Capitularia - Edition of the Frankish Capitularies

Manuscript of the Month October 2022: New ways for mastering one’s material in Cava de’ Tirreni 4

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Die Handschrift Cava de’ Tirreni, Biblioteca Statale del Monumento Nazionale Badia di Cava, 4 bietet mit über 30 vollständigen oder auszugsweisen Erlassen Karls des Großen, Pippins von Italien, Ludwigs des Frommen und Lothars I. eine nur von wenigen anderen Handschriften übertroffene Fülle an Kapitularien. Die meisten davon entstammen dem ersten Drittel des 9. Jahrhunderts, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf für das karolingische Regnum Italiae im Norden der Apenninenhalbinsel erlassenen Stücken. Wie schon in einem früheren Blogpost erwähnt, bietet die Handschrift zwar öfter fehlerhafte Texte, zeichnet sich aber durch eine ungewöhnlich prächtige Gestaltung aus.

Doch auch im Hinblick auf die Erschließung ihres umfangreichen Materials geht die im Süden Italiens in einer nie fest dem Frankenreich eingegliederten Region entstandene Handschrift zum Teil eigene Wege. Zwar bemüht sie sich ersichtlich um eine grob chronologische Ordnung, wie es viele Kapitularienhandschriften tun. Doch verschmäht sie nahezu vollständig den Einsatz des wohl verbreitetsten Gliederungsmittels von Rechtstexten jeglicher Art: eine Nummerierung bzw. Kapitelzählung. Nun stellt sich allerdings die Frage, ob es sich dabei um eine bewusste Entscheidung der Schöpfer des Cavensis handelt, oder hier lediglich jener älteren Vorlage gefolgt wurde, die auch noch in der Handschrift Vatikan, BAV, Chigi F. IV. 75 zu erkennen ist.

Eine Nachlässigkeit des Schreibers auf fol. 204v der Cava-Handschrift eröffnet im Vergleich mit der Strukturierung des gleichen Materials im Chigianus einen unverhofften Einblick in dieser Frage. Beide Handschriften lassen auf einen Auszug aus BK 39 (c. 1 und eine verkürzte Fassung von c. 2) die Kapitel von BK 61 folgen, was in dieser individuellen Kombination auf eine gemeinsame Vorlage zurückgehen muss. Chigi gruppiert sein Material bekanntlich in größere, jeweils durchgehend nummerierte Listen. Eine davon endet dort auf fol. 65r-v mit den beiden Kapiteln von BK 39 (als XXXIIII und XXXV gezählt), so dass BK 61 c. 1 entsprechend als Beginn einer neuen Liste verstanden wurde und als I gezählt ist. Wie erwähnt weist Cava generell keine Kapitelzahlen auf. Doch wohl aufgrund eines Versehens des Schreibers findet sich bei diesen drei Kapiteln ausnahmsweise eine Nummerierung (BK 39 c. 1-2 als XLIIII und XLV, BK 61 c. 1 als cap. I).

Abb. 1: Reste einer Kapitelzählung in Cava 4, fol. 204 (©Biblioteca Statale del Monumento Nazionale Badia di Cava).

Dies klärt gleich zwei Fragen: Zum einen, dass die gemeinsame Vorlage offenbar eine Kapitelzählung enthielt, deren Fehlen in der Cava-Handschrift also auf das Konto ihres süditalienischen Schreibers geht. Zum anderen, dass die Zusammenfassung mehrerer Kapitularien bzw. Kapitularienauszüge in größere, durchgezählte Blöcke ebenfalls bereits in der gemeinsamen Vorlage vorhanden war, also keine Neuerung des mittelitalienischen Schreibers der Chigi-Handschrift darstellt. Beide Schreiber arbeiteten um das Jahr 1000, mithin in post-karolingischer Zeit. Die Materialorganisation ihrer verlorenen Vorlage kann aber angesichts der jüngsten enthaltenen Texte noch aus der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts stammen. Dass der Umfang der mit BK 39 endenden Liste in Cava mit 45, in Chigi aber nur mit 35 Kapitel angegeben wurde, könnte auf Zusatzmaterial zurückgehen (Auszüge der Lex Salica sowie spätantiken römischen Rechts), welches im Chigianus noch als separater, nicht nummerierter Block der ersten Kapitelliste vorangeht und welches dann in einer vom Schreiber des Cavensis verwendeten, heute verlorenen Zwischenstufe mit der Kapitelliste verbunden und in deren Zählung integriert worden wäre. Ein Blattverlust in Cava, dem der Anfang dieses Zusatzmaterials zum Opfer fiel, verhindert sichere Aussagen hierzu. Das verlorene Blatt dürfte, wie schon Mordek plausibel vermutete (Mordek 1995, S. 104), zugleich eine Abbildung Karls des Großen enthalten haben.

Somit dürfte sich der mit BK 39 endende Kapitelblock in der Cava-Handschrift ursprünglich ganz ähnlich dargeboten haben wie der dort ab fol. 220r einsetzende Kapitelblock, der überwiegend Auszüge von Kapitularien Ludwigs des Frommen enthält. Dieser Block ist auch im Chigianus mittels einer durchgängigen Kapitelzählung als eine Einheit kenntlich gemacht, die somit erneut bereits in der gemeinsamen Vorlage vorhanden gewesen sein muss. Den Schöpfern des Cavensis gelang es, den Lesern ihres Codex diesen Zusammenhang auch ohne Rückgriff auf eine Nummerierung zu verdeutlichen. Hierzu bedienten sie sich (übrigens auch schon im ersten, das Langobardenrecht umfassenden Teil der Handschrift) nahezu ganzseitiger Herrscherabbildungen zu Beginn eines Kapitularienblocks,

Abb. 2: Darstellung Ludwigs des Frommen zur Markierung eines neuen Kapitelblocks in Cava 4, fol. 220v: „Cap[itula] dom[ini] Loduicus imperator“ – „Die Kapitel des Herrn Kaiser Ludwig“ (©Biblioteca Statale del Monumento Nazionale Badia di Cava).

unterstützt von gelegentlichen Incipit- oder Explicit-Vermerken, die eine bemerkenswerte, wenngleich in Italien häufiger zu beobachtende Sorglosigkeit hinsichtlich der fränkischen Titel als Kaiser oder König zeigen (Koal 2001, S. 135f.).

Abb. 3: Explicit zum Kapitelblock, unmittelbar gefolgt von der Rubrik des nächsten Blocks in Cava 4, fol. 231v: „Expli[ciunt] cap[itula] Lodovici rex“ – „Es enden die Kapitel König Ludwigs“ (©Biblioteca Statale del Monumento Nazionale Badia di Cava).

So kreativ die Bemühungen der Schreiber und Illustratoren der prächtigen Handschrift aus Cava auch waren – die Verwendung von Herrscherporträts anstelle einer Kapitelzählung blieb eine seltene Ausnahme in Kapitularienhandschriften. Gerade die Nutzer von Rechtstexten verspürten offenbar zu allen Zeiten ein unstillbares Verlangen nach nüchternen Zahlen.

S. Kaschke


Literatur:

Mordek 1995, 98-111, 756-768
Koal 2001
Sören Kaschke, Handschrift des Monats August 2016

How to cite
Sören Kaschke, Manuscript of the Month October 2022: New ways for mastering one’s material in Cava de’ Tirreni 4, in: Capitularia. Edition of the Frankish Capitularies, ed. by Karl Ubl and collaborators, Cologne 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/en/blog/handschrift-des-monats-oktober-2022/ (accessed on 03/28/2024)