Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Handschrift des Monats August 2022: Modena, AS, 130

Der für verschollen gehaltene „Codex Estensis“

An der Wende zum 11. Jahrhundert entstand in Italien ein Rechtsbuch, in dem das Recht der Langobarden mit den fränkischen Kapitularien in einer chronologischen Sammlung zusammengeführt wurde: der „Liber legis Langobardorum“ oder „Liber Papiensis“. Die letztere, von der Forschung mehrheitlich verwendete Bezeichnung geht zurück auf Johannes Merkel (1819–1861), der darin ein Werk der am Königshof in Pavia tätigen rechtskundigen iudices vermutete. Die in den Liber Papiensis eingegangenen Kapitularien stammen aus der Zeit Karls des Großen bis zu Kaiser Wido (779–891), darüber hinaus wurden auch Gesetze der ottonischen und salischen Herrscher im Königreich Italien bis zu Heinrich III. aufgenommen. Obwohl es sich beim Liber Papiensis im Prinzip um eine Kapitularienrezeption handelt, stellt er dennoch für die Neuedition der Kapitularien einen wichtigen Überlieferungszeugen dar, da in ihn auch einige Einzelkapitel eingeflossen sind, für die es keine eigenständige Überlieferung mehr gibt (z. B. BK 168).

Für die Edition konnte auch ein wenig beachteter Textzeuge des Liber Papiensis verwendet werden, den noch Hubert Mordek für verschollen hielt: der „Codex Estensis“, benannt nach seinem früheren Aufbewahrungsort, der Herzoglichen Bibliothek der Familie d’Este in Modena. Ludovico Antonio Muratori hatte ihn im 18. Jahrhundert für die Herausgabe der Langobardenrechte benutzt (Rerum Italicorum Scriptores 1, 2 S. 7).

Beschreibung des Codex Estensis im Druck Muratoris, Muratori, Rerum Italicarum Scriptores 1, 2 (1725), S. 7 (©BSB)

Als Jean-Marie Pardessus den Codex Estensis für seine Edition der Lex Salica heranziehen wollte, da die Handschrift auch eine Kopie dieses Rechtstextes tradiert (fol. 139–153), und sein Enkel Eugène de Rozière 1842 in seinem Auftrag nach Italien reiste, konnte die Handschrift jedoch nicht mehr aufgefunden werden (Pardessus 1843 S. LXVIII–LXX). Doch bereits 1850 verkündete Johannes Merkel in seiner „Geschichte des Langobardenrechts“, die Handschrift „im herzoglichen archive zu Modena wieder aufgefunden“ zu haben (S. 20f.), und sein Schüler Alfred Boretius konnte sie 1868 für seine Edition des Liber Papiensis verwenden (Boretius 1868 S. LXf.). Mordek scheint nicht intensiv nach der Handschrift gesucht zu haben, denn er bemerkte nur kurz: „heute wieder verschollen?“ (Mordek 1995 S. 244).

Hinter der Bezeichnung „Codex Estensis“ verbirgt sich eine Überlieferung, die man auf den ersten Blick nicht in Verbindung mit frühmittelalterlichen Rechtstexten bringen würde. Es handelt sich um die „Annales Ferrarienses“ (1490) des humanistischen Gelehrten Pellegrino Prisciani (1435–1518). Das Werk ist handschriftlich in ursprünglich zwanzig Bänden überliefert, von denen sich nur die Teile I, IV, VII, VIII und IX erhalten haben (Zanella, Historie S. 256). Sie bilden heute die Signaturengruppe Manoscritti, nn. 129–133 im Archivio di Stato in Modena. Prisciani hat in sein Geschichtswerk mehrere Quellen im vollständigen Wortlaut inseriert, darunter auch Kopien der Lex Salica sowie einer verlorenen Liber Papiensis-Handschrift (in Teil IV der Annales Ferrarienses = Manoscritti no. 130, fol. 66v–139r). Zu der von ihm für die letztere Kopie benutzten Vorlage schreibt Prisciani (fol. 65v):

Et has omnes licet summo studio et diligentia longaque perquisitione, tandem reperimus, originalemque librum barbaro etiam more repaginatum habuimus, venerationem quandam vere pre se ferentem.

Seine Vorlage war demnach ein „originales Buch“, das „nach Art der Barbaren“ repaginatum war – was hat man sich darunter vorzustellen? Repaginare bedeutet nicht nur im engeren Sinne „mit neuer Seitenzählung versehen“, sondern kann auch als „umsortieren“ oder „neu zusammenfügen“ verstanden werden (vgl. Ducange). Es könnte sich also um eine aus unterschiedlichen Teilen bestehende, neu gebundene Handschrift gehandelt haben. Was in diesem Zusammenhang mit barbaro more gemeint sein soll, kann nur vermutet werden: „nach Sitte der Nicht-Römer“, also „fremd“ oder „roh“ (vgl. MLW), vielleicht sogar „schlampig“; oder im humanistischen Sinn „alt[modisch]“?

Über den Fundort seiner Vorlage äußert sich Prisciani nicht. Man weiß, dass er Bibliotheken und Archive auf der Suche nach alten Handschriften durchforstet hat, darunter auch das Archiv der Abtei Nonantola in der Nähe von Modena (Zanella, Historie S. 256f.). Dort besaß man im frühen Mittelalter einige Rechtshandschriften, darunter auch solche mit weltlichem Recht (Heil 2017 S. 24); mangels einschlägiger Hinweise, z. B. in Bibliothekskatalogen, bleibt eine mögliche Herkunft des verlorenen Codex aus Nonantola jedoch eine bloße Vermutung. Auch über das Alter der Vorlage von Priscianis Kopie kann nur spekuliert werden; vermutlich entstand sie, wie die Mehrzahl der überlieferten Textzeugen des Liber Papiensis, im 11. Jahrhundert (Boretius 1868, Mordek 1995).

Nach Boretius verarbeitete der Kompilator der verlorenen Handschrift, die Prisciani kopierte, zwei unterschiedliche Überlieferungstraditionen in seinem Werk: Der erste Teil mit den Leges Langobardorum bis zu Lib. Pap. Liutprand 101 stehe der Textfassung der Handschrift Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat. Lat. 5359 (2. Hälfte 9. Jh., Oberitalien [Verona?]) nahe (was auch bestätigt wird von Moschetti 1954 S. 233–240), während für den restlichen Teil einschließlich der Kapitularien eine Handschrift der Walcausina-Redaktion verwendet wurde (Boretius 1868). Im Lichte dieser Beobachtung könnte sich die Beschreibung Priscianis der von ihm benutzten Vorlage als repaginatum auch dahingehend interpretieren lassen, dass sie aus zwei ursprünglich nicht zusammengehörenden Teilhandschriften oder Heften bestand, die nachträglich zu einem Codex zusammengebunden wurden. Wie Thom Gobbitt in seiner Studie zu den Liber Papiensis-Handschriften herausgestellt hat, war diese Praxis geradezu typisch – mehrere der von ihm untersuchten Handschriften bestanden aus zunächst separat entstandenen Teilen, die nachträglich zu einem Codex verbunden wurden (Gobbitt 2022). Allerdings wurde in diesen Fällen stets ein jeweils abgeschlossener Teil mit dem Langobardenrecht und den Kapitularien zusammengeführt; im Fall der Vorlage des Codex Estensis verlief die „Schnittstelle“ aber bereits mitten durch den Teil mit dem Langobardenrecht. Viele Fragen zum „wiederentdeckten“ Codex Estensis bleiben vorerst offen, die nach dem Erscheinen der von Charles Radding vorbereiteten Neuedition der Walcausina leichter beantwortet werden können.

B. Mischke


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Literatur:

Muratori, Ludovico Antonio: Rerum Italicarum Scriptores ab anno aerae christinanae quingentesimo ad millesimumquingentesimum, Bd. 1, 2, Mailand 1725
Pardessus 1843
Merkel 1850
Boretius 1868
Moschetti 1954
Zanella, Gabriele: Le „Historie Ferrarienses“ di Pellegrino Prisciani, in: La storiografia umanistica. Atti del convegno internazionale dell’Associazione per il Medioevo e l’Umanesimo latini (Messina, 22–25 ottobre 1987), Messina 1992 S. 253–265
Mordek 1995
Heil M 2017
Gobbitt, Thom: The Liber Papiensis in the Long Eleventh Century: Manuscripts, Materiality and Mise-en-page (Manuscript Studies 2), Leeds 2022 (im Druck)

Empfohlene Zitierweise
Britta Mischke, Handschrift des Monats August 2022: Modena, AS, 130, in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/handschrift-des-monats-august-2022/ (abgerufen am 19.04.2024)