Capitularia - Edition of the Frankish Capitularies

Manuscript of the Month July 2019: Vatican, Biblioteca Apostolica Vaticana, Reg. Lat. 1000 B

Sorry, this entry is only available in Deutsch.

(Fast) Unlesbare Texte am Ende des Codex

Die Handschrift Reg. Lat. 1000 B ist in erster Linie als vollständiger Textzeuge der Kapitulariensammlung des Ansegis bekannt. Sie stammt aus der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts und ist in Westdeutschland geschrieben worden. Im direkten Anschluss an Ansegis, ganz am Ende des Codex auf den foll. 87v-88v, trug eine Hand des 10. Jahrhunderts drei verschiedene Kapitularien nach (Bischoff 2014, S. 437; Mordek 1995, S. 841-842; Schmitz G 1996, S. 167-169). Das erste Kapitular, das nachgetragen wurde, ist das Capitulare Olonnense (BK 157; Boretius 1883, S. 316-317), das bis (mindestens) fol. 88r reicht. Die letzte Folioseite des Codex, 88v, gibt einem dann aber Rätsel auf: die Tinte ist zum größten Teil abgerieben und selbst eine Autopsie der Handschrift unter Hinzuziehung einer UV-Lampe, die Anfang Mai 2019 vorgenommen wurde, hat den Text nur bruchstückhaft wieder ans Licht kommen lassen. Die wenigen Wörter, Wortreste und Einzelbuchstaben, die man – auch anhand des hervorragenden Farbdigitalisats der Vaticana – erkennen kann, helfen dennoch bei der Identifizierung der Texte, die dort einst standen, enorm weiter.

Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Reg. Lat. 1000 B, fol. 88v (©Biblioteca Apostolica Vaticana)

Unstrittig ist, dass auf den letzten Zeilen des Schriftspiegels der Anfang des ersten Kapitels des Capitulare Olonnense mundanum (BK 165) steht (Boretius 1883, S. 329), so wie es bereits Mordek in seiner Bibliotheca angibt. Er spekuliert für die davorstehenden Texte, dass dort der Schluss von BK 157 gestanden habe und diesem die Capitula de inspiciendis monasteriis (BK 160) gefolgt sein könnten, so wie es in der Handschrift Wolfenbüttel Cod. Guelf. 130 Blank. (foll. 106r-v) der Fall ist. Die noch zu erkennenden Schriftreste machen aber deutlich, dass dieses Szenario nicht zutreffen kann. Stattdessen stand zwischen dem Ende von BK 157 und dem Beginn von BK 165 das elfte Kapitel des Hlotharii capitulare Papiense (BK 201; Boretius 1897, S. 61-62), was z.B. die noch erkennbare Passage „q[..]dsi dissenserint et qu[.]d[.]“ belegt, die nicht in BK 160 vorkommt. Damit wird die Handschrift zu einem neuen Textzeugen für BK 201.

Der Schreiber dieser Nachträge verwendet eine gleichmäßige, relativ breite karolingische Minuskel. Der Schriftspiegel ist aber gleichzeitig ziemlich reduziert (159-167 x 105-112 mm bei 242-245 x 190-195 mm Blattmaß), sodass nur eine relativ geringe Zahl an Buchstaben in eine Zeile passt. Auch aus diesem Grund wäre es sehr unwahrscheinlich gewesen, dass die vier Kapitel von BK 160 (Boretius 1883, S. 321-322) auf fol. 88v gestanden haben könnten. Sehr fraglich ist aber auch, wie der Schluss von BK 157 c. 6 (es fehlen 22 Wörter), das auf fol. 88r bis ut per comitis eingetragen ist, BK 201 c. 11 und der Beginn von BK 165 c. 1 auf fol. 88v gepasst haben sollen, da nur 16 Zeilen Platz vor dem Beginn von BK 165 c. 1 zur Verfügung stehen. Man muss daher mit Textverlust, z.B. durch einen Augensprung, bei BK 157 oder BK 201 rechnen; bei BK 165 ist der Beginn des ersten Kapitels jedenfalls erkennbar.

Die Vatikanische Handschrift Reg. Lat. 1000 B ist ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig Autopsien und qualitativ hochwertige Farbdigitalisate für die Erforschung von Handschriften sind. Hinzu treten digitale Angebote, so wie jenes der dMGH, die es im konkreten Fall erlaubt hat, gezielt nach noch erkennbaren Wortkombinationen zu suchen und damit sehr schnell auf BK 201 zu stoßen. Diese Hypothese konnte dann nach einer eingehenden Untersuchung der Handschrift bestätigt werden. Die technischen Möglichkeiten für die Entzifferung der Schrift auf fol. 88v sind aber theoretisch noch nicht ausgeschöpft. Zu denken wäre hier an eine Multispektralanalyse, die es wohl erlauben würde, noch mehr verlorenen Text sichtbar zu machen. Wie dem auch sei: Die „Wiederauffindung“ von c. 11 des Hlotharii capitulare Papiense trägt ein kleines Teil zum großen Puzzle der Neuedition der Kapitularien bei.

Dominik Trump


Zur Handschriftenseite (Beschreibung nach Mordek und Transkription)


Literatur:
Boretius 1883
Boretius 1897
Mordek 1995
Schmitz G 1996
Bischoff 2014

How to cite
Dominik Trump, Manuscript of the Month July 2019: Vatican, Biblioteca Apostolica Vaticana, Reg. Lat. 1000 B, in: Capitularia. Edition of the Frankish Capitularies, ed. by Karl Ubl and collaborators, Cologne 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/en/blog/handschrift-des-monats-juli-2019/ (accessed on 11/05/2024)