Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Handschrift des Monats April 2020: Paris, Bibliothèque Nationale, Lat. 4419

Kapitularien in einer römischrechtlichen Handschrift

Die römischrechtliche Handschrift Paris, Bibliothèque Nationale, Lat. 4419 (Wende 9./10. Jh., Burgund) ist als Handschrift des Monats keine Unbekannte, da wir schon im Juni 2016 über sie berichtet haben. Damals haben wir auf eine Kopie von c. 10 der Capitula legibus addenda (BK 139) Ludwigs des Frommen von 818/819 auf fol. 1v aufmerksam gemacht, die weder Alfred Boretius (Boretius 1883, S. 280) noch Hubert Mordek in seiner „Bibliotheca“ (Mordek 1995) nennen. Dabei hat Gustav Hänel in seiner bereits 1849 erschienenen Edition der Lex Romana Visigothorum und ihrer Epitomen auf das Kapitel hingewiesen (Hänel 1849, S. LXXXII).

Nach Hänel hat sich für lange Zeit niemand mehr mit der Handschrift beschäftigt, bevor José María Coma Fort 2014 in seiner umfassenden Studie zur Überlieferung und Editionsgeschichte des Codex Theodosianus den Parisinus ebenfalls kurz beschrieb (Coma Fort 2014, S. 333-335). Beide Beschreibungen erwähnen jeweils die Kopie von BK 139 c. 10 auf fol. 1v. Mustert man den kompletten Codex allerdings durch, was im Rahmen unseres Projekts für eine neue, etwas detailliertere Beschreibung gemacht wurde, fallen zwei Texte besonders auf.

Beide Texte befinden sich auf dem letzten Folium, fol. 78. Auf fol. 78r findet sich ein Gedicht (dazu Werner K 1986) im elegischen Distichon, dessen erster Pentameter direkt zu Beginn verrät (Z. 2), wem das Gedicht gewidmet ist: Magnus Richardus hoc iacet in tumulo. Der große Richard – damit ist Richard der Gerichtsherr, der Herzog von Burgund, gemeint, der am 1. September 921 starb und in Sainte-Colombe in Sens seine letzte Ruhestätte fand (hoc iacet in tumulo; zu ihm vgl. Richard 1995). Diese Angabe hat Pierre Ganivet dazu veranlasst, die Entstehung des Codex in Sens zu vermuten (Ganivet 2008, S. 301 Anm. 89).

Abb.: Paris, Bibliothèque Nationale, Lat. 4419, fol. 78r: Gedicht auf Richard den Gerichtsherrn

Neben diesem schönen Gedicht, das die Verdienste Richards rühmt, ist die letzte Seite des Codex, fol. 78v, bemerkenswert. Diese Seite, auf der man zum einen den in großen Buchstaben geschriebenen Besitzvermerk eines „Capetius“ lesen kann, tradiert zum anderen wiederum c. 10 der Capitula legibus addenda. Der Text ist heute an manchen Stellen nicht mehr gut zu lesen und die Schrift erscheint wohl aufgrund der Behandlung mit Chemikalien teilweise blau. Das Kapitel hat keine Überschrift, so wie es auf fol. 1v der Fall ist, dafür steht unterhalb des Textes Folgendes: capitulum legis salicę LX Karoli decimo. Dieser Satz ähnelt der Notiz oberhalb des Schriftspiegels von fol. 1v: KAROLI capitulum decimum Legis salicae LX. Wie bei der ersten Kopie wird also auch die Kopie des Kapitels ganz am Ende des Codex mit der Lex Salica in Verbindung gebracht, womit wohl Titel 60 der Karolina gemeint sein wird, der die Rachinburgen thematisiert (Eckhardt K 1962a, S. 215, 217). Dass BK 139 c. 10 noch ein zweites Mal in der Handschrift kopiert wurde, war bisher unbekannt. Interessant ist zudem, dass fol. 1 und fol. 78 nach Ausweis des Digitalisats eine kodikologische Einheit zu bilden scheinen. Wie genau die Zusammenhänge sind, bleibt einer Autopsie der Handschrift vorbehalten.

Abb.: Paris, Bibliothèque Nationale, Lat. 4419, fol. 78v: Zweite Kopie von BK 139 c. 10

Der Pariser Latinus 4419 ist ein hervorragendes Beispiel dafür, dass es sich lohnt, alle Texte und Inhalte eines Codex genau zu analysieren und zu identifizieren. In vielen Handschriften, die allzu bekannt scheinen, lässt sich so immer wieder etwas Neues entdecken.

Dominik Trump


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Literatur

Boretius 1883
Coma Fort 2014
Eckhardt K 1962a
Ganivet 2008
Hänel 1849
Mordek 1995
Jean Richard, Art. „Richard ‚der Justiziar‘“, in: Lexikon des Mittelalters 7 (1995), Sp. 813-814.
Werner K 1986

Empfohlene Zitierweise
Dominik Trump, Handschrift des Monats April 2020: Paris, Bibliothèque Nationale, Lat. 4419, in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/handschrift-des-monats-april-2020/ (abgerufen am 18.04.2024)