Eine alte Kölner Erkenntnis, die für die meisten Kapitularien-Forscher unmittelbar nachvollziehbar ist, lautet: „Wat fott es, es fott“. Denn im Laufe der Jahrhunderte entschwundene Einzelkapitel, Kapitularien oder Sammlungen, meist aufgrund des Verlusts einzelner Blätter, Lagen oder ganzer Handschriften, gehören leider zum editorischen Alltag. Und nicht immer ist es möglich, das Verlorene aus Hinweisen in anderen Quellen oder aus verwandten Überlieferungen einigermaßen sicher zu rekonstruieren – „was fort ist, ist fort“. Einen solchen Fall stellt die berühmte Kapitulariensammlung von Beauvais dar, die in einem gewaltigen Codex der dortigen Dombibliothek enthalten gewesen sein soll. Vom 16. Jahrhundert an wurde der Codex mehrfach in frühneuzeitlichen Drucken von Gelehrten wie Pierre Pithou, Jacques Sirmond und Etienne Baluze verwendet (Christ 1937, S. 319). Baluze lobte in der Praefatio seiner Kapitularienausgabe die Handschrift aus Beauvais überschwänglich als die beste, die er je gesehen habe („omnium quos hactenus vidi optimum“; Baluze 1677, § 73).
Was lässt sich über den Inhalt dieser so hochgeschätzten Handschrift, und damit zugleich der Sammlung, in Erfahrung bringen?
Baluze selbst gab in § 73 eine kurze Beschreibung. Und zwar habe der Codex neben den vier Büchern der Kapitulariensammlung von Ansegis (einschließlich deren Fortsetzung durch Benedictus Levita in weiteren drei Büchern) auch eine sehr große Anzahl von Kapitularien Karls des Kahlen enthalten. Godefroy Hermant wiederum, der Bibliothekar von Beauvais, der Baluze irgendwann vor 1677 die Handschrift übersandt hatte, erwähnt in seinem noch in das 17. Jahrhundert datierenden Katalog als Nr. 9 eine von „M. Balus“ verwendete Kapitularienhandschrift. Diese habe Kapitularien Karls des Großen (womit die erweiterte Ansegis-Sammlung gemeint sein könnte) und an ihrem Ende ein Werk des Leontios von Neapolis enthalten (Omont 1916, S. 49). Kapitularien Karls des Kahlen erwähnt Hermant dagegen nicht. Ein weiterer Bibliothekskatalog aus Beauvais, diesmal von 1750, listet schließlich als Nr. 50 – feste Signaturen waren in der Dombibliothek anscheinend noch nicht üblich – ein „beau manuscrit très bien conservé“ mit Kapitularien „unserer Könige“ („de nos roys“), geschrieben in karolingischer Minuskel, mit Majuskelbuchstaben in „une capitale mérovingienne rustique“. Als Format werden beachtliche „12 pouces de haut sur 10 de large“ angegeben, also 12×10 Zoll oder etwa 32,4×27 Zentimeter. Weiter habe der Codex zwischen zwei Kapitularien die Abschrift einer nicht näher beschriebenen Urkunde von 1080 enthalten und die ursprünglich freien Blätter zu Beginn der Handschrift seien im 12. Jahrhundert mit einigen „actes“ (darunter Briefen) beschrieben worden. Und schließlich erfahren wir, dass es wohl dieser Codex war, den sich Jacques Amyot, Bischof von Auxerre, am 17. Juli 1573 ausgeliehen hatte (Omont 1916, S. 65). Von Amyot wiederum ist belegt, dass er u. a. in Beauvais gesammelte Texte, darunter Kapitularien, 1573 in Kopie nach Rom an die im päpstlichen Auftrag arbeitenden Correctores Romani geschickt hatte (Mordek 1995, S. 865).
Trotz dieser Fülle an bunten Details bleibt jedoch zunächst weiter unklar, welche konkreten Kapitularien sich im verschollenen Codex von Beauvais befanden. Hilfe bieten vier frühneuzeitliche Handschriften, die in jeweils unterschiedlichem Ausmaß und Kombination Texte enthalten, die sich mit einzelnen Katalogangaben bzw. den dort genannten Personen in Verbindung bringen lassen, und die Bezüge untereinander sowie teilweise auch explizit zu Beauvais aufweisen.
An erster Stelle zu nennen ist hier der wohl im späten 16. Jahrhundert produzierte Codex Vatikan, BAV, Vat. Lat. 4982, der in seinem ersten Teil Material enthält, das Amyot aus Beauvais bezogen hatte. In einem Brief vom September 1573 beschrieb Amyot seine dortige Quelle als „volumen Capitularium (ut vocant) Caroli Magni“ (Mordek 1995, S. 866). Auffälligerweise ist auf fol. 2r des Vaticanus ein Zettel eingeklebt, möglicherweise von einem alten Einband bezogen, der den Codex als „CAPITVLARE Caroli Magni et Ludoici Pii, et Caroli Calui“ bezeichnet, was in der Wortwahl seinerseits dem von Hermant in seinem Katalog für die Nr. 9 gewählten Titel als „Capitulare Caroli Magni“ nahekommt.
Vatikan, BAV, Vat. Lat. 4982, fol. 2r: Eingeklebter Titel: „Kapitulariensammlung Karls des Großen und Ludwigs des Frommen, und Karls des Kahlen“ (©BAV).
Auch die Inhalte passen zu der von Baluze gegebenen Beschreibung der verschollenen Kapitularienhandschrift aus Beauvais: Am Anfang steht das siebte Buch der kombinierten Kapitulariensammlung von Ansegis und Benedictus Levita (fol. 1r-66v), gefolgt von einem umfassenden Korpus strikt chronologisch sortierter Kapitularien Karls des Kahlen (und einiger weniger westfränkischer Konzilsakten) aus den Jahren 843-876 (fol. 67v-150v). Gegenüber Baluze‘ Angaben fehlen also „nur“ die ersten Bücher der kombinierten Sammlung von Ansegis und Benedictus. Vollends offensichtlich wird die Nähe bei einem Blick auf zwei kapitularienfremde Texte, die wohl ein stumpf Seite für Seite abarbeitender Schreiber einfach mit kopiert hatte: Zwischen Benedictus und dem ersten Kapitular Karls des Kahlen ist auf fol. 66v-67r eine Urkunde von 1080 über einen Streit um Kirchengut in der Diözese von Beauvais eingerückt. Und auf fol. 76r-98v findet sich, mitten im Kapitularienblock Karls des Kahlen, das von Hermant in seinem Katalog erwähnte Werk des Leontios von Neapolis. Auf den ersten Blick spricht also Vieles dafür, im Vaticanus eine am Anfang verkürzte Kopie der vermissten monumentalen Kapitularienhandschrift aus Beauvais zu erblicken, die im Auftrag Bischof Amyots angefertigt und nach Rom übersandt wurde.
Der auf den Leontios-Text folgende Kapitularienblock findet sich in dieser Gestalt auch in zwei weiteren Handschriften des 16. Jahrhunderts. Dabei handelt es sich zum einen um Rom, Biblioteca Vallicelliana, C. 16, zum anderen um Vatikan, BAV, Reg. Lat. 291. Der Vallicellianus, wohl im Auftrag des Antonio Agustín angefertigt und mit zahlreichen Anmerkungen von dessen Hand versehen, könnte in Rom entstanden und womöglich aus dem Vaticanus 4982 kopiert sein, vor 1586, dem Todesjahr Agustíns. Allerdings enthält er lediglich die im Vaticanus auf den Leontios-Text folgenden Kapitularien. Der Reginensis kopiert seine Texte meist nur in gekürzter Form, und zwar direkt aus einem Codex der Dombibliothek von Beauvais, wie ein Vermerk zu Beginn der Abschrift zeigt:
Vatikan, BAV, Reg. Lat. 291, fol. 104r: Notiz auf dem oberen Seitenrand: „Aus einem alten handgeschriebenen Buch, das aus der Bibliothek von Beauvais geholt wurde“ (©BAV).
Der Reginensis enthält mit wenigen Ausnahmen die gleichen Texte wie der Vaticanus, also auch den dort vor Leontios gebotenen Textblock (einschließlich der Urkunde von 1080, aber ohne Leontios selbst) sowie Auszüge aus allen Büchern der Ansegis/Benedictus-Sammlung. Daneben findet sich aber auch Zusatzmaterial, u. a. zwei Kapitularien (BK 7 und BK 246) sowie ein leicht redundanter Block mit Auszügen der Konzilsakten von Meaux/Paris (845/846) und Soissons (853). Eigenartigerweise ist die Reihenfolge der Texte hier gegenüber derjenigen im Vaticanus verändert: Auf die beiden Zusatzkapitularien folgt erst der große post-Leontios Kapitularienblock (von BK 259 [853] bis BK 279 [876]), darauf in einem weiten chronologischen Sprung zurück der Block (mit zwei Auslassungen) von Ansegis/Benedictus Levita bis zu BK 205 (851) und darauf, mit einem erneuten chronologischen Sprung, der Konzilienblock (845-853). Die zunächst rein französischen Provenienzstufen des Codex schließen aus, dass es sich bei ihm um eine für Rom bestimmte Materialsammlung handelt. Aufgrund von Randglossen von der Hand des 1603 verstorbenen Pierre Daniel lässt sich seine Entstehungszeit nach oben eingrenzen; nicht auszuschließen wäre etwa ein Zusammenhang mit Jean du Tillet († 1570), der 1548 einen (unvollständigen) Druck der Sammlung des Benedictus Levita herausgab und 1558 gleich elf Bücher, darunter eine Kapitularienhandschrift, aus der Bibliothek von Beauvais entliehen hatte (Omont 1916, S. 7).
Eine markante Gemeinsamkeit aller drei Handschriften – Vaticanus, Vallicellianus und Reginensis – findet sich in Karls des Kahlen BK 271 und BK 272. Alle Kopisten hatten offenbar eine defekte Vorlage vor Augen, die in BK 271 unvollständig mitten im Satz abbrach und in BK 272 erst kurz vor Schluss in Kapitel 4 wieder einsetzte. Entsprechend bieten der Vaticanus sowie der Vallicellianus den Text von BK 271 nur bis einschließlich der Worte „bannum componat conuenientia, ut cum ministerialibus de sua“, worauf in beiden Handschriften der Randvermerk „hic deest folium“ („hier fehlt ein Blatt“) folgt. Der Reginensis wiederum endet, wohl um einen etwas runderen Abschluss bemüht, bereits mit „bannum componat conuenientia“ und vermerkt lapidar „cetera deerant“ („der Rest fehlte“).
Vatikan, BAV, Vat. Lat. 4982, fol. 127v: Randnotiz im Vaticanus: „Hier fehlt ein Blatt“ (©BAV).
Wohl aufgrund des massiven Textverlusts von BK 272 übersprang der Kopist des Reginensis dieses Fragment ganz, während im Vaticanus wie im Vallicellianus jeweils der spärliche Rest des vierten und letzten Kapitels (kaum 10 Zeilen in der Edition von Boretius/Krause) ab „et expressius a nobis atque successoribus nostris“ noch abgeschrieben ist. Damit ist gesichert, dass alle drei Abschriften direkt oder indirekt auf dieselbe, in Beauvais beheimatete Vorlage zurückgehen.
Die vierte Abschrift, Paris, BnF, Lat. 1567, nicht genauer als auf das 16./17. Jahrhundert zu datieren (Mordek 1995, S. 417, 837), weist eine durchgängig französische Provenienz auf, war also wie der Reginensis nie für Rom bestimmt. Sie enthält die geringste Textmenge aller Handschriften, nämlich lediglich den ersten Textblock des Vaticanus, von den Anhängen (Additiones) des Benedictus Levita bis zu BK 205, dem im Vaticanus letzten Stück vor dem Leontios-Text. Letzterer ist nicht enthalten, ebensowenig die Urkunde von 1080. Dafür schließt sich unmittelbar (und vollständig) der im Reginensis nur auszugsweise kopierte Konzilienblock von Meaux/Paris bis Soissons an.
Der Kernbestand des berühmten Codex von Beauvais ist damit einigermaßen gesichert. Lässt man den Konzilienblock im Reginensis und im Parisinus außer Acht, hätte der Codex eine bemerkenswerte chronologische Stringenz aufgewiesen. Irritierend ist aber, dass keine der vier Abschriften den gleichen Textbestand hat und insbesondere dort, wo im Vaticanus der Leontios-Text platziert war, offenbar eine Zäsur bestand oder im Laufe der Zeit eintrat. Denn der erste Teil (Ansegis bis BK 205) der eigentlich so stringenten Kapitulariensammlung findet sich nur einmal direkt vor dem chronologisch unmittelbar anschließenden zweiten Teil (BK 259 bis BK 279), nämlich im Vaticanus. Im Reginensis haben die beiden Teile ihre Plätze getauscht, im Vallicellianus fehlt der erste, im Parisinus der zweite Teil. Und hier kommt erneut der Bibliothekskatalog von Hermant aus dem 17. Jahrhundert ins Spiel: Dort ist verzeichnet, dass die von Baluze verwendete Kapitularienhandschrift mit dem Werk des Leontios abschloss. Möglicherweise war also ein ursprünglich größerer Codex in zwei Teilbände aufgespalten worden, wobei die meisten der Kapitularien Karls des Kahlen in den zweiten Teil gerieten. Rätselhaft ist dabei allerdings, wann das geschehen sein könnte. Amyot hatte 1573 noch die korrekte Textfolge vor Augen und sich laut Katalog „un manuscrit“, also einen Band, nicht zwei, ausgeliehen. Ebenso rühmte Baluze das eine, für seine 1677 erschienene Kapitularienausgabe verwendete „veterum et optimum librum“ („alte und hervorragende Buch“) aus Beauvais mit vielen Kapitularien Karls des Kahlen – wobei Hermant diese Nutzung ausdrücklich bestätigt, aber mit Bezug auf eine Handschrift, die offenbar fast keine Stücke Karls des Kahlen mehr enthielt!
Einen Lichtblick in dieser Verwirrung könnte Wilhelm Eckhardt liefern, der 1967 eine seither breit akzeptierte These aufgestellt hat, derzufolge sich drei versprengte Lagen der großen Kapitularienhandschrift von Beauvais im Original erhalten haben, und zwar in der Sammelhandschrift Vatikan, BAV, Reg. Lat. 980 (Eckhardt W 1967, S. 14f.; Mordek 1995, S. 836). Tatsächlich befindet sich in diesem Codex noch heute ein Textblock aus dem späten 9. Jahrhundert, der identisch ist mit dem Konzilienblock im Parisinus (und der entsprechend auch mit demjenigen des Reginensis 291 eng verwandt ist). Dieser Block nimmt zwei Quaterniones ein, die bereits zeitgenössisch als 22. und 23. Lage einer Handschrift gezählt wurden, während auf der dritten, als Nr. 31 gezählten Lage, ein kleiner, leider halb radierter (Besitz-?)Vermerk auf die Domkirche von Beauvais (und deren Bibliothek) verweisen könnte:
Vatikan, BAV, Reg. Lat. 980, fol. 35v: Randnotiz im Reginensis 980: „S(an)c(t)i pet(r)i bel[uacen]sis“ („[Eigentum von] St. Peter, Beauvais“; Lesung nach Mordek 1995, S. 835) (©BAV).
Der Schlüssel zu Eckhardts These befindet sich auf dieser dritten Lage: Hier steht der fast vollständige Text von BK 272, und zwar von seinem Anfang bis zum fragmentarischen Abbruch kurz vor Schluss mit den Worten „et de coetero certius“. Dies ist aber exakt der Punkt, an den sich die Fragmente von BK 272 im Vaticanus und Vallicellianus bruchlos mit „et expressius a nobis atque successoribus nostris“ anschließen lassen. Haben wir also im Reginensis 980, der auch in seinen Maßen von 33×26,2 Zentimetern den umgerechneten Katalogangaben von 1750 über 32,4×27 Zentimetern sehr nahe kommt, das Original der Sammlung von Beauvais vorliegen, aus dem alle vier neuzeitlichen Teilabschriften geschöpft haben? Vielleicht – doch es bleiben offene Fragen, nicht zuletzt nach dem ursprünglichen Platz des Konzilienblocks, der die stringente Chronologie der Sammlung dort, wo er im Parisinus sowie im Reginensis 291 überliefert ist, empfindlich stören würde. Oder ob im Original der Sammlung tatsächlich sowohl dieser Konzilienblock als auch der erste Textblock (der gleich drei Stücke des Konzilienblocks in mehr oder minder stark abweichenden Textfassungen doppelt) vorhanden waren? Oder weshalb in der Vorlage des Reginensis 291 zwar offenkundig BK 272 (d. h. die 31. Lage des Reginensis 980) größtenteils fehlte, der Text des Konzilienblocks (die 22.-23. Lage des Reginensis 980) aber noch greifbar war, obwohl doch alle drei Lagen vermeintlich gemeinsam aus ihrem ursprünglichen Codex entfernt worden waren?
Die Rätsel der Sammlung von Beauvais bedürfen also noch weiterer Überlegungen, und nicht zuletzt neuer Erkenntnisse kodikologischer wie textkritischer Art, wie sie sich im Rahmen der bald anstehenden Edition der Kapitularien Karls des Kahlen hoffentlich auch ergeben werden.
S. Kaschke
Literatur:
Baluze 1677, § 73
Omont 1916
Christ 1937, S. 319
Eckhardt W 1959, S. 115f.
Eckhardt W 1967, S. 14f.
Mostert 1989, Nr. BF1471, S. 278
Mordek 1995, S. 417, 631, 835-838, 865-867, 1030f.
Schmitz G 1996, S. 182-184
Bischoff 2014, Nr. 6745, S. 436