Die Handschrift Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 4628 A (P3) wurde um das Jahr 1000 geschrieben und befand sich seit dem Spätmittelalter im Besitz der Abtei Saint-Denis nördlich von Paris. Sie enthält eine imposante Sammlung von Leges und Kapitularien, die am Schluss durch das Protokoll der Kaiserkrönung Karls des Kahlen von 877 und durch Einhards Vita Karoli abgerundet wird. Dennoch hat die Handschrift bislang nicht die Aufmerksamkeit erhalten, die sie verdient. Dies hängt vor allem mit der Tatsache zusammen, dass es sich für weite Teile (fol. 46ra bis 182vb) um eine wortgetreue Abschrift von Paris, Lat. 10758 (P2) handelt, einem Handexemplar des Erzbischofs Hinkmar von Reims. Dabei lag die Handschrift Hinkmars dem Kopisten nicht direkt vor, sondern er bediente sich eines verlorenen Zwischenglieds, wie Matthias Tischler (2001, S. 1519) demonstriert hat. Dieser Teil enthält zwar wichtige Kapitularien der merowingischen und karolingischen Herrscher sowie die Vita Einhards, ist aber aus editorischer Perspektive wertlos. Für den Abschnitt bis fol. 46ra vermutete Hubert Mordek (1995, S. 489; ihm folgend Schmitz 1996, S. 117) ebenfalls eine Verwendung der Handschrift P2, insbesondere für die Prologe der Lex Salica (fol. 6va-7rb) und für die beiden Kapitularien Karls des Großen (BK 39 und BK 40: fol. 7rb-9va). Bei der folgenden Abschrift der Lex Salica (fol. 9va-30ra) war sich Mordek dagegen weniger sicher und stellte fest, „es bleibe zu prüfen, ob letztere nicht Einflüsse einer anderen Vorlage zeigt.“ Diese Texte finden sich nämlich auch in P2, allerdings an anderer Stelle.
Anders als Mordek annahm, ist jedoch der ganze erste Teil unabhängig von Hinkmars Handschrift. Dies lässt sich bei den Prologen zur Lex Salica schlüssig nachweisen. Beide Handschriften überliefern eine redigierte Fassung des langen Prologs, in der die Übereinstimmungen mit dem kurzen Prolog gekürzt wurden. Diese Fassung ist in neun Handschriften überliefert: Bo G Mo P P2 P3 P20 P47 V17. Innerhalb dieser Gruppe weicht P3 signifikant von dem Wortlaut in Hinkmars Handexemplar P2 ab. Während P3 einen ähnlichen Text wie P bietet, hat P2 erkennbare Abweichungen, die auch in den von P2 unabhängigen Handschriften Bo und V17 begegnen:
Incipit prologus] Incipit tractatus Bo P2 V17 (P3: Laus Francorum)
desiderans iustitiam, custodiens pietatem] desiderans pietatem et custodiens iustitiam Bo P2 V17
in pactum habebatur] habebatur in pactum Bo P2 V17
P3 und P2 gehören somit unterschiedlichen Zweigen der Überlieferung an. Etwas anders stellt es sich beim kurzen Prolog dar: Hier gehören P2 und P3 gemeinsam mit Bo P20 P47 V17 zu einer Gruppe, die aus dem Liber historiae Francorum die Ortsnamen „jenseits des Rheins“ in den Text interpolieren (im Gegensatz zu Mo P u.a.). Innerhalb dieser Gruppe können aufgrund der Kürze des Textes keine sicheren Bezüge festgestellt werden.
Bei der Lex Salica zeigt sich jedoch wieder deutlich die Unabhängigkeit von P2 und P3, wie ein kurzer Blick auf das Titelverzeichnis zeigt. P2 weist deutliche Abweichungen von dem in P3 tradierten Standardtext auf:
VIII. De furtis arborum] seu alterius materiamen folgt P2
XIIII. De ingenuis mulierum raptoribus] et de uxore aliena seu de nuptiis sceleratis folgt P2
Wie nicht anders zu erwarten, muss auch für die beiden Kapitularien Karls des Großen (BK 39 und BK 40) eine andere Vorlage angenommen werden, weil P2 nur sechs Kapitel von BK 40, P3 dagegen alle 29 Bestimmungen überliefert. Daraus ergibt sich folgendes Resultat: Der Schreiber von P3 hat diese Texte im ersten Teil aus einer anderen Vorlage abgeschrieben. Als er ihnen bei der Abschrift von P2 erneut begegnete, hat er sie übersprungen, um eine Doppelung zu vermeiden. Der erste Teil der Handschrift muss daher neu bewertet werden.
Zunächst ist wohl anzunehmen, dass der Schreiber der Handschrift um das Jahr 1000 die Texte bereits in dieser Form vorgefunden hat. Auch beim zweiten Teil der Handschrift ab fol. 46r (mitten in einer Lage) nahm er eine ganze Sammlung (P2) als Vorlage und kopierte daraus wortgetreu alle Texte mit Ausnahme der Doubletten. Dem ersten Teil liegt daher ebenfalls eine ältere Sammlung zugrunde (im Folgenden „Collectio P3_2“).
Verschaffen wir uns einen Überblick über ihren Inhalt. Nach kirchenrechtlichen Exzerpten auf einem vorgeschalteten Einzelblatt beginnt die Handschrift mit Herrscherlisten:
1. eine Liste fränkischer Könige von Faramund bis Pippin d.J. (Parallelüberlieferung in P, vgl. Hartmann M 2002, S. 13)
2. ein Verzeichnis römischer Herrscher in Gallien mit sogenannter Völkertafel (Parallelüberlieferung in St. Gallen 732)
3. eine weitere Liste fränkischer Könige von Faramund bis Childerich III., die gegenüber der Parallelüberlieferung in P erheblich aus dem Liber historiae Francorum erweitert wurde
4. die beiden Prologe der Lex Salica
5. BK 39 und BK 40
6. Lex Salica, endet mit EXPLICIT PRIMUS LIBER LEGIS SALICĘ
7. die Aachener Gesetzgebung Ludwigs des Frommen von 818/819 (BK 139–141): ein Text von ausgezeichneter Qualität mit singulären Eingriffen in den Text, die in keiner anderen Handschrift begegnen
8. Lex Francorum Chamavorum (Parallelüberlieferung in P)
9. Doppelkapitular von Thionville (BK 43, BK 44), Versio Vulgata nach Glatthaar 2013, S. 448 wie P24 und W2
10. BK 61 mit BK 63
11. Kapitularien von 829 (BK 191 und BK 192) in der unveränderten Fassung mit Nähe zur Überlieferung bei Benedictus Levita bzw. zu Bc
Das Interesse des Sammlers galt vor allem der fränkischen Rechtstradition (Lex Salica und Lex Francorum Chamavorum). Vielleicht griff er für die ersten Texte auf eine noch ältere Sammlung zurück, die bis zum Explicit-Vermerk am Ende der Lex Salica gereicht haben könnte („Collectio P3_1“). Sie bestand nur aus den Herrscherlisten, den beiden Prologen, den Kapitularien BK 39 und BK 40, die in der Rubrik als Ergänzungen zur Lex Salica bezeichnet werden, und dem Karolina-Text der Lex Salica (nach 800). Der Akzent liegt auf der Verherrlichung der Franken. Die Botschaft, dass die römische Herrschaft durch die Franken überwunden wurde, vermittelt sowohl die Liste römischer Herrscher in Gallien, die „das Reich verloren haben“, als auch der lange Prolog zur Lex Salica mit seiner Diffamierung der Römer als Verfolger christlicher Märtyrer. Die Rolle der Franken wird daneben besonders in den Erweiterungen zur zweiten Liste fränkischer Könige akzentuiert, wo sie neben Königen und Hausmeiern als politische Akteure auftreten. Karl der Große erscheint durch die Kapitularien als legitimer Nachfolger und Erbe der fränkischen Rechtstradition. Wenn man der Sammlung einen Namen geben will, könnte man sie angesichts der singulären Überschrift Laus Francorum für den langen Prolog der Lex Salica „Collectio Francica“ taufen.
Die Erweiterung zur Collectio P3_2 fand in der Zeit Ludwigs des Frommen statt. Am Beginn des Abschnitts wird der Name des Kaisers in einer singulären Ergänzung zur Rubrik von BK 139 ausdrücklich genannt (Incipiunt capitula quę constituit domnus hludouicus imperator). Aufgrund des letzten Stücks könnte die Sammlung frühestens nach dem Jahr 829 entstanden sein. Da keine Kapitularien Karls des Kahlen aufgenommen wurden, liegt eine Entstehung in der Spätzeit Ludwigs des Frommen nahe. Die Häufung von missatischen Kapitularien machen einen kaiserlichen Missus als Auftraggeber der Sammlung wahrscheinlich. Da aus der Aachener Gesetzgebung von 818/819 das kirchliche Kapitular nicht aufgenommen wurde, könnte es sich um einen als weltlichen Missus agierenden Grafen gehandelt haben. Sein Interesse für die Lex Francorum Chamavorum würde dafür sprechen, ihn im nordöstlichen Bereich der Francia, vielleicht sogar im Grenzgebiet zu Friesen und Sachsen zu lokalisieren.
Karl Ubl
Literatur
Mordek 1995
Schmitz G 1996
Tischler 2001
Hartmann M 2002
Glatthaar 2013