Capitularia - Edition of the Frankish Capitularies

Collection of the Month June 2022: Collectors with an eye for detail – Vatican, BAV, Chigi F. IV. 75 and Ivrea, BC, XXXIII

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Die acht Kapitel-Listen, die von den beiden Handschriften Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Chigi F. IV. 75 und Cava de’ Tirreni, Biblioteca Statale del Monumento Nazionale Badia di Cava, 4 (fragmentarisch in der sechsten Liste abbrechend) überliefert werden, bieten noch viel Material zum Studium der Arbeitsweise frühmittelalterlicher Kapitulariensammler. Noch einmal soll hier die vierte dieser Listen, die „Collectio V5_4“ (im Chigianus auf fol. 74v-84r), im Mittelpunkt stehen.

Wie im letzten Blogpost zu dieser Liste bereits dargelegt, finden sich hier Kapitularien Ludwigs des Frommen und Karls des Großen im mehrfachen Wechsel. Als Aussteller namentlich erwähnt wird allein Ludwig, und zwar in der feierlichen Rubrik zu Beginn der Liste. Nahezu deren gesamtes Material findet sich nun außer in diesen beiden Handschriften auch in dem Codex Ivrea, BC, XXXIII, fol. 146r-148v (und, mit einigen Auslassungen, diversen Zusätzen und vertauschten Lagen, ebenfalls in der nahe verwandten Handschrift Ivrea, BC, XXXIV, fol. 31r-36r, 50v-51v und 38r-43r). Die Anordnung des Materials unterscheidet sich dabei nur punktuell, was nahelegt, dass hier eine verlorene gemeinsame Vorlage den beiden Überlieferungszweigen zugrunde liegt. Doch welcher der beiden Zweige kommt dieser Vorlage am nächsten? Dazu hier eine Gegenüberstellung der Inhalte und ihrer Anordnung in den beiden besten Repräsentanten der Zweige, dem Chigianus und Ivrea XXXIII.

Tab. 1: Reihenfolge und Kapitelbestand der Collectio V5_4 in Chigi und Ivrea XXXIII.

Leider weicht die zweite Handschrift aus Ivrea bei diesem Materialblock mehrfach deutlich von ihrer „Halbschwester“ ab, so dass sie hier nicht zur Rekonstruktion der verlorenen Teile herangezogen werden kann. So fehlen bei Ivrea XXXIV etwa BK 104 und BK 67, hingegen sind BK 60 sowie ein Kapitel aus BK 168 zusätzlich eingeschoben, und anstatt der Reihenfolge BK 139 – BK 140 bietet sie BK 140 (komplett, einschließlich c. 3!) – BK 141 – BK 138 – BK 139. Je nachdem, ob BK 67 noch zum Bestand der verlorenen Vorlage gehörte, könnte die Anordnung des Materials in Ivrea chronologisch stringenter sein, auch wenn dies keineswegs ein von Sammlern universell verfolgtes Ordnungsmuster war. Über die mögliche Gestalt der Vorlage ergibt sich hieraus also keine nähere Einsicht.

Es gibt jedoch ein Detail, das in dieser Hinsicht weiterhelfen kann: Die nicht originale Rubrik zu der aus Teilen von BK 134 sowie aus BK 135 gebildeten 6-Kapitel-Liste. Wie Peter Classen bereits 1952 beiläufig feststellte, ist der in dieser Rubrik (sowie analog in der Rubrik zu BK 98) verwendete Herrschertitel „singulär“ (Classen 1952, S. 119 Anm. 75). Bei der Edition der Stücke zeigte sich, dass die mutmaßlich in Italien für die 6-Kapitel-Liste von einem Sammler produzierte Rubrik offenbar dem Vorbild der Rubrik von BK 98 nachgebildet ist. BK 98 ist ein von Karl dem Großen bald nach seiner Kaiserkrönung für Italien erlassenes Kapitular, stammt also aus einer Zeit, als am Hof noch mit dem neuen Titel experimentiert wurde. Offenbar reizte die aufwändige Feierlichkeit dieser alten Rubrik einen Sammler zur Imitation, ungeachtet der Tatsache, dass der dort verwendete Herrschertitel, den selbst Karl der Große nur kurze Zeit verwendet hatte, für eine Liste von Kapiteln Ludwigs des Frommen einen groben Anachronismus darstellte. Und hierin dürfte auch der Grund dafür liegen, dass die Herrschertitel sowohl in der Rubrik zu BK 98 wie in der nachgebildeten Rubrik in den beiden Überlieferungszweigen unserer Materialsammlung in unterschiedlicher Gestalt vorliegen:

Tab. 2: Die Rubrik der 6-Kapitel-Liste in Chigi und Ivrea XXXIII.

Sieht man von dem wohl auf der falschen Auflösung einer Kürzung beruhenden „Romanorum“ in Ivrea ab, gibt es zwei wesentliche Unterschiede zwischen den beiden Überlieferungszweigen. Zum einen hat Ivrea das ungewöhnliche „divino nutu coronatus“ („nach göttlichem Willen gekrönt“), während Chigi das tautologisch anmutende „divino a deo coronatus“ („vom göttlichen Gott gekrönt“) aufweist. Zum anderen lässt Chigi in der Rubrik der 6-Kapitel-Liste den Zusatz „Romanum regens imperium“ („das Römische Reich lenkend“) weg. Damit aber klärt sich das Verhältnis der beiden Zweige zu ihrer Vorlage: Eindeutig gibt Ivrea diese Vorlage genauer wieder. Der für die Nachbildung der Rubrik verantwortliche Sammler war offenkundig dem Modell ebenso dicht wie unkritisch gefolgt, wodurch sich sowohl die anachronistische Wendung „Romanum regens imperium“ wie das Festhalten am seltenen „divino nutu coronatus“ erklärt, welches in den Kapitularien Karls und Ludwigs sonst nie vorkommt. Offenbar hatte man am Hof Karls bei der Ausstellung von BK 98 gleich mehrfach experimentiert und noch nicht das wenig später geradezu stereotyp genutzte „a deo coronatus“ gefunden (verwendet in Karls BK 76, 77, 103, 122, 124 und 125, aber auch in dessen Diplomen nach Übernahme des Kaisertitels, vgl. Kölzer 2016, Bd. 1, S. LVIII).

Wie die gesamte Überlieferung von BK 98 zeigt, die mit alleiniger Ausnahme der beiden Handschriften von Cava und Chigi immer „divino nutu coronatus“ bietet, erweist sich auch hier die lectio difficilior als die ursprünglichere Fassung. Dagegen hatte der Bearbeiter der für Chigi verwendeten Ableitung (aus der verlorenen gemeinsamen Vorlage der beiden Überlieferungszweige) anscheinend sowohl bei BK 98 wie bei der 6-Kapitel-Liste Anstoß an dem seltenen „divino nutu coronatus“ genommen und versucht, es durch die Ersetzung von „a deo“ für „nutu“ in eine ihm geläufigere Form zu bringen, wenngleich er es dabei versäumte, auch das zu „nutu“ gehörige „divino“ mit zu entfernen. Ferner könnte er mit den wechselnden Kanzleipraktiken vertraut gewesen sein, so dass er das von Karl in der Tat kurzzeitig verwendete „Romanum regens imperium“ bei der Karl explizit nennenden Rubrik zu BK 98 beließ, es aber bei der Ludwig anführenden Rubrik der 6-Kapitel-Liste als Anachronismus tilgte.

Treffen diese notwendigerweise spekulativen Überlegungen zu, so klärt dieses Beispiel nicht nur die Frage nach der Priorität der in Ivrea gebotenen Textfassung der Rubrik sowie mutmaßlich auch der dort gebotenen Reihenfolge der einzelnen Stücke der Liste, sondern wirft zudem ein Schlaglicht auf die Bandbreite stilistischer bzw. formaler Eingriffe, die Kapitulariensammler vorzunehmen bereit waren. Damit illustriert dieser Fall eindrücklich, dass es höchst schwierig ist, aus den nahezu ausschließlich in Zusammenstellungen „privater“ Sammler erhaltenen Kapitularien Rückschlüsse auf ein etwaig vom Hof verwendetes „Kapitularienformular“ zu treffen (siehe hierzu Mischke, Spuren von Urkundenformular). Der „Cava-Chigi“-Komplex dürfte jedenfalls für die Kategorie der „Sammlung des Monats“ noch längst nicht ausgeschöpft sein.

S. Kaschke


Literatur:
Classen 1952
Mordek 1995, S. 98-111, 172-185, 756-768
Kölzer 2016
Britta Mischke, Sammlung des Monats März 2021
Sören Kaschke, Sammlung des Monats Juli 2021
Sören Kaschke, Sammlung des Monats März 2022
Mischke, Britta: Spuren von Urkundenformular in den fränkischen Herrschererlassen bis 840, in: Die Sprache des Rechts. Historische Semantik und karolingische Kapitularien, hg. von Bernhard Jussen / Karl Ubl (im Druck, voraussichtlich Juli 2022)

How to cite
Sören Kaschke, Collection of the Month June 2022: Collectors with an eye for detail – Vatican, BAV, Chigi F. IV. 75 and Ivrea, BC, XXXIII, in: Capitularia. Edition of the Frankish Capitularies, ed. by Karl Ubl and collaborators, Cologne 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/en/blog/sammlung-des-monats-juni-2022/ (accessed on 11/21/2024)