Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Handschrift des Monats Februar 2021: Vatikan, BAV, Pal. lat. 582

Bekanntlich hat sich von den über 250 Kapitularien der karolingischen Herrscher, im Gegensatz zu deren Diplomen, kein einziges Stück im Original erhalten. Praktisch die gesamte heute noch greifbare Überlieferung beruht auf Kopien in mittelalterlichen Codices, die meisten davon aus dem 9.-11. Jahrhundert. In einem solchen Codex kommt ein Kapitular aber selten allein daher, sondern üblicherweise in mehr oder minder zahlreicher Gesellschaft – als Teil einer Sammlung. Zur Entstehung solcher Kapitulariensammlungen gibt es verschiedene Überlegungen. Ein wichtiges Indiz für die potentielle Motivation des jeweiligen Sammlers, und damit auch indirekt für dessen Identität, ist naheliegenderweise eine etwaig festzustellende Ordnung der Texte (z.B. nach dem ausstellenden Herrscher, nach Entstehungsjahr, nach Region, nach inhaltlicher Schwerpunktsetzung).

Eine solche Sammelhandschrift mit einem äußerst umfangreichen Kapitularienteil ist der vatikanische Codex Pal. lat. 582 aus dem 10. Jahrhundert. Mit je nach Zählung bis zu 61 Stücken bietet der Vaticanus von allen Handschriften die meisten Kapitularien (gemeinsam mit seiner Schwesterhandschrift, dem Codex Paris lat. 9654) (Tscharf o.J., S. 20-23). Doch gerade bei einer so umfangreichen Zusammenstellung, mit Stücken von Pippin dem Jüngeren aus den 750er Jahren bis zu einem Kapitular des westfränkischen Königs Karlmann von 884, drängt sich eine naheliegende Frage auf: Wie lassen sich die anzunehmenden Entwicklungsstufen und mithin unterschiedlich motivierten Sammler auseinanderhalten, die hier am Werke gewesen sein müssen? Denn es ist ja höchst unwahrscheinlich, dass ein einziger, nach 884 arbeitender Sammler auf 60, zum Teil weit über 100 Jahre alte, originale Einzelausfertigungen zurückgreifen konnte. Zum Vergleich: Der 827 seine in vier Bücher gegliederte Sammlung redigierende Abt Ansegis von St. Wandrille griff nach eigener Aussage auf die losen Blätter solcher Einzelausfertigungen zurück, konnte aber trotz größerer zeitlicher Nähe und guten Verbindungen zum Königshof nur 29 Kapitularien zusammentragen – obwohl es auch damals bereits weit über 100 Stücke gegeben hat (Eckhardt W 1971).

Im Vaticanus dürfte also das Wirken verschiedener Sammler zusammengeflossen sein, ohne dass anzunehmen ist, jeder neue Sammler habe das in einer oder mehreren Handschriften von ihm Vorgefundene jeweils als separate Blöcke übernommen und diese schlicht hintereinander aufgereiht. Bereits Mordek hat die enthaltenen Kapitularien als „wenigstens“ drei Teilsammlungen zugehörig betrachtet, die übergreifend nach Herrschern und chronologisch geordnet seien (Mordek 1995, S. 780). Verschiedenen Indizien sowohl in der ersten wie in der dritten Teilsammlung zufolge seien sowohl die Teilsammlungen wie deren Verbindung zu einem großen Korpus im Umfeld des Erzbischofs von Sens zu verorten (Mordek ebd.; Bühler A 1986, S. 370f.).

Im Folgenden soll ein näherer Blick auf die dritte Teilsammlung geworfen werden, die auf fol. 80r-125v vor allem westfränkische Texte aus der Zeit von 845 bis 884 bietet. Dabei fällt schnell auf, dass die Chronologie hier nicht mehr durchgängig befolgt ist, sondern es vielmehr einen ersten Block von sechs Kapitularien Karls des Kahlen von 853-862 gibt (auf fol. 80r-90r) und sich daran ein zweiter Block anschließt, der zeitlich zurück springt und zudem, anders als alle vorherigen Teilsammlungen, umfangreiche Konzilsakten einschließt (hier der Jahre 845-853, auf fol. 90v-110v) und erst am Ende auch drei westfränkische Kapitularien (Karls des Kahlen BK 272 und 273 sowie Karlmanns 287) aus den Jahren 862, 864 und 884 bietet.

Abb. 1: Vatikan, BAV, Pal. lat. 582, fol. 90v: Unscheinbarer Beginn des zweiten Textblocks mit den Konzilsakten von Meaux/Paris; der Kolumnentitel sowie der Randverweis zum Druck der Akten bei Sirmond sind neuzeitliche Ergänzungen (©Biblioteca Apostolica Vaticana)

Doch auch diese beiden Blöcke wirken in sich nicht wie eine einheitlich redigierte Zusammenstellung. Bei den sechs Kapitularien im ersten Block etwa finden sich beim ersten, zweiten und vierten Stück (= BK 259, 260 und 268) in roter Capitalis-Schrift ausgeführte Rubriken, die in deutlich miteinander verwandtem Wortlaut den folgenden Text als Kapitellisten (capitula) benennen und die jeweiligen Aussteller sowie den Ausstellungsort anführen. Eine Datierung fehlt allerdings. Nicht zuletzt dieser Punkt macht es unwahrscheinlich, dass die Rubriken in dieser Form auf eine verlorene Originalausfertigung zurückgehen – sofern ein derartiges Formular überhaupt zur üblichen Ausstattung eines Kapitulars gehörte (vgl. Mischke 2021). Die Hervorhebung der Rubriken, hier wie im Folgenden, findet sich grundsätzlich jeweils auch in der Pariser Schwesterhandschrift, mit dem Unterschied, dass dort keinerlei farbige Tinte verwendet wird, sondern der gesamte Text, einschließlich Rubriken, Initialen und Kapitelzählung, in Texttinte gehalten ist. Die Rubriken standen also bereits in der gemeinsamen Vorlage und sind nicht das Werk eines späteren Kopisten.

Abb. 2a-c: Vatikan, BAV, Pal. lat. 582, fol. 80r, 81v und 85v: Rubriken zu BK 259, 260 und 268 (©Biblioteca Apostolica Vaticana)

Das dritte Stück in diesem Block, BK 266, wird nicht von einer Rubrik eingeleitet. Stattdessen beginnt es direkt mit einem Prolog, dessen Beginn eine auch aus dem Urkundenformular vertraute Anrufung (Invocatio) der Trinität bildet. Einen ebenso anhebenden Prolog weist auch das unmittelbar voranstehende BK 260 auf. Jedoch steht dort eine Rubrik, hier aber nicht. Hätte der gleiche Redaktor alle vier Stücke zusammengestellt, darf man vermuten, dass er auch BK 266 mit einer nach dem Modell der drei anderen Stücke formulierten Rubrik versehen, oder doch zumindest den Beginn des neuen Stücks mittels einer Überschrift in Capitalis signalisiert hätte.

Abb. 3: Vatikan, BAV, Pal. lat. 582, fol. 83r: Anfang des Prologs von BK 266 ohne Rubrik (mit der Invocatio „In nomine s(an)c(t)ae et indiuiduę trinitatis“ – „Im Namen der heiligen und unteilbaren Trinität“) (©Biblioteca Apostolica Vaticana)

Noch etwas anders verhält es sich wiederum mit den letzten beiden Stücken in diesem Block, den auf den Herrschertreffen Karls des Kahlen, Ludwigs des Deutschen und Lothars II. in Koblenz 860 sowie in Savonnières 862 entstandenen BK 242 und 243. Beiden Stücken vorangestellt ist ein Prolog zu BK 242, der aber zumindest laut Edition der MGH nicht zum Originalbestand des Textes gehört, also von einem späteren Redaktor ergänzt sein könnte. Dieser Prolog nennt, ähnlich wie die drei Rubriken der früheren Stücke, aber deutlich ausführlicher, die drei Aussteller der folgenden capitula, das Ausstellungsjahr mit Tagesdatum sowie den (falschen) Ausstellungsort (nämlich iuxta … Treiectum – “bei Maastricht” – anstatt Koblenz).

Abb. 4: Vatikan, BAV, Pal. lat. 582, fol. 86v: Prolog von BK 242 mit Datierung auf das Jahr 860 (©Biblioteca Apostolica Vaticana)

In allen sechs Stücken des ersten Blocks ist dies die einzige Jahresangabe. Doch obwohl die im Prolog gebotenen Informationen, von der Datierung abgesehen, im Wesentlichen den auch in den vorherigen drei Rubriken präsenten Angaben entsprechen, ist der Text hier nicht nach dem gleichen Muster formuliert und auch nicht mit roter Capitalis als ins Auge springende Rubrik gestaltet worden. Zudem wird das letzte Kapitular des Blocks, BK 243, ohne Rubrik und ohne einen derartigen Prolog direkt BK 242 angeschlossen, als gehöre der gesamte Text zu einem einzigen Kapitular und nicht zu zwei verschiedenen, zwei Jahre auseinander liegenden Herrschertreffen. Zu guter Letzt wurden in beiden Stücken größere Textabschnitte ausgelassen, und zwar bei BK 242 die beiden Ansprachen (Adnuntiationes) von Karl dem Kahlen und Ludwig dem Deutschen sowie der gesamte Epilog, bei BK 243 beide Ansprachen von Karl dem Kahlen sowie die eine von Lothar II., nicht aber diejenige von Ludwig dem Deutschen.

Da in BK 242 somit zwar alle Ansprachen, nicht aber die Eidformel Ludwigs des Deutschen entfernt sind, scheinen die Textfassungen beider Stücke weniger auf den (westfränkischen) König Karl als vielmehr auf seinen Bruder, den ostfränkischen König Ludwig ausgerichtet zu sein – auch dies ein Kontrast zu den übrigen Kapitularien des Blocks. Sowohl diese Ausrichtung, wie das Faktum, dass die Texte überhaupt umfangreich gekürzt wurden, wie schließlich die von den vier anderen Stücken des Blocks abweichende Praxis der Einleitung mittels eines selbständig formulierten Prologs ohne besondere Auszeichnung weisen darauf hin, dass bei BK 242 und 243 erneut ein anderer Redaktor am Werk gewesen sein dürfte.

Schon für einen vergleichsweise kleinen Textabschnitt von gerade einmal sechs Kapitularien lässt sich also wahrscheinlich machen, dass an ihm sukzessive mindestens zwei bis drei verschiedene Redaktore mit unterschiedlichen Vorlieben der Textauswahl und Gestaltung tätig waren. Ob alle drei gleichermaßen an einer chronologischen Reihung der ihnen verfügbaren Stücke interessiert waren, ist hingegen schwer zu sagen, da die heute allein noch erkennbare Anordnung der Texte in der Vorlage des Vaticanus und seiner Schwesterhandschrift auch erst vom letzten, alle Teilsammlungen in einem Codex verbindenden Redaktor vorgenommen worden sein kann. Zwei Punkte verdienen jedenfalls besondere Beachtung: Zum einen lässt sich an diesem Beispiel zeigen, wie wenig dem jeweils letzten Redaktor einer größeren Sammlung offenbar daran gelegen sein konnte, das äußere Erscheinungsbild seiner Texte hinsichtlich Rubriken und Auszeichnungsschrift zu vereinheitlichen, oder gar für alle Texte selbständige, dem Nutzer bei der Erschließung des Inhalts behilfliche Rubriken zu formulieren. Zum anderen verbleibt ein großes Rätsel: Zu welchem Zeitpunkt sind bei fünf der sechs Kapitularien sämtliche Datierungsangaben entfernt worden, und warum? Irgendwann müssen diese noch in allen Teilsammlungen vorhanden gewesen sein, denn nur so konnte ein Redaktor alle Texte dieses Blocks in eine korrekte zeitliche Ordnung bringen.

S. Kaschke


Zur Handschriftenseite (Beschreibung nach Mordek und Transkription)



Literatur:

Eckhardt W 1971
Tscharf o.J. (zwischen 1971-1980)
Bühler A 1986, S. 369-372
Mordek 1995, S. 562-578, 780-797
Mischke 2021: Britta Mischke, Spuren von Urkundenformular in den fränkischen Herrschererlassen bis 840, in: Bernhard Jussen / Karl Ubl (Hg.), Die Sprache des Rechts. Historische Semantik und karolingische Kapitularien (im Druck)

Empfohlene Zitierweise
Sören Kaschke, Handschrift des Monats Februar 2021: Vatikan, BAV, Pal. lat. 582, in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/handschrift-des-monats-februar-2021/ (abgerufen am 22.11.2024)