Jener Teil der Handschrift Sélestat 14 (104), der eine Auswahl von Kapitularien der Jahre 802-829 enthält, gehört hinsichtlich der dort gebotenen Fassung des „Ansegis-Worms-Korpus“ zu einer größeren, sogenannten „Reimser Gruppe“ von Handschriften (Mordek 1995, S. 589). Innerhalb dieser Gruppe stehen drei Codices, die alle aus der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts stammen, dem verlorenen Archetypen der Gruppe am nächsten. Es handelt sich dabei um den in Reims entstandenen, heute geteilten Codex Berlin, Phill. 1762 + Den Haag, 10 D 2, den Codex Paris lat. 10758, ebenfalls aus Reims, sowie unsere Schlettstädter Handschrift aus einem unbekannten westfränkischen Skriptorium (Schmitz G 1996, S. 269-279).
Unglücklicherweise beauftragte dieses Skriptorium einen Kopisten mit der Herstellung des Codex, von dem Gerhard Schmitz urteilt, er sei „nicht sonderlich intelligent“ gewesen und habe seine Vorlage „ohne Sinn und Verstand“ abgeschrieben (Schmitz G 1996, S. 274) – was sich auch darin äußert, dass er eigene sinnentstellende Verschreiber nicht bemerkte. Ein schönes Beispiel hierfür bietet sein vermeintliches Urvertrauen in die geldwerte Kraft des Wortes: Hatte Ludwig der Fromme in einem Kapitular von 818/819 vorgesehen, dass diejenigen seiner Vasallen, die mit Kirchengut ausgestattet waren, ihre daraus resultierenden Arbeitspflichten zur Instandhaltung des Kirchengebäudes mit einer bestimmten Menge Silber ablösen konnten (pro opere faciendo argentum donent), so fand der Schreiber nichts dabei, hieraus eine Anregung zum Herausreden aus der Arbeitspflicht zu machen – statt Silber (argentum) sollten die Vasallen doch einfach ein argumentum bieten.
Sélestat, Bibliothèque Humaniste, 14 (104), fol. 146v (BK 140 c. 5): ut pro opere faciendo argumentum donent (©Bibliothèque Humaniste).
Doch was für den Besitzer der Handschrift misslich gewesen sein dürfte, hat für die moderne Forschung ihre Vorteile. Denn gerade die Neigung des Kopisten, stur abzuschreiben was immer ihm unter die Augen kam, eröffnet heute Aufschlüsse über die Sorgfalt, mit der das Reimser Skriptorium, aus dem die Vorlage des Schlettstädter Codex mutmaßlich stammt, seine Kapitularienhandschriften aktualisierte. Mehrfach hat der Kopist nämlich offenbar auch Nachträge kopiert, die auf losen Zetteln in seine Vorlage eingelegt, zum Zeitpunkt des Abschreibens aber versehentlich zwischen die falschen Seiten gelangt waren. Dies konnte dazu führen, dass ein komplettes Kapitular (BK 77) in einen fremden Kontext geriet, so dass sich dem Nutzer der Schlettstädter Handschrift die irreführende Reihung von vier Kapitellisten aus BK (61+63+167), 134, 77 und 139 bot, die sich so in keiner anderen Überlieferung findet. Aus anderen Handschriften der Reimser Gruppe lässt sich der korrekte Ort ablesen, an dem das mutmaßliche Doppelblatt mit dem Nachtrag von BK 77 in Reims üblicherweise eingelegt wurde, nämlich zwischen einer Fassung der Ansegis-Sammlung und den so genannten „Wormser Kapitularien“ von 829 (vgl. Patzold 2015a, S. 470-472, mit weiteren Folgerungen).
Darüber hinaus erlaubt es die Identifikation von BK 77 als verirrter Nachtrag aber auch, die ursprüngliche Reihenfolge der Texte in der Vorlage unseres Kopisten zu rekonstruieren. Bot sich zuvor das Bild einer sehr ungewöhnlichen Abfolge, bei der BK 134 nur hier neben BK 61+63 zu stehen kam, und nur hier vor BK 77 stand, so ist die Situation nun deutlich stimmiger. BK 61+63 (zwei Stücke Karls des Großen von 809, hier mit zwei Nachtragskapiteln aus BK 167) entstammt einem anderen Sammlungskontext als BK 134 (den Capitula legi addita Ludwigs des Frommen von 816).
Abb. Sélestat, Bibliothèque Humaniste, 14 (104), fol. 138r: Der unscheinbare Anfang von BK 134 (©Bibliothèque Humaniste).
Überhaupt ist der Schlettstädter Codex die einzige Überlieferung, in der sowohl BK 134 wie BK 61+63 aufgenommen sind. Der eigentliche Sammlungskontext von BK 134 hingegen – das in manchen Handschriften noch mit dem eng verwandten BK 135 kombiniert ist – waren die auf BK 77 folgenden Capitula legibus addenda (BK 139) Ludwigs des Frommen von 818/819. Dies passt gut in die sonstige Überlieferung von BK 134, in deren 13 Handschriften immerhin auch zehnmal BK 139 enthalten ist, davon viermal in der unmittelbaren Abfolge BK 134-(135)-139.
S. Kaschke
Zur Handschriftenseite (Beschreibung nach Mordek und Transkription)
Literatur:
Mordek 1988
Mordek 1995, S. 58-69, 587-605 und 708-714
Bischoff 2014, S. 346, Nr. 5971
Patzold 2015a