Capitularia - Edition of the Frankish Capitularies

Handschrift des Monats August 2018: Paris, BnF, Lat. 9654

Sorry, this entry is only available in Deutsch.

Die Wahrheit liegt auf dem Rand

Der im 10./11. Jahrhundert wohl in Metz entstandene Latinus 9654 der französischen Nationalbibliothek ist eine wahrlich stattliche Sammlung frühmittelalterlicher Rechtstexte (Bühler A 1986, S. 369-372; Mordek 1995, S. 562-578; Schmitz G 1996, S. 133-135; West C 2010, S. 360-373). Auf seinen 172 Blättern versammelt er am Schluss die Leges Salica, Ribuaria, Alamannorum und Baiuvariorum, zu denen noch die nur selten überlieferte Lex Francorum Chamavorum kommt. Vor diesem umfangreichen Bestand an Volksrechten steht eine nicht minder stattliche Sammlung von Kapitularien, die von Pippin dem Jüngeren bis Karlmann II. reichen – sofern das Capitulare Vernense (BK 287, foll. 118v-121r) von Karlmann zum ursprünglichen Bestand der Sammlung gehörte, wie Mordek einschränkend festhält (Mordek 1995, S. 563).

Ein Charakteristikum des Latinus 9654 ist die Fülle an Nota-Zeichen, die die Seitenränder des Codex füllen. Bereits bei einem flüchtigen Blick in die Handschrift fallen die vielen wie ein Herrschermonogramm gestalteten Nota-Zeichen auf, bei denen ein H-förmiges N die Basis für die anderen Buchstaben bildet. Das oval gestaltete O schneidet den als horizontalen Strich ausgeführten Schrägschaft des N. Der zweite Schaft des N bildet zugleich den Schaft des T, während das offene a an das untere Ende dieses Schaftes angehängt wird.


Abb. Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 9654, fol. 65r (© Gallica)

Dieses derart gestaltete Nota-Zeichen findet sich mit weitem Abstand am häufigsten in der Handschrift. Daneben gibt es aber noch andere, so z.B. die folgenden:

Abb. Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 9654, fol. 67r, fol. 102r, fol. 116r (© Gallica)

Die Untersuchung von Nota-Zeichen und anderen Annotationen in Handschriften ist ein sehr aktuelles und fruchtbares Thema, da so die Rezeption der in den Codices überlieferten Texte direkt aus diesen selbst heraus untersucht und verstanden werden kann. Gerade die theologischen Debatten des 9. Jahrhunderts sowie die Beschäftigung frühmittelalterlicher Gelehrter mit klassischen lateinischen Autoren sind Felder, auf denen die Untersuchung von Annotationen wichtige Erkenntnisse liefern (für eine allgemeine Einordnung: Teeuwen 2015 und Teeuwen 2016).

Bei einer so reich mit Nota-Zeichen versehenen Handschrift wie dem Latinus 9654 lohnt es sich, sich auf ein Beispiel zu konzentrieren, das hier das Capitulare Wormatiense Ludwigs des Frommen von 829 (BK 191) sein soll.

Das achte Kapitel des Stücks (Boretius 1897, S. 13) auf fol. 67r hat keine eigene Kapitelzählung und schließt unmittelbar an c. 7 an. Das Nota-Zeichen markiert den Beginn von c. 8, wie schon Mordek feststellte (Mordek 1995, S. 572).


Abb. BK 191 cc. 7/8, Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 9654, fol. 67r (© Gallica)

Interessant ist nun, dass BK 191 c. 8 nicht nur im Kontext des vollständigen Kapitulars vorkommt, sondern auch einzeln überliefert ist, nämlich als Zusatz zum dritten Buch der Kapitulariensammlung des Ansegis, die ebenfalls Teil der Handschrift ist (foll. 29v-66r), unter der Nummer XCI auf fol. 56v (Mordek 1995, S. 572; Schmitz G 1996, S. 135).


Abb. Zusatzkapitel, Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 9654, fol. 56v (© Gallica)

An beiden Stellen, an denen BK 191 c. 8 vorkommt, steht das gleiche Nota-Zeichen – jeweils zwischen den am häufigsten verwendeten –, und hebt das Kapitel damit besonders heraus. Mordek vermutete eine “zeitgenössische Korrekturhand (?)” für das Nota-Zeichen auf fol. 67r, während er das Nota-Zeichen auf fol. 56v nicht erwähnt (Mordek 1995, S. 572). Auf diese “wohl zeitgenössisch zur Herstellung des Codex eingezeichnet[e]” Markierung hat dann Steffen Patzold hingewiesen (Patzold 2015a, S. 464) und es einem “aufmerksame[n], vielleicht sogar zeitgenössische[n] Leser” zugeordnet (Patzold 2014, S. 83-84).

Der Text auf fol. 67r ist dahingehend falsch, dass dort von per trita annorum spacia die Rede ist, wobei das völlig unpassende Wort trita – gemeint war sicher triginta – durch eine Glosse über dem Wort korrigiert wurde: uel XXX. Das Kapitel auf fol. 56v bietet dagegen den korrekten Text: per XXX annorum spacium. Die Glosse dürfte von der Hand des Schreibers stammen, sodass es nicht ausgeschlossen ist, dass auch die Nota-Zeichen von ihm sind. Zudem stammen beide Kopien von BK 191 c. 8 von diesem Schreiber. Vielleicht hat er die Texte mit seinem Nota-Zeichen versehen, um sie besser wiederfinden zu können, jedenfalls wird damit eine enge Verbindung zwischen den Kapiteln geschaffen. Die Glosse zeigt, dass er sich des textlichen Unterschiedes bewusst war. Dass der Beginn von c. 8 markiert wurde, zeugt vom Wissen, dass es sich um ein eigenständiges Kapitel handelt, was der Schreiber bzw. Benutzer ebenfalls der Kapitulariensammlung des Ansegis entnehmen konnte, da es dort als Einzelkapitel vorkommt. Überlieferungsgeschichtlich ist c. 8 relevant, da es Handschriften gibt, bei denen dieses Kapitel innerhalb des Textes von BK 191 fehlt (Patzold 2014, vor allem S. 71-76; Patzold 2015a).

Das Capitulare Wormatiense weist daneben noch weitere interessante Annotationen auf. Das Kapitular umfasst insgesamt 10 Kapitel, von denen cc. 1-3, 5-6 und 9-10 mit dem oben beschriebenen, häufigsten Annotationszeichen versehen wurden, mithin also fast alle Kapitel. Das Nota-Zeichen bei BK 191 c. 8 wurde bereits angesprochen. Es gibt bei c. 5 gleich zwei unterschiedliche Nota-Zeichen:


Abb. BK 191 c. 5, Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 9654, fol. 67r (© Gallica)

Das obere markiert – wie häufig in dieser Handschrift – den Beginn eines Kapitels auf Höhe der Kapitelnummer. Diese Position spricht zudem dafür, dass das ganze Kapitel als relevant erachtet wurde. Das darunter stehende Nota-Zeichen ist nun völlig anders gestaltet und ähnelt – wenn auch größer und deutlich kräftiger geschrieben und somit besonders auffällig – dem bei c. 8 von BK 191 anzutreffenden Zeichen. Es markiert hier in c. 5 den Beginn des Zitats von Ansegis 1,157, das in den Text aufgenommen wurde (Boretius 1897, S. 13 mit Anm. 6; Schmitz G 1996, S. 514). In diesem Zitat geht es um den Neunten und Zehnten eines kirchlichen beneficium. Den gleichen Fall gibt es in c. 9: dort markiert aber das oben beschriebene, am häufigsten verwendete Nota-Zeichen nicht den Anfang des Kapitels, sondern den Beginn des Zitats, diesmal Ansegis 4,38 (Boretius 1897, S. 13 mit Anm. 9; Schmitz G 1996, S. 645).


Abb. BK 191 c.9, Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 9654, fol. 67v (© Gallica)

Da Paris Lat. 9654 auch die Kapitulariensammlung des Ansegis tradiert, lohnt sich ein Blick in diese, und tatsächlich wurden beide Stellen, die sich in BK 191 als Zitate finden – Ansegis 1,157 (fol. 41v) und Ansegis 4,38 (fol. 61v) –, mit Nota-Zeichen versehen. Allerdings mit den standardmäßig in der Handschrift anzutreffenden Zeichen, sodass sich das beim Zitat in BK 191 c. 5 verwendete nicht wiederfindet. Es muss daher offenbleiben, ob diese Annotationen tatsächlich etwas miteinander zu tun haben. Passenderweise wurde aber das in c. 5 ebenfalls vorhandene Zitat von Ansegis 2,21 (Boretius 1897, S. 13 mit Anm. 7; Schmitz G 1996, S. 538-539) auch im Ansegis-Teil der Handschrift nicht annotiert (fol. 45v).

Nicht annotiert hat der Benutzer mit den häufig anzutreffenden Nota-Zeichen jedenfalls die cc. 4, 7 und 8 des Capitulare Wormatiense, das an sich schon eine breite thematische Fülle aufweist. In c. 4 geht es um die Folgen, wenn unrechtmäßig von einer der Kirche gegebenen Hufe ein servitium verlangt wurde. Das siebte Kapitel ist dem Zehnten gewidmet und was geschehen soll, wenn jemand diesen nicht zahlen will, während es in c. 8 um Kirchengut geht, das nach der 30-Jahres-Frist wie Fiskalgut behandelt werden soll. Dass c. 8 bereits mit einem anderen Nota-Zeichen versehen war, könnte ein Grund dafür sein, warum es nicht noch ein weiteres Zeichen erhalten hat.

Selbst der kurze Blick auf nur ein Kapitular konnte zeigen, dass es sich lohnt, die Zeichen auf dem Rand einer Handschriftenseite nicht zu vernachlässigen und in die Untersuchung von Texten einzubeziehen. Sie sind individuelle Zeugnisse der Rezeption, die in vielen Fällen auch Beziehungen zu anderen Texten in einer Handschrift herstellen und diese miteinander verbinden.

D. Trump


Zur Handschriftenseite (Beschreibung nach Mordek und Transkription)


Literatur:

Boretius 1897
Bühler A 1986
Mordek 1995
Patzold 2014
Patzold 2015a
Schmitz G 1996
Teeuwen 2015
Teeuwen 2016
West C 2010

How to cite
Dominik Trump, Handschrift des Monats August 2018: Paris, BnF, Lat. 9654, in: Capitularia. Edition of the Frankish Capitularies, ed. by Karl Ubl and collaborators, Cologne 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/en/blog/handschrift-des-monats-august-2018/ (accessed on 11/24/2024)