Capitularia - Edition of the Frankish Capitularies

Manuscript of the Month August: München, Bayerische Staatsbibliothek, Lat. 29555/1 & Inc. s. a. 26m & UB, † Fragmente

Eine fragmentarische Kapitulariensammlung aus Oberitalien

Der Liber legum des Lupus, Teil 3 (zu Teil 1, Teil 2)

Mit den drei Münchener Signaturen ist eine fragmentarische Kapitulariensammlung bezeichnet, von der 31 Blätter bekannt sind (Sigle bei Mordek 1995: M4). Sie entstand in Oberitalien im ausgehenden 9./ beginnenden 10. Jh.; das jüngste darin enthaltene Kapitular stammt von Kaiser Wido aus dem Jahr 891 (BK 224). Die Handschrift wurde im Kloster Benediktbeuern makuliert und ihre Bestandteile – Einzel- und Doppelblätter, teils stark beschnitten – zur Stabilisierung der Einbände von Handschriften und Inkunabeln verwendet. Von den bekannten Blättern wurden vier in der Münchener Universitätsbibliothek aufbewahrt, die jedoch 1944 bei Bombenangriffen verbrannten. Dank einer Beschreibung Gerhard Seeligers, der die Fragmente 1894 sichtete, haben sich jedoch Informationen über die darin enthaltenen Texte sowie Teiltranskriptionen und einzelne Lesarten erhalten.

Die Inhalte dieser oberitalienischen Sammlung sind für die Erforschung der Kapitularien in mehrfacher Hinsicht interessant. Zum einen ist sie ein weiterer Beleg für die Rezeption der Kapitulariensammlung des Ansegis in Italien (vgl. dazu Patetta 1967i S. 724), denn die darin enthaltene Kopie des Ansegis in der Textstufe der Untergruppe B1 war laut Gerhard Schmitz „mit Sicherheit bereits im ausgehenden 9. Jh. im Umlauf“ (Schmitz G 1996 S. 174). Zum anderen finden sich darin einige sehr selten überlieferte Stücke. Zwei Kapitularien werden ansonsten nur noch von einer anderen Handschrift tradiert, nämlich die Capitula ab episcopis imperatori proposita (BK 175) und das Hludowici II commonitorium episcopis Papiae traditum (BK 209). Diese andere Handschrift, Gotha FB Memb. I 84 (10./11. Jh., Mainz = G), ist eng mit der Münchener Sammlung verwandt, bietet aber vielfach einen schlechteren Text als diese (Mordek 1995 S. 369). So hat der Gothanus z.B. bei BK 175 eine ganze Textpassage, wahrscheinlich durch einen Augensprung, ausgelassen, für den die Münchener Handschrift daher der einzige Textzeuge ist (Seeliger 1894 S. 672). Darüber hinaus enthält die Münchener Sammlung Auszüge aus dem Capitulare Mantuanum secundum, generale 813 (BK 93) in der selten überlieferten Ausfertigung auf den Namen Bernhards von Italien (Mordek 1995 S. 371, ders. 1995a S. 1013 mit Anm. 73). Die Kapitel 1 und 3 desselben Kapitulars wurden noch ein zweites Mal direkt im Anschluss an die Collectio Ansegisi kopiert, wobei c. 1 ein nur hier überliefertes Addendum enthält, das laut Mordek eventuell bei einer Bestätigung des Mantuaner Kapitulars Bernhards durch Karl den Großen hinzugefügt worden sein könnte (Mordek 1995 S. 997, Glatthaar 2014 S. 29 f. mit Anm. 123).

Abb. Cod. München Lat. 29555/1, Teil B II, fol. 2v (© BSB München): Ende von BK 93 c. 1 mit dem nur hier überlieferten Zusatz (Z. 2-4): quod si ipse comes adhuc huiuscemodi altercationi finem inponere nequiverit, nunciet imperatori vel regi et eius iuditio terminetur.

Aufgrund des fragmentarischen Erhaltungszustandes der Handschrift ist die ursprüngliche Reihenfolge der einzelnen Blätter nicht sicher zu rekonstruieren. Seeliger und Mordek haben eine mögliche Reihenfolge vorgeschlagen, die an einigen Stellen unzweifelhaft ist, an anderen aber auf bloßen Vermutungen beruht. Dort, wo ein längerer Text, der auch aus anderen Überlieferungen bekannt ist – wie die Collectio Ansegisi – lückenhaft auf mehrere Einzelblätter verteilt ist, ist eine Rekonstruktion der Abfolge unproblematisch; schwieriger wird es jedoch bei Bruchstücken, die mitten im Text einsetzen und bei denen unklar ist, was ihnen vorausging oder folgte. Die Fragmente, die direkte Übergänge zwischen unterschiedlichen Texten bewahrt haben, lassen jedoch erkennen, dass sich die Gemeinsamkeiten mit der Handschrift aus Gotha nicht nur auf die jeweilige Textfassung erstrecken, sondern auch auf die Reihenfolge der Texte innerhalb der Sammlung. Ordnet man ein einziges der Fragmente nach dem Vorbild der Gothaer Handschrift an einer anderen Stelle als der von Seeliger und Mordek vorgeschlagenen Reihenfolge ein, so ergibt sich, dass die Münchener Sammlung und der Gothanus für den gesamten Block von der Collectio Ansegisi bis zur Synode von Pavia 850 (MGH Concilia 3 Nr. 23, S. 217-229) geradezu Zwillingshandschriften sind, wie die folgende Übersicht zeigt:

Die Kapitulariensammlung in der Gotha-Handschrift wurde bisher als eine erweiterte Redaktionsfassung des Liber legum des Lupus von Ferrières angesehen (Wormald 2001 S. 55, Pohl 2003 S. 433 f.), die möglicherweise nördlich der Alpen entstanden sei (Nicolaj 2013a S. 287 f.). Dieser Ansatz zur Erklärung der erheblichen Unterschiede zwischen dem Gothanus und der einzigen anderen vollständigen Überlieferung des Liber legum, der Handschrift Modena, BC, O. I. 2 verliert an Überzeugungskraft, nachdem nun mit der Münchener Sammlung eine Parallelüberlieferung zu der Gothaer Sammlung ausfindig gemacht wurde, die nicht nur in Textbestand und –reihenfolge, sondern auch in der gemeinsamen Überlieferung mit der B1-Fassung des Ansegis mit dieser übereinstimmt. Wir scheinen es hier mit einer um jüngere Kapitularien erweiterten Ansegis-Sammlung zu tun zu haben, die bereits Ende des 9. Jahrhunderts in Oberitalien zirkulierte und die unter anderem eine Vorlage benutzte, auf die auch Lupus für seinen Liber legum zurückgriff.

Doch ist damit das Rätsel der Münchener Sammlung noch nicht vollends gelöst, denn sie enthält neben dem mit dem Gothanus nahezu identischen Block auch noch weitere Kapitularien(auszüge) in Listenform, die dieser nicht überliefert. Es handelt sich bei diesen zwar um bekannte Texte, nämlich um einzelne Kapitel aus Kapitularien oder Synoden aus der Zeit von Pippin von Italien (Pippini Italiae regis capitulare 782-786, BK 91, c. 20 und 3) bis zu Lothar (Römisches Konzil unter Papst Eugen II., 826, MGH Conc. 2, 2 S. 576-580), doch ist unklar, ob es sich dabei um Exzerpte eines Sammlers handelt oder vielleicht doch um eigenständige Kapitularien. Letzteres vermutete Mordek, der in den beiden Kapitellisten Erneuerungen älterer Bestimmungen durch Karl den Großen bzw. Ludwig den Frommen sah (Capitula Italica incerta I, II und III, Mordek 1995, Anhang Nr. 14, 15 und 24).

Abb. Cod. München Lat. 29555/1, Teil A, fol. 1r-v (© BSB München): Fragmentarische Kapitelliste unbekannter Herkunft; vielleicht unbekanntes Kapitular Ludwigs des Frommen? (Mordek 1995, Anhang Nr. 24)

Auch wenn einige Rätsel wohl ungelöst bleiben, ist es ein seltener glücklicher Zufall, dass sich die Überreste dieser Sammlung, versteckt in den Benediktbeurer Einbänden, erhalten haben und geborgen werden konnten. Ein solcher Fund lässt erahnen, wie stark besonders die Mittelalterforschung von Überlieferungszufällen abhängig ist, und wie sehr sich ihre Erkenntnisse durch das Wiederauftauchen nur einer einzigen zuvor unbekannten Quelle verändern können.

B. Mischke


Zur Handschriftenseite (Beschreibung nach Mordek und Transkription)


Literatur:

Seeliger 1894
Patetta 1967i
Mordek 1995, S. 369-376
Schmitz G 1996, S. 173 f.
Wormald 2001, S. 55
Pohl 2003, S. 433 f.
Hauke 2013, S. 13-17
Nicolaj 2013a, S. 287 f.
Glatthaar 2014, S. 29 f.

How to cite
Britta Mischke, Manuscript of the Month August: München, Bayerische Staatsbibliothek, Lat. 29555/1 & Inc. s. a. 26m & UB, † Fragmente, in: Capitularia. Edition of the Frankish Capitularies, ed. by Karl Ubl and collaborators, Cologne 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/en/blog/handschrift-des-monats-august-2019/ (accessed on 03/28/2024)