Dass man zuweilen in Kontexten auf Kapitel aus Kapitularien stößt, in denen man sie nicht erwarten würde, davon zeugt die Handschrift Angers, Bibliothèque municipale, 477 (461). Und dass man in Kontexten auf einen Kapitularientext aufmerksam gemacht wird, in denen man es nicht erwarten würde, davon zeugt diese Handschrift ebenfalls. Auf einer dem früh- und hochmittelalterlichen Kirchenrecht gewidmeten Tagung in Münster Ende Februar 2024 hat Prof. Roy Flechner in seinem Vortrag über diese Handschrift gesprochen. Dabei hat er auch auf ein Kapitel aus einem Kapitular aufmerksam gemacht. Aber der Reihe nach.
Die Handschrift, die heute in Angers aufbewahrt wird, ist nicht unbedingt wegen ihrer juristischen Texte bekannt. Sie ist vor allem für die komputistische Forschung von Interesse, da sie viele Texte dieses gerade im frühen Mittelalter blühenden Genres versammelt. Auch wer nur einen flüchtigen Blick hineinwirft, wird den komputistischen Schwerpunkt anhand der vielen Tabellen und Diagramme sofort erkennen. Der Andegavensis umfasst 99 Folia und besteht aus drei kodikologischen Einheiten, die spätestens am Anfang des 10. Jahrhunderts zusammengebunden wurden – dem Zeitpunkt, zu dem der dritte Teil angefertigt wurde. Der zweite Teil wurde 897 geschrieben, was durch eine Marginalnotiz auf fol. 21r belegt wird. Die Lokalisierung ist weitaus uneindeutiger, es wurden Orte in der Bretagne und Nordfrankreich vorgeschlagen, insulare Einflüsse sind ebenfalls erkennbar. Dass bretonische Schreiber am Werk waren, wird durch die fast 500 altbretonischen Glossen, die sich im Codex finden und ihn damit zum Träger der größten Sammlung solcher Glossen überhaupt werden lassen, augenfällig (vgl. ausführlicher zum Codex die Beschreibung Bisagnis und Bischoff 1998, S. 22 Nr. 68 und 69).
Im dritten Teil der Handschrift (fol. 88–99) auf fol. 96v–99v finden sich aber auch juristische Texte, da dieser Teil u. a. Exzerpte aus Bußbüchern und kanonischem Recht enthält. Einen genaueren Blick verdienen an dieser Stelle Texte auf fol. 97v. Auf dieser Folioseite befindet sich im oberen Teil eine Tabelle und im unteren Teil ein aus mehreren Kreisen bestehendes Diagramm. Um dieses „Kreisdiagramm“ herum wurden verschiedene Texte von mindestens zwei Händen nachgetragen. Diese Texte hat Henri Omont in seiner Untersuchung des sich auf fol. 1r–8v befindlichen Glossars als „quelques extraits d’un pénitentiel“ bezeichnet und sie abgedruckt (Omont 1898, S. 669; vgl auch Fleuriot 1959, S. 194). Omont kann man hinsichtlich dieser Charakterisierung zustimmen, auch wenn man präzisieren muss, dass einige der Bestimmungen Strafsummen für Mord an Klerikern und Mönchen beinhalten. Im Folgenden soll es um sieben dieser acht Bestimmungen gehen, die folgendermaßen lauten:
1. Qui subdiaconum occiderit solidos CCC culpabilis iudicetur.
2. Qui diaconum occiderit solidos CCCC culpabilis iudicetur.
3. Qui presbiterum occiderit DC culpabilis iudicetur.
4. Qui episcopum occiderit solidos DCCCC culpabilis iudicetur.
5. Qui monachum occiderit solidos CCCC culpabilis iudicetur.
6. Qui occiderit monachum aut clericum arma relinquat et deo seruiat uel VII annis peniteat.
7. Qui presbiterum aut episcopum regi dimitendus est.
1 Qui] Si quis Bor.; solidos CCC culpabilis iudicetur] CCC solidos componat Ans. Ben.1 Ben.2 Bor.
2. occiderit solidos CCCC culpabilis iudicetur] CCCC componat Ans.; CCCC solidos Ben.1; CCCC solidos componat Ben.2; CCCC Bor.
3. occiderit DC culpabilis iudicetur] DC componat Ans.; DC Ben.1 Ben.2 Bor.
4. occiderit solidos DCCCC culpabilis iudicetur] DCCCC Ans. Ben.1 Ben.2; DCCCC solidos componat Bor.
5. occiderit solidos CCCC culpabilis iudicetur] CCCC solidos componat Ans.; occiderit solidos] fehlt Ben.1; occiderit solidos CCCC] CCCC solidis Ben.2; occiderit solidos CCCC] CCCC solidis Bor.
6. aut] uel Iud.; deo seruiat uel] Deo in monasterio serviat cunctis diebus vitae suae, numquam ad seculum reversurus, et Ben.3; annis peniteat] annos publicam poenitentiam gerat Ben.3
7. Qui] autem folgt Iud.; presbiterum aut episcopum] episcopum uel presbiterum occiderit Iud.; est] folgt ad iuditium Iud.
Dem Kapitularienkenner fällt beim Anblick der ersten fünf Bestimmungen sofort BK 39 c. 1 ein, das sogenannte Capitulare legibus additum Karls des Großen von 803, das die Strafsummen für die Tötung von Klerikern festlegt (Boretius 1883, S. 113). Wenn man genauer hinsieht, und das kann der obenstehende Apparat gut zeigen, dann hat der Text in der Angers-Handschrift keine direkte, deutliche Nähe zum originalen Kapitularientext (= Bor.), und auch nicht zu Ansegis 3,25 (= Ans.; Schmitz G 1996, S. 583) oder zu Benedictus Levita, wo BK 39 c. 1 gleich zweimal verarbeitet wurde (Ben.1 = Ben. Lev. 1,261 und Ben.2 = Ben. Lev. 2,291; ed. Schmitz G 2018). Sicher ist nur, dass hier das erste Kapitel des Capitulare legibus additum rezipiert, aber etwas individueller formuliert wurde. Durch die parallelistische Struktur erhalten die Sätze jedenfalls eine deutliche Uniformität und eine gewisse Eindringlichkeit, entfernen sich dadurch allerdings auch von der restlichen Tradition, sodass eine Vorlage nicht mehr sicher zu ermitteln ist.
Der sechste Satz ist bei Benedictus Levita in Buch 2 als c. 90 rezipiert worden (Pertz G 1837, S. 78 = Ben.3); dort hat er aber einen etwas umfangreicheren Wortlaut als in der Handschrift in Angers. Der Wortlaut in der Angers-Handschrift entspricht bis auf eine kleine Variante (aut statt vel) demjenigen in den sogenannten Iudicia Theodori D (c. 78; vgl. hierzu ed. Elliot S. 8 = Iud.), einem Bußbuch irischen Ursprungs, das auch als Capitula Dacheriana bekannt und in der Wendezeit vom 7. zum 8. Jahrhundert entstanden ist. Diese Herkunft trifft auch auf den siebten Satz zu, der c. 79 der Iudicia sehr nahesteht, aber dennoch Spuren eines Bearbeitungsprozesses zeigt. Danach folgt noch eine Bußbestimmung zum parricidium, die sich gut in die vorangehenden Sätze einreiht (Parricidium faciens XIIII annos peniteat cum pane et aqua).
Die Handschrift aus Angers ist zum einen ein weiteres Zeugnis dafür, dass originale Kapitularientexte rezipiert und weiterverarbeitet wurden, und zum anderen insbesondere dafür, dass man mit vielfältigen Rezeptionskontexten zu rechnen hat. In einer vornehmlich komputistischen Sammelhandschrift würde man Erlasse der karolingischen Herrscher bzw. deren in anderen Werke integrierte Rezeptionen wohl nicht unbedingt zuerst vermuten. Dass man die Rechtssätze in den freien Raum um ein Diagramm herum schrieb, macht zudem deutlich, wie wichtig der genaue Blick auf die Texte ist, die jenseits der schön strukturierten Textblöcke und Hauptinhalte einer Folioseite stehen. Zu Beginn des 10. Jahrhunderts hat ein Schreiber es jedenfalls für wichtig gehalten, sie zu kopieren, und es war für ihn offensichtlich nicht so bedeutend, ob dies nun in einem thematisch passenden textlichen Umfeld geschah oder nicht.
Dominik Trump (Monumenta Germaniae Historica)
Pertz G 1837, S. 78
Boretius 1883, S. 113
Omont 1898
Léon Fleuriot, La découverte de nouvelles gloses en vieux-breton, in: Comptes rendus des séances de l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres 103 (1959), S. 186–195.
Schmitz G 1996, S. 583
Bischoff 1998, S. 22 Nr. 68 und 69
Schmitz G 2018
Michael D. Elliot, Edition der Iudicia Theodori D, http://individual.utoronto.ca/michaelelliot/manuscripts/texts/transcriptions/pthd.pdf
Jacobo Bisagni, Beschreibung Angers, BM, MS 477 (461) https://ircabritt.nuigalway.ie/handlist/catalogue/9 (mit umfassenden Literaturangaben)
Digitalisat: https://arca.irht.cnrs.fr/ark:/63955/md17cr56n150