Wieviele Kapitularien die Herrscher des Frankenreichs insgesamt erlassen haben, wird sich nie mehr mit Sicherheit klären lassen. Selbst prominente Stücke sind teilweise nur in einer einzigen Abschrift erhalten oder gar komplett verloren, wie etwa der Vertrag von Verdun, mit dem 843 das Frankenreich zwischen den drei überlebenden Söhnen Ludwigs des Frommen aufgeteilt wurde. Immerhin versuchten bereits vom 9. Jahrhundert an zeitgenössische Schreiber, mit der Anlage von Sammelhandschriften dem Vergessen vorzubeugen, und bis zum Erscheinen der ersten frühneuzeitlichen Drucke entstanden vereinzelt immer wieder handschriftliche Kopien fränkischer Kapitularien bzw. der sie enthaltenden Codices.
Auch die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts angefertigte Handschrift Vatikan, BAV, Vat. lat. 4982 überliefert Teile einer umfangreichen Kapitularienhandschrift, nämlich des verschollenen Codex von Beauvais. Dieser berühmte Codex, mutmaßlich in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts entstanden, wurde noch 1750 in einem handschriftlichen Verzeichnis der Bestände der Dombibliothek von Beauvais unter der Nr. 50 beschrieben (Omont 1916, S. 65). Zuvor hatten ihn u.a. so prominente Gelehrte wie Pierre Pithou, Jacques Sirmond und Etienne Baluze für ihre Drucke fränkischer Kapitularien benutzt (Eckhardt W 1959, S. 115f.).
Der Vaticanus 4982 bietet auf seinen fol. 1-151 neben einem Auszug der zum Komplex der pseudoisidorischen Fälschungen gehörenden Kapitulariensammlung des Benedictus Levita eine chronologisch geordnete Zusammenstellung vornehmlich westfränkischer Kapitularien, allerdings vermischt mit Konzilsakten, einigen Briefen und sogar einem längeren Heiligenleben in der Übersetzung des Anastasius Bibliothecarius (der 855 kurzzeitig als Gegenpapst auftrat). Das jüngste enthaltene Kapitular ist das 876 von Karl dem Kahlen im Anschluss an seine Wahl zum Kaiser in Pavia erlassene BK 221 (Mordek 1995, S. 865-881).
Nicht zuletzt aufgrund der eingestreuten kapitularienfremden Texte, darunter einer laut des erwähnten Handschriftenverzeichnisses von Beauvais in der Vorlage auf freiem Raum nachgetragenen Urkunde von 1080 auf fol. 66v-67r (Mordek 1995, S. 966), wird zumeist angenommen, dass der Kopist des Vaticanus schlicht einen größeren Block des Codex von Beauvais unverändert abgeschrieben habe. Schließlich vermerkte er auch bei dem fragmentarischen Abbruch seiner Kopie von BK 271 am Rand von fol. 127v ausdrücklich, dass in seiner Vorlage ein Blatt gefehlt habe, bevor er seine Kopie auf der nächsten Seite mitten im Text von BK 272 fortsetzte. Offenbar war auch der Anfang dieses Kapitulars dem Blattverlust zum Opfer gefallen, wenngleich der Kopist das nicht ausdrücklich erwähnt. Eine weitere frühneuzeitliche Teilkopie des Beauvais-Codex weist im übrigen die gleiche Textlücke auf (Mordek 1995, S. 635).
Abb. Vatikan, BAV, Vat. lat. 4982, fol. 127v: Notiz des Kopisten zum Blattverlust („hic deest folium“ – „hier fehlt ein Blatt“) (©Biblioteca Apostolica Vaticana)
Allerdings ergeben sich hier einige Unstimmigkeiten. Noch die geringste davon ist, dass der fehlende Text von BK 271 und BK 272 viel zu umfangreich ist, um auf ein einziges Blatt gepasst zu haben. Gravierender ist etwas anderes: Seit einer Untersuchung von Wilhelm Alfred Eckhardt gilt es als sicher, dass in der Handschrift Vatikan, BAV, Reg. lat. 980 mit fol. 19-37 drei Lagen des ansonsten verschollenen Beauvais-Codex überlebt haben (Eckhardt W 1967, S. 14f.; zustimmend Mordek 1995, S. 866). Die erhaltene Lagenzählung kennzeichnet dabei fol. 19-26 als XXII, fol. 27-34 als XXIII und fol. 35-37 als XXXI (Mordek 1995, S. 835). Die letzte Lage besteht nur aus einem Doppelblatt und einem Einzelblatt (I+1). Der bruchlosen Textabfolge und der Position der Lagenzählung nach ist die Lage selbst offenbar nicht verstümmelt, bildete jedenfalls nie einen vollständigen Quaternio wie die anderen beiden Lagen. Auf diesen drei Blättern nun findet sich der Anfang von BK 272, und zwar genau bis zu der Stelle, nach der der Text des Stücks im Vaticanus 4982 einsetzt.
Abb. Vatikan, BAV, Reg. lat. 980, fol. 35r: Anfang von BK 272 auf neuer Seite (©Biblioteca Apostolica Vaticana)
Auf den ersten Blick scheint diese Lage also fast exakt zu dem spätestens im 16. Jahrhundert eingetretenen Blattverlust des Beauvais-Codex zu passen. Der fehlende Text füllt zwar drei Blätter aus, und nicht bloß eines, setzt aber direkt auf der ersten Zeile von fol. 35 ein und endet in der letzten Zeile von fol. 37. Die gesamte Lage könnte also, etwa bei einer Neubindung des alten Codex, versehentlich ausgelassen worden sein, wodurch sich die Textlücke in den späteren Abschriften vermeintlich gut erklären ließe. Doch bietet die Lage im Reginensis eben nicht den gesamten fehlenden Text. Denn auch am Ende von BK 271 fehlen im Vaticanus 4982 gemäß der Edition von Boretius und Krause sieben Zeilen Text, was in der Hand des Schreibers des Reginensis 980 etwa zehn Zeilen eingenommen haben dürfte – bei einem Textspiegel, der pro Seite Platz für 31 Zeilen bietet.
Wenn also der Reginensis tatsächlich ein Fragment des Beauvais-Codex ist, müsste vor fol. 35 noch mindestens ein weiteres Blatt ausgefallen sein, das dann jedoch nicht mit den anderen drei Blättern zusammen im (späteren) Reginensis 980 überlebt hat, womöglich also erst zu einem späteren Zeitpunkt vor der Anfertigung der Teilkopien im 16. Jahrhundert abhanden kam. Da der fehlende Schluss von BK 271 nur knapp ein Sechstel eines beidseitig beschriebenen Blatts gefüllt hätte, müsste zwischen BK 271 und BK 272 noch mindestens ein weiterer Text gestanden haben. Angesichts der chronologischen Reihung und der Konzentration auf Kapitularien westfränkischen Ursprungs bzw. mit westfränkischer Beteiligung (Erlasse von Herrschertreffen Karls des Kahlen mit seinen Brüdern und / oder Neffen) müsste dies ein Kapitular aus der Zeit zwischen Juli 861 (Reichsversammlung in Quierzy) und Juni 862 (Reichsversammlung in Pîtres) sein. Ein solches Stück ist jedoch heute nicht mehr bekannt, wäre also unter die verlorenen Kapitularien zu zählen. Da der Beauvais-Codex aber auch wiederholt Texte westfränkischer Konzile zwischen seine Kapitularien chronologisch einpasste, könnte hier alternativ auch ein entsprechendes Dokument gestanden haben, entweder vom Provinzialkonzil von Soissons aus dem Herbst 861 oder vom im Juni 862 parallel zur Reichsversammlung abgehaltenen Konzil von Pîtres (Hartmann W 1989, S. 314f.).
Weitere Hypothesen zur Klärung des Verhältnisses zwischen einer fragmentarischen Kapitularienhandschrift des 9. Jahrhunderts und einer Teilkopie des 16. Jahrhunderts ließen sich aufstellen. Eine alle Phänomene der beteiligten Handschriften widerspruchsfrei integrierende Erklärung des heutigen Befunds steht noch aus. Doch mag die Hinzuziehung der anderen Teilkopien des Beauvais-Codex weitere Indizien bringen. Trotz aller Bemühungen mittelalterlicher und neuzeitlicher Schreiber halten die fränkischen Kapitularien auch im 21. Jahrhundert noch genügend Herausforderungen für die Forschung bereit.
S. Kaschke
Zur Handschriftenseite (Beschreibung nach Mordek und Transkription)
Literatur:
Omont 1916
Eckhardt W 1959
Eckhardt W 1967
Hartmann W 1989, S. 314f.
Nelson 1992, S. 196-207
Mordek 1995, S. 835-838, 865-881