Capitularia - Edition of the Frankish Capitularies

A puzzling chapter on Immunity in the manuscript Paris, BnF, Lat. 4613

Die italienische Rechtssammlung der Handschrift Paris, lat. 4613 (10. Jh., Italien; Sigle bei Mordek: P5), in der die Leges Langobardorum mit Kapitularien aus den Regierungszeiten Karls des Großen bis Ludwigs II. zusammengestellt wurden, ist ein wichtiger Überlieferungszeuge der fränkischen Herrschererlasse mit einigen wertvollen Unikaten (z.B. BK 25, 33 oder 96). Bedauerlicherweise sind mehrere Lagen verlorengegangen (vgl. Handschrift des Monats Juli 2018) und der Wortlaut ist oft verderbt, manchmal sogar bis zur Unverständlichkeit. Charakteristisch sind außerdem an mehreren Stellen eingefügte Zusatztexte, deren Herkunft und Status unsicher ist (vgl. Kapitel des Monats April 2023).

Ein solcher Zusatz findet sich auch am Übergang zwischen dem Leges- und dem Kapitularienteil der Handschrift (fol. 62v). Auf die Gesetze aus der Regierungszeit König Aistulfs (749–756) folgt, nach einer Leerzeile aber ohne Rubrik oder Kapitelzählung, ein kurzer Text mit folgendem Wortlaut:

Villa exceptro villarum et piscatoria manufacta et quicquid fossibus aut sepius uel etiam alium genere clausurarum munitione precingitur edodem in munitate et temeratoribus dicatur campo et silva que sine laborationibus sunt nullo modo munitione cinguntur non plus inmunitate nomina conplete quam claustra monasterii.

Der Editor der Leges Langobardorum, Friedrich Bluhme, gab dem Text den Titel „Eiusdem Ahistulfi capitulum spurium“. Diese Benennung führt den Benutzer der Edition jedoch auf eine falsche Fährte; Bluhme glaubte nicht etwa, dass es sich um eine Fälschung handelte, also einen erfundenen Text, den jemand in täuschender Absicht König Aistulf zuschreiben wollte, sondern er vermutete dahinter einen eigenständigen Zusatz eines Rechtskundigen („Haec, quae iurisperiti potius quam legislatoris sententiam exprimunt …“; Bluhme 1868a, S. 205 Anm. 22). Bereits Carlo Baudi di Vesme hielt den Text für einen Zusatz zu den Leges, vielleicht eine Glosse oder Kommentierung („Nullum ibi praefert numerum, ac satis ex ipso contextu apparet, non legem esse langobardicam, verum glossae seu adnotationem a scriptore codicis eo loco insertam.“ Baudi di Vesme 1855, S. 448; vgl. auch ebd. S. CIII). Und auch Hubert Mordek beurteilte ihn als späteren Nachtrag (Mordek 1995, S. 471).

Abb.: Das Zusatzkapitel auf fol. 62v in P5 zwischen dem Ende der Ahistulfi Leges und dem Beginn des Kapitularienteils der Handschrift (© Gallica).

Der Wortlaut des Textes ist offenbar verderbt – was bei dieser Handschrift, wie erwähnt, der Regelfall ist – und sein Inhalt schwer verständlich. Bluhme druckte daher neben dem originalen Wortlaut der Handschrift auch noch eine von ihm emendierte Textversion ab (zum besseren Vergleich werden die emendierten Stellen hier fett gesetzt und der Originalwortlaut in Klammern hinzugefügt):

Villa, et castro (P5: exceptro) villarum, et piscatoria manufacta, et quicquid fossibus aut sepibus, vel etiam alio (P5: alium) genere clausurarum munitione precingitur mediocrem, inmunitate et terretorius (P5: edodem in munitate et temeratoribus) dicatur; campo et silva, que sine laborationibus sunt, nec ullo (P5: nullo) modo munitione cinguntur, non plus inmunitatis nomine conplecti (P5: inmunitate nomina complete), quam claustra monasterii.

In dieser emendierten Fassung erscheint der Text als eine Definition eines Immunitätsbezirks auf dem Gebiet (terretorius) einer befestigten Siedlung (villa et castro villarum). Dazu sollte alles gehören, was von Menschen erbaut oder eingezäunt wurde, nicht aber unbebautes Land, das nicht umzäunt war. Darauf folgt noch der Nachsatz „wie (auch?) der Klausurbereich eines Klosters“ (quam claustra monasterii). Dass ein solcher im selben Atemzug genannt wird wie unbebaute Wiesen und Wälder, wäre allerdings ein wenig verwunderlich; zudem ist es auch merkwürdig, dass es hier augenscheinlich um die Immunität eines Siedlungsbezirks geht, während im Mittelalter Immunitäten üblicherweise nur an Kirchen und Klöster verliehen wurden.

Diese Unstimmigkeiten lassen sich jedoch beseitigen – denn der Text ist keineswegs so unbekannt, wie man es bei einer anonymen Schreiberannotation vermuten würde. Bereits Mordek erkannte, dass er teilweise einem Kapitel aus der Kapitulariensammlung des Benedictus Levita (Benedicti Levitae capitularium collectio 1, 279; ed. Schmitz G 2014, S. 89f.) entsprach. Wie Steffen Patzold herausgestellt hat, handelt es sich bei diesem Kapitel nicht um eine Fälschung Benedikts, sondern um ein vermutlich echtes Kapitel, das im Umfeld der Reforminitiative Ludwigs des Frommen 828/829 entstanden ist (Patzold 2014). Es definiert die räumliche Erstreckung einer Immunität, die einer Kirche oder einem Kloster durch herrscherliche Urkunde zuerkannt worden war. Diese sollte sich nicht nur auf den Klausurbezirk beziehen, sondern auch alle Gebäude sowie sonstige von Menschen eingefriedete Bereiche, die sich im Besitz der Institution befanden, umfassen. Der Wortlaut dieses Kapitels ist zudem um einiges umfangreicher als der Text, der in P5 überliefert ist (die Passagen, die sich im Kern in P5 wiederfinden, sind fett hervorgehoben):

Pervenit ad nos, quod quędam ecclesię ac monasteria nostras et predecessorum nostrorum immunitates habentia multa preiudicia et infestationes a quibusdam patiantur et nec per easdem immunitates ullam defensionis tuitionem habere valeant propter hoc, quod ab eisdem immunitatum temeratoribus dicatur, non plus immunitatis nomine complecti quam claustra monasterii; cetera quoque, quamvis ad easdem ecclesias vel monasteria pertineant, extra immunitatem esse. Propter hoc volumus atque decernimus, ut omnes intellegant non solum claustra monasterii vel ecclesię atque castitia ecclesiarum sub immunitatis defensione consistere, verum etiam domos et villas et septa villarum et piscatoria manu facta, et quicquid fossis et sepibus vel etiam alio clausarum genere precingitur, eodem immunitatis nomine contineri. Et quicquid intra huiusmodi munimenta ad ius earundem ecclesiarum vel monasteriorum pertinentia a quolibet homine nocendi vel dampnum inferendi causa spontanea voluntate committitur, in hoc facto inmunitas fracta iudicatur. Quod vero in agros et campos ac silvas, quę sine laborationibus sunt et nullo modo a munitione cinguntur, casu, sicut fieri solet, a quibuslibet hominibus quiddam dampni factum fuerit, quamvis idem ager aut campus vel silva ad ecclesiam vel monasterium preceptum immunitatis habentem pertineat, non tamen in hoc immunitas fracta iudicanda est. Et ideo non sexcentorum solidorum compositione, sed secundum legem, quę in eodem loco tenetur, is multandus est, qui scandalum vel dampnum in tali loco fecisse convictus fuerit. (Neuedition von Steffen Patzold in MGH Capit. N.S. 4, Wiesbaden 2024, S. 620)

Wie ersichtlich ist, wurden die Versatzstücke, die in das extrem verkürzte Exzerpt in der Handschrift P5 eingegangen sind, komplett aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgerissen und in veränderter Reihenfolge neu zusammengesetzt. Sie können schon alleine deswegen den Sinn des originalen Textes nicht angemessen wiedergeben. Bluhme hatte also schlechte Karten bei der Emendation des (zusätzlich auch noch im Wortlaut entstellten) Textes. Weil er nicht ahnen konnte, dass er es nur mit kleinen Versatzstücken eines viel längeren Textes zu tun hatte, tat er das, was jede/r Editor/in an seiner Stelle tun würde, nämlich den Text als abgeschlossene Einheit anzusehen und ihm durch möglichst behutsame Eingriffe einen plausiblen Sinn zu verleihen. Während er auf diese Weise den Schlussteil fast wortwörtlich rekonstruieren konnte, hat er dem Beginn einen völlig anderen Sinn verliehen. Durch den Austausch des unverständlichen exceptro (im Original: et septa) durch et castro sowie von temeratoribus (das tatsächlich so im Original steht) durch terretorius erscheint es in seiner Textfassung so, als würde es sich um die Immunität eines befestigten Siedlungs- oder Stadtbezirks handeln.

Der Fall illustriert eindrücklich die Problematik der Emendation von Texten, insbesondere von unikal überlieferten. Wäre nur die Textfassung von P5 bekannt, wäre Bluhmes verbesserte Fassung diejenige, die Benutzer seiner Edition rezipieren und auf der sie Hypothesen aufbauen würden (was bisher zum Glück noch nicht passiert zu sein scheint). Im vorliegenden Fall lässt sich der originale Text durch eine breite Überlieferung zuverlässig rekonstruieren. Die verkürzte Fassung aus P5 kann im Vergleich damit kaum als Ergebnis von bloßen Lese- oder Abschreibfehlern oder einer lückenhaften Textvorlage erklärt werden. Der Sammler (oder Schreiber der Kopie) hat nicht nur Fehler produziert, sondern muss zusätzlich gezielt einige Passagen seiner Vorlage herausgegriffen und umsortiert haben. Ob der so zustande gekommene Text zumindest für ihn verständlich war, ist nicht auszuschließen, aber doch schwer vorstellbar. Darüber, welche Absicht hinter diesen Textmanipulationen steckt, kann man nur spekulieren – der Schreiber der Handschrift P5 ist von der Forschung schon als „Banause“ oder sogar als „Querkopf“ (Glatthaar 2013a, S. 78) bezeichnet worden, der aus „Frechheit“ oder dem Willen zur „Destruktion“ handelte (Zimpel 2004, S. 129). Aus Sicht einer Editorin bleibt jedenfalls zu hoffen, dass wir es hier mit einem außergewöhnlich seltenen Exemplar der Spezies Sammler (oder Schreiber) zu tun haben.

B. Mischke

Baudi di Vesme 1855, S. CIII, 448
Bluhme 1868a, S. 205
Mordek 1995, S. 471
Zimpel 2004
Glatthaar 2013a, S. 77f.
Patzold 2014
Schmitz G 2014, S. 89f.
Sören Kaschke, Handschrift des Monats Juli 2018
Britta Mischke, Kapitel des Monats April 2023
Nr. 48, ed. Steffen Patzold, in: Fränkische Herrschererlasse 814-840, ed. Karl Ubl et al. (MGH Capit. N.S. 4), Wiesbaden 2024, S. 615-621

How to cite
Britta Mischke, A puzzling chapter on Immunity in the manuscript Paris, BnF, Lat. 4613, in: Capitularia. Edition of the Frankish Capitularies, ed. by Karl Ubl and collaborators, Cologne 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/en/blog/ein-raetselhaftes-kapitel-zur-immunitaet-in-der-handschrift-paris-bnf-lat-4613/ (accessed on 12/22/2024)