Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Sammlung des Monats August 2023: Die 46-Kapitelliste der Collectio Augustana

Bekanntlich waren Kapitularien im 8. und 9. Jahrhundert ein sehr offenes und flexibel handhabbares Genre der karolingischen Herrscher. Dies schlug sich auch in ihrer äußeren Gestalt nieder. Nur vereinzelt machte man sich am Hof Karls des Großen oder Ludwigs des Frommen offenbar die Mühe, ein Kapitular zumindest mit einigen formelhaften Elementen – etwa zu Datum, Ort und ausstellendem Herrscher – zu versehen; Elemente, wie sie etwa in königlichen Briefen oder Diplomen selbstverständlicher Standard waren (vgl. Mischke 2022). Dieser aus Sicht moderner Historiker (und Editoren) äußerst bedauerliche Mangel stellte in karolingischer Zeit natürlich zumeist kein Problem dar: Denn wenn ein neues Kapitular auf einer Reichsversammlung verkündet oder von Missi im Reich verbreitet wurde, wussten die Zeitgenossen selbstverständlich auch ohne ein solches Formular genau, wessen herrscherlicher Wille ihnen damit kundgetan wurde.
Doch änderte sich die Situation, sobald vorsichtige Amtsträger die im Laufe der Jahre angefallenen Kapitularien zu einer Sammlung verbinden wollten. Schließlich musste man stets gewärtig sein, auf eine Anfrage beim Herrscher wegen eines aktuellen lokalen Problemfalls die unwirsche Antwort zu erhalten, man solle gefälligst dem Kaiser nicht lästig werden und lieber in seinen alten Kapitularien nachsehen, was dazu bereits früher beschlossen worden war. Eine zumindest grob chronologisch geordnete Sammlung konnte also eine große Hilfe sein – aber wie schafften Sammler es, ihr Material in eine solche Ordnung zu bringen?
Als Beispiel soll die 46-Kapitelliste der Collectio Augustana dienen. Diese Sammlung ist in drei Handschriften erhalten, von denen der Codex München, BSB, Lat. 3853 als indirekte Vorlage der beiden anderen erkannt wurde (Hansen 1992), weshalb diese im Folgenden unberücksichtigt bleiben können. In der Liste ist Material aus 15 verschiedenen Quellen exzerpiert: aus 13 Kapitularien (von Pippin dem Jüngeren, Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen), aus dem ersten Bischofskapitular Ghaerbalds von Lüttich sowie aus der Kapitulariensammlung des Ansegis. Die ausgewählten Kapitel sind zu einer durchgezählten Liste vereinigt, der eine Capitulatio mit vom Sammler selbständig formulierten Rubriken für jedes Kapitel vorangestellt ist. Diese Rubriken werden im Text aber mit zwei Ausnahmen (zu c. XXXI und XLI) nicht wiederholt. Von den 14 Vorlagenwechseln innerhalb der Liste werden immerhin neun durch mehr oder minder kurze Zwischenrubriken markiert, welche sich erneut teilweise nur in der Capitulatio und nicht im Text selbst finden. Fünf dieser neun Zwischenrubriken enthalten Datierungsangaben, wie sie für eine chronologische Materialanordnung grundsätzlich nötig wären:

Abb. 1: Datierungen zu BK 42, 52, 20a, 78 und 192 im Text und / oder der Capitulatio (= Cap.) in München, BSB, Lat. 3853, fol. 260r, 257r (Cap.), 261r, 257r (Cap.) und 257r (Cap.) sowie 262v (© BSB).

Doch bereits ein kurzer Blick macht klar, dass ein Sammler mit diesen Angaben nicht viel anfangen konnte: Nur die letzte Angabe (zu c. XLV) identifiziert den Herrscher, dessen Regierungsjahre hier gezählt sind, und erlaubt damit eine eindeutige zeitliche Fixierung. Für die übrigen Kapitel dagegen ist bei einer Liste, die Kapitularien von drei karolingischen Herrschern exzerpiert, mit einem bloßen „Anno XI“ nicht viel ausgesagt; das „elfte (Regierungs-) Jahr“ – aber von Pippin, Karl oder Ludwig? Tatsächlich ist die chronologische Anordnung innerhalb der Liste nach modernem Kenntnisstand zwar häufig leicht fehlerhaft, aber angesichts des nahezu völligen Mangels exakter Daten doch überraschend passabel. Was allerdings auffällt, ist die verdächtig glatt aufsteigende numerische Folge der Jahresangaben: Anno IV – VIII – XI – XIII – XVI. Hat der Sammler etwa nur auf diese Zahlen geachtet und die Frage nach der Identität des jeweiligen Ausstellers ignoriert?
Um dies zu klären, hilft ein Blick auf die Vorlagen des Sammlers der Collectio Augustana. Wie bereits Mordek feststellte, ist diese Sammlung nämlich nicht aus Einzelüberlieferungen von Kapitularien zusammengesetzt, sondern schöpft selbst aus einer anderen, größeren Kapitulariensammlung, der sogenannten Collectio Senonica (Mordek 1995, S. 289). Diese Sammlung, im Folgenden repräsentiert von der Handschrift Vatikan, BAV, Pal. Lat. 582, enthält einen größeren Kapitularienblock, auf den der Sammler der Collectio Augustana zurückgegriffen und dessen relative Anordnung der einzelnen Stücke zueinander er beibehalten hat. Deutlich wird dies besonders bei den individuellen Datierungsangaben: Alle fünf Fälle in der Collectio Augustana lassen sich direkt auf die Collectio Senonica zurückführen, wie die Gegenüberstellung zeigt:

Abb. 2: Datierungen zu BK 42, 52, 20a, 78 und 192 in Vatikan, BAV, Pal. Lat. 582, fol. 18v, 24r (2x), 29v, 31r und 75r (© BAV).

Die Formulierungen aus der Senonica sind in der Augustana teilweise leicht gekürzt (im Falle von „Anno XI“ sogar massiv), aber stets klar zu erkennen. Besonders aufschlussreich ist die Angabe von „Anno VIII“ bei BK 52: Hier bietet die Senonica den pauschalen Verweis „ebenso (wie) oben“ (It[em] ubi supra), womit auf die weiter oben auf der gleichen Seite stehende Datierung von BK 51 als „in anno octavo“ verwiesen wird. Der Sammler der Augustana adaptierte daher für BK 52 sinngemäß die Angabe von BK 51 (aus dem er keine Kapitel exzerpiert hatte), da die eigentliche Formulierung bei BK 52 für Leser unverständlich gewesen wäre – ein Vorgehen, das eine ungekürzte Fassung der Senonica als Vorlage voraussetzt. Allerdings versäumte es der Sammler, die Datierungen seiner Vorlage auf Plausibilität zu prüfen, und behielt einfach die vorgefundene Sortierung bei. So bemerkte er nicht, dass der Sammler der Senonica hierbei recht nachlässig verfahren war und sich wohl allein am numerischen Wert der jeweiligen Regierungsjahre orientiert hatte, obwohl er über bessere Informationen als sein späterer Kollege verfügte. Denn er reihte Karls des Großen BK 20a von 779 ungerührt zwischen BK 73 (von 811) und BK 78 (von 813) ein, da er nur auf die ihm vorliegenden Zahlenangaben achtete, die die drei Stücke jeweils rubrizierten als „De anno undecimo“ – „Anno feliciter XI regni … Karoli regis“ – „De anno tertio decimo“ („Aus dem 11. Jahr“ – „Glücklich im 11. Jahr der Herrschaft König Karls“ – „Aus dem 13. Jahr“). Dass sich die Zählung bei BK 73 und 78 auf die (ab 801 gerechneten) Kaiserjahre Karls des Großen bezog, bei BK 20a aber ausdrücklich die Königsjahre Karls (ab 768) angegeben waren, entging dem Sammler der Collectio Senonica, fiel aber auch dem Sammler der Augustana nicht auf, als er die entsprechende Rubrik zu „Anno XI“ verkürzte.
Noch später arbeitende Sammler, die die Kapitularien allein aus der Collectio Augustana kannten, hatten fortan keine Möglichkeit mehr, Fehler in der chronologischen Ordnung zu bemerken und zu korrigieren. Umgekehrt legt dies nahe, dass frühere Sammler dort, wo sie noch auf Einzelüberlieferungen zurückgriffen, es offenbar häufig mit Exemplaren zu tun hatten, auf denen der ursprüngliche Nutzer bzw. Empfänger selbständig kurze Vermerke angebracht hatte, die das Datum eines Kapitulars sowie ggf. dessen Ausstellungsort (in der Regel den Ort einer Reichsversammlung) festhielten. Gelegentlich wurde dabei sogar der betreffende Herrscher notiert, aber dies war wohl seltener der Fall. Eine genauere Untersuchung dieser Praxis muss einem weiteren Blogpost vorbehalten bleiben; aufgrund seines Reichtums an entsprechenden Vermerken dürfte sich dafür der hier bereits auszugsweise betrachtete Vaticanus als Grundlage anbieten.

S. Kaschke


Literatur:

Hansen 1992
Mordek 1995, S. 287-305, 780-797
Mordek 2000b, S. 45f.
Mischke 2022

Empfohlene Zitierweise
Sören Kaschke, Sammlung des Monats August 2023: Die 46-Kapitelliste der Collectio Augustana, in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/sammlung-des-monats-august-2023/ (abgerufen am 23.11.2024)