Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Handschrift des Monats September 2017: Paris, BN, Lat. 4628 A

So nah und doch so fern: Glossen und Nota-Zeichen

Seit längerem wird die einzelne Handschrift in der rechtshistorischen Forschung nicht mehr nur als bloßer Textträger, sondern als individuelles Artefakt mit jeweils eigenem Wert begriffen. Dennoch wird dabei sehr auf den Text selbst geschaut, die sog. Paratexte wie z.B. Glossen oder Nota-Zeichen werden allzu oft außen vor gelassen und nicht berücksichtigt. Dabei sind gerade sie direkte Zeugnisse der Rezeption eines Codex und verraten die Interessensfelder der Benutzer.

Eine sehr bekannte und reich mit monogrammatischen Zeichen versehene Kapitularienhandschrift ist z.B. Paris, BN, Lat. 9654. Weniger beachtet wurde dagegen der Codex Paris, BN, Lat. 4628 A aus dem 10./11. Jahrhundert, der auf seinen über 180 Blättern einen reichen Bestand an verschiedenen Rechtstexten wie die Lex Salica, die selten überlieferte Lex Francorum Chamavorum, die Kapitulariensammlung des Ansegis sowie Kapitularien vornehmlich Karls des Großen und Ludwigs des Frommen aufweist.

Schaut man den Codex durch, so fallen verschiedene Zeichen auf, mit denen bestimmte Stellen im Text markiert wurden, bei denen allerdings nicht klar ist, von wie vielen Händen sie stammen: es finden sich Blumen, deren Kopf mal dreiblättrig ist, mal nur durch drei Punkte dargestellt wird; Maniculae; Linien, die teils mehrfach durch Ausbuchtungen durchbrochen sind und dabei entweder einzelne Stellen oder ganze Passagen innerhalb eines Textes markieren; Kreuze; das Wort Nota selbst, dieses aber nur spärlich und dann zumeist monogrammatisch dargestellt und  gelegentlich Minuskel-r, wohl für require stehend.

Hinzu treten – gerade im hinteren Teil der Handschrift – Glossen von einer frühneuzeitlichen Hand. In den Glossen (sowie wohl auch den Linien) einerseits und den Maniculae und Blumen andererseits, die sich nicht sicher datieren lassen, kann man unterschiedliche Annotationsstufen fassen, zumal sich jeweils die Tintenfarbe unterscheidet. Die floralen Elemente, Maniculae und das Nota sind heute allerdings teilweise sehr verblasst und kaum erkennbar.


Abb.: Paris, BN, Lat. 4628 A, fol. 33va (© Gallica).

Abb.: Paris, BN, Lat. 4628 A, fol. 34rb (© Gallica).

Wenn etwas in der Handschrift mit einem Nota-Zeichen oder einer Glosse versehen wurde, dann waren dies häufig Kapitularientexte. Das trifft auch auf die Erlasse aus der Zeit Ludwigs des Frommen zu, auf die daher im Folgenden ein kurzer Blick geworfen werden soll.

Es handelt sich dabei konkret um die Kapitularien BK 139-141 auf foll. 30ra-38ra und BK 142, 184, 186-193 auf foll. 146rb-156vb, also zum einen die Kapitularien der Jahre 818/819 und zum anderen jene von 829. Dabei fällt auf, dass ab fol. 151r fast nur noch Glossen vorkommen. Insgesamt hat die Annotatoren eine Vielzahl von Themen interessiert, bei denen sich gewisse Schwerpunkte erkennen lassen. Es sind dies Zölle (z.B. BK 139 c. 17; BK 141 c. 4) und Münzen (BK 139 cc. 18-19), Bestimmungen, die man dem Straf- und (Straf-)Prozessrecht (z.B. BK 139 cc. 3, 8, 10, 16; BK 141 cc. 15, 28; BK 192 cc. 2, 4, 13-14) zuordnen kann, wobei u.a. der Kesselfang und die Kaltwasserprobe (BK 139 c. 1; BK 192 c. 12), Fehden (z.B. BK 139 c. 13; BK 193 c. 8) und Eidleistungen (z.B. BK 139 c. 14) thematisiert werden, sowie Lehen bzw. Landleihe und Vasallen (z.B. BK 139, c. 20; BK 140 cc. 2-5; BK 141 cc. 2, 26-27) und damit zusammenhängend Kirchenbesitz (z.B. BK 140 c. 5-6; BK 141 c. 7). Innerhalb dieser Themenschwerpunkte und der übrigen markierten Kapitel geht es zudem immer wieder um die Grafen als königliche Amtsträger und deren Verantwortung für die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung sowie Wahrung von gerechten Verfahren (z.B. BK 141 cc. 23-24) und damit zusammenhängend um den Schutz der Armen, Witwen und Waisen.

Ein System, wonach man erkennen könnte, ob bestimmte Annotationszeichen für bestimmte Themen verwendet wurden, lässt sich nicht feststellen. Die im Vergleich zu den floralen Elementen weniger häufig gesetzten Maniculae könnten eventuell an den Stellen gesetzt worden sein, die den Benutzer in besonderem Maße interessierten. Bei diesen Kapiteln handelt es sich häufig um jene, bei denen ein Befehl bzw. der Willen des Königs zum Ausdruck gebracht wird und in denen Amtsträger wie Grafen oder andere Große wie z.B. Bischöfe eine Rolle spielen.

Die Glossen umfassen bei den Kapitularien Ludwigs des Frommen zumeist nur wenige Wörter. Dabei bedienen sie sich oft des Wortmaterials des Textes, so z.B. im Falle von faida bei BK 193 c. 8 (fol. 153ra). Die einzelnen Wörter kann man zum einen als Stichpunkte interpretieren, anhand derer man sofort erkennen sollte, worum es in dem jeweiligen Kapitel geht. Zum anderen ist es wahrscheinlich, dass den Glossator frühmittelalterliche Rechtstermini interessiert haben und er diese deshalb in seinen Glossen wiederholte, was man gut auf fol. 155r sehen kann, wo er neben BK 142 c. 1 (zum ersten Titel der Lex Salica: De mannire) die Worte Mannire, Mannitio und Mallum notierte. Neben BK 189 schrieb der Glossator – wohl als Rubrik gemeint – De Commeatu missorum und fasste damit den Inhalt des kurzen Kapitulars gut zusammen.

Eine Glosse, die nicht bloß ein Wort wiederholt oder eine inhaltliche Zusammenfassung bietet, findet sich auf fol. 156r zu BK 142 c. 5. Zu diesem Kapitel der Capitula legi Salicae addita von 819/820 hat der Glossator neben den Passus, der von De hereditate uero bis iudicatus est reicht und sich mit dem Alter eines infans beschäftigt, ab dem es im Streit um das väterliche oder mütterliche Erbe belangt werden kann, die beiden Worte Carboniani imitatio geschrieben:


Abb.: Paris, BN, Lat. 4628 A, fol. 156ra (© Gallica).

Diese Glosse ist sehr interessant, weil sie verrät, dass der Benutzer juristisch nicht ganz ungebildet gewesen sein konnte, vielmehr gute Kenntnisse im römischen Recht besessen hat, da er in dieser Stelle der Capitula legi Salicae addita eine Nachahmung des Edictum Carbonianum sieht, das sich u.a. ebenfalls mit dem Alter beschäftigt, bis zu dem ein Minderjähriger in Erbschaftsstreitigkeiten nicht belangt werden darf. Das Edikt hat sich im Codex Theodosianus und damit auch in der Lex Romana Visigothorum in CTh 4,3 erhalten (Hänel 1849, S. 104; Mommsen 1905, I 2 S. 168), wurde aber auch im justinianischen Recht rezipiert (Kaser 1971, S. 699; Kaser 1975, S. 503). Die Capitula sprechen allerdings von 12, das Edikt hingegen von 15 Jahren. Jahrhunderte nach der Entstehung der Handschrift stellt der Glossator eine Verbindung von frühmittelalterlichem Volksrecht bzw. Kapitularienrecht und römischem Recht her.

Die kurze Betrachtung der Annotationszeichen und Glossen hat gezeigt, wie wichtig und interessant Paratexte und Nota-Zeichen für die Rezeption eines Codex sein können. In der Handschrift Paris, BN, Lat. 4628 A treten uns mindestens zwei Schichten der Rezeption durch spätere Benutzer entgegen, deren Interessensschwerpunkte aber ziemlich ähnlich gewesen sind. Zwar sind Glossen und Annotationszeichen beim Blick in eine Handschrift sofort augenfällig, nicht immer werden sie aber beachtet oder gar eingehender untersucht, was auch daran liegt, dass eine Einordnung nicht immer leicht fällt und auch nicht immer klar ist, was der Benutzer mit seinen Zeichen und Glossen gemeint hat oder bezwecken wollte. Sie zeigen uns eine Rezeptionsspur aus einer anderen Zeit, die es heute in jedem Einzelfall neu zu lesen gilt.

D. Trump


Zur Handschriftenseite (Beschreibung nach Mordek und Transkription)


Literatur:
Hänel 1849
Max Kaser, Das Römische Privatrecht. Erster Abschnitt: Das altrömische, das vorklassische und klassische Recht (Handbuch der Altertumswissenschaft 10,3,3,1), München 21971, S. 699. (allgemein zum Edictum Carbonianum)
Max Kaser, Das Römische Privatrecht. Zweiter Abschnitt: Die nachklassischen Entwicklungen (Handbuch der Altertumswissenschaft 10,3,3,2), München 21975, S. 503. (allgemein zum Edictum Carbonianum)
Mommsen 1905
Mordek 1995, S. 488-501
William H. Sherman, Toward a History of the Manicule, in: Robin Myers / Michael Harris / Giles Mandelbrote (Hg.), Owners, Annotators and the Signs of Reading, New Castle / London 2005, S. 19-48. (allgemein zu Maniculae)

Empfohlene Zitierweise
Dominik Trump, Handschrift des Monats September 2017: Paris, BN, Lat. 4628 A, in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/handschrift-des-monats-september-2017/ (abgerufen am 28.03.2024)