubrik zu BK 52 Item ubi supra möglicherweise als Hinweis verstanden, dass dieses Stück aus dem gleichen Jahr wie das unmittelbar vorhergehende (BK 51) stammt; so jedenfalls hat die Rubrik später der Redaktor der Collectio Augustana gedeutet (vgl. Sammlung des Monats August 2023).
Abb. Vatikan, BAV, Pal. Lat. 582, fol. 24r: Rubrik zu BK 51, datiert In anno octavo („Im achten Jahr“) sowie weiter unten auf der Seite die Rubrik zu BK 52 It(em) ubi supra („ebenso [wie] oben“) (© BAV)
Auch im besten Fall hätte der Sammler also bei 14 Einheiten keine direkte Handhabe für deren exaktes Entstehungsjahr gehabt. Gelegentliche Nennungen des ausstellenden Herrschers (Pippin oder Karl) in den Rubriken erlaubten es lediglich, die relative Position dieser beiden Textgruppen zueinander festzulegen: Karls Stücke nach denen seines Vaters Pippin. Sofern der Sammler also beim Kopieren nicht wiederholt Datierungsangaben unterschlug, die in seinen Vorlagen noch standen, bleibt als wahrscheinlichste Erklärung für die meist zutreffende Einreihung der undatierten Stücke nur die Annahme, dass er in solchen Fällen ganze Textblöcke aus seinen Vorlagen entnahm, bei denen die undatierten Stücke von solchen mit einer Datierung eingerahmt wurden.
Daraus folgt im Übrigen weiter, dass zumindest die undatierten Stücke dem Sammler nicht in Gestalt von Einzelausfertigungen oder gar alten Originalen vorgelegen haben können. Denn sonst hätte er diese nicht so oft so treffend an einer passenden Stelle aufnehmen können. Die Collectio Senonica ist also eine Sammlung, die wohl größtenteils auf Grundlage älterer Sammlungen produziert wurde, wie später dann ja auch die Collectio Augustana (unter anderem) auf die Collectio Senonica zurückgegriffen hat.
Aus wievielen verschiedenen Sammlungen sich der Redaktor der Senonica dabei bedient hat, ist leider schwer zu bestimmen. Es lassen sich immerhin verschiedene Datierungstypen in den Rubriken ausmachen. Wenngleich diese nicht zwingend jeweils aus einer separaten Vorlage stammen müssen, erlaubt die Heterogenität zumindest den Rückschluss, dass dem Redaktor nicht an einer stilistischen Vereinheitlichung seiner Rubriken gelegen war. Entsprechend dürften diese recht getreu den Wortlaut der jeweiligen Vorlage bewahren und allenfalls leicht gekürzt sein, was die Identifizierung potenzieller Vorlagen etwas erleichtert.
Eine Analyse der 17 expliziten Datierungen ergibt folgenden Befund:
Am häufigsten sind mit sieben Fällen die unspezifischen Verweise auf ein „soundsovieltes Jahr“, wobei jeweils weder ein konkreter Herrscher benannt wird, noch erwähnt ist, dass es sich um eine Zählung von Regierungsjahren handelt. Gelegentlich wird dazu immerhin noch ein Ausstellungsort angeführt. Die Datierungen finden sich zu BK 42 (ad Salz), 48 (ad Aquis palatium), 51, 53, 65, 73 und 78. In allen Fällen sind faktisch die Kaiserjahre Karls des Großen gezählt.
Als geringfügige Erweiterungen dieses Schemas lassen sich vier Fälle betrachten, die entweder ein „soundsovieltes Jahr“ sowie einen anonymen „Herrn Kaiser“ (domnus imperator) nennen (BK 62, 71), oder die ein „soundsovieltes Kaiserjahr“ mitsamt einem Verweis auf die Position im Kirchenjahr („vor Weihnachten“, „in der österlichen Fastenzeit“) sowie den Ausstellungsort angeben (BK 43, 46). Der Verweis auf nahe Kirchenfeste ist exzeptionell und kommt in keiner der anderen Datierungen in diesem Teil der Collectio Senonica vor. Zudem finden sich diese Rubriken in keiner weiteren Überlieferung von BK 43 und 46. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass beide Stücke aus derselben, heute verlorenen Handschrift (eines Geistlichen?) übernommen wurden. Weitgehend identische Rubriken zu BK 46 finden sich, allerdings ohne die Datierungselemente, in den Handschriften München, BSB, Lat. 19416, Paris, BnF, Lat. 4995 sowie Vatikan, BAV, Reg. Lat. 1036 und 1728 (die beiden letzteren Handschriften weisen zum Teil auch hinsichtlich der in ihnen gebotenen Stücke eine gewisse Nähe zur Collectio Senonica auf).
Abb. Vatikan, BAV, Pal. Lat. 582, fol. 19v, Rubrik zu BK 43: Ad Teotonem Villam fuit datum in anno V. imperii ante natale d(omi)ni („In Thionville wurde [dies] gemacht, gegeben im 5. Kaiserjahr, vor der Geburt des Herren“) (© BAV)
Wiederum etwas ausführlicher sind die beiden Rubriken von BK 41 und 64, die jeweils explizit nach dem Kaiserjahr Karls des Großen datieren und den Ausstellungsort Aachen nennen (z. B. in BK 41: ad Aquis in tertio anno imperii domni Karoli augusti)
Eine kuriose, wohl schwerlich auf ein Original zurückgehende Mischform bietet BK 74. Dort heißt es in der Rubrik, das Stück sei vom (anonymen) „Herrn Kaiser“ in Boulogne „was an der Meeresküste liegt“ in seinem 44. Regierungsjahr, im Oktober, in der 6. Indiktion ausgestellt worden. Gemeint ist offenkundig das 44. (Königs-) Jahr Karls des Großen, dessen Kaiserjahre hier stillschweigend übergangen werden, obwohl sein Titel genannt ist. Das Stück ist im Übrigen irrig hinter dem auf das „13. (Kaiser-) Jahr“ (gerechnet ab Weihnachten 800) datierten BK 78 eingeordnet, obwohl dieses erst nach Karls 44. Königsjahr (gerechnet ab dem 9. Oktober 768) anfing.
Schließlich finden sich noch drei ebenfalls sehr ausführliche, aber jeweils wohl authentische Datierungsangaben in den Rubriken zu BK 12, 20a und 22 (vgl. Mischke 2022, S. 123-127, 141f., 144-146; Tscharf o.J., S. 34f.). Dabei ähneln sich BK 12 (von Pippin) und BK 22 (von Karl) insofern, als dass sie beide ein Inkarnationsjahr angeben (744 bzw. 789), was nirgendwo sonst in diesem Teil der Sammlung vorkommt. Zusätzlich bietet das Stück Pippins noch das Tagesdatum, den Mondzyklus sowie das Regierungsjahr Childerichs III., des letzten merowingischen Königs, während das Stück Karls dessen Regierungsjahr sowie die Indiktion anführt. BK 20a schließlich nennt ausdrücklich das elfte Regierungsjahr „König Karls“ sowie den Ausstellungsmonat. Das hat den Redaktor der Collectio Senonica jedoch nicht daran gehindert, das Stück im Anschluss an BK 71 und 73 einzureihen, die zwar beide ebenfalls das „elfte Regierungsjahr“ anführen, aber wo zumindest im Fall von BK 71 wie erwähnt zugleich ein „Herr Kaiser“ als Aussteller genannt wird.
Abb. Vatikan, BAV, Pal. Lat. 582, fol. 10r: Ausführliche Datierung zu BK 12 mit Angabe von Inkarnationsjahr (744), Tagesdatum, Mondzyklus sowie Regierungsjahr des (merowingischen!) Königs Childerich III. (© BAV)
Zusammengefasst lässt sich sagen, der Redaktor der Collectio Senonica hat sich um eine chronologische Ordnung des ihm in mehreren älteren Sammlungen vorliegenden Materials bemüht – allerdings nicht immer erfolgreich. Dies mag auch daran liegen, dass ihm an einer stilistischen Vereinheitlichung der Rubriken nicht gelegen war, und er diese offenbar nicht einmal sonderlich aufmerksam durchlas. Hätte er dies getan, wären ihm die Fehleinreihungen von BK 12 (erlassen noch unter König Childerich, aber nach dem ausdrücklich „König Pippin“ zugeschriebenen BK 16 aufgenommen), BK 20a sowie BK 74 nicht unterlaufen. Umgekehrt bietet sich so die Möglichkeit, angesichts der mutmaßlich recht getreuen Bewahrung des Wortlauts seiner zahlreichen Vorlagen, diesen näher auf die Spur zu kommen. Dies ist besonders reizvoll, weil im untersuchten ersten Teil der Collectio Senonica alleine bereits 13 Kapitularien vorkommen, die unikal hier sowie in der von der Senonica abhängigen Collectio Augustana begegnen (nämlich, in der Reihenfolge ihres Vorkommens, BK 56, 58, 59, 48, 49, 51, 52, 53, 64, 65, 66, 72 und 73). In diesen Stücken begegnen, soweit sie eine Datierung aufweisen, mit einer Ausnahme (BK 64) lediglich unspezifische Angaben der Art, wie sie oben in der ersten, zahlenmäßig stärksten Gruppe beschrieben wurden. Genau genommen entfallen sogar fünf der sieben Fälle dieser Gruppe auf die Unikate der Senonica. Womöglich könnte also eine künftige Untersuchung so zumindest die Umrisse einer verlorenen Sammlung erschließen, aus der die Collectio Senonica die Masse ihres einmaligen Materials bezogen hat.
S. Kaschke
Tscharf o.J. (zwischen 1971-1980)
Mordek 1995, S. 562-578, 780-797
Pokorny 2005, S. 93-96
Ubl 2018
Sören Kaschke, Handschrift des Monats Februar 2021
Mischke 2022
Sören Kaschke, Sammlung des Monats August 2023