Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Handschrift des Monats September 2022: München, Hauptstaatsarchiv, HL Passau 3 1/2

Eines der jüngsten Stücke, das Alfred Boretius und Victor Krause in ihre Kapitularienedition aufgenommen haben, ist die Zollordnung von Raffelstetten von 903–906 (BK 253). In Raffelstetten, das heute zur Gemeinde Asten in Oberösterreich gehört, fand zu Beginn des 10. Jahrhunderts eine Versammlung bayerischer Großer statt, auf der die Zollordnung aufgezeichnet wurde. Vorausgegangen waren „questus clamorque“ über ungerechte Zölle in den „orientales partes“, der sog. Ostmark. König Ludwig (das Kind) wies daraufhin Markgraf Aribo an, dass er „cum iudicibus orientalium“ die Zollrechte und die Art des Zolls untersuchen solle. Seine Gesandten, Erzbischof Theotmar von Salzburg, Bischof Burkhard von Passau und Graf Ottokar, sollten die Missstände beheben. In Raffelstetten wurden die „nobiles“ befragt, wie der Zoll zu den Zeiten der Vorgänger Ludwigs – namentlich genannt werden Ludwig der Deutsche und Karlmann, König von Bayern – „iustissime“ entrichtet wurde. Soweit der Prolog der Zollordnung; daran anschließend folgen die einzelnen Bestimmungen (Edition: Boretius 1897, S. 249–252; Übersetzung: Weinrich 1977, S. 14–19; allgemein dazu: Mitterauer 1964, Koller 1995). Diese Bestimmungen wurden von Boretius und Krause in neun Kapitel gegliedert. Die Textzeugen weisen keine Einteilung in Kapitel auf; dort bilden Prolog und Kapitel einen einzigen zusammenhängenden Text.

Das Kapitular ist in nur zwei Handschriften auf uns gekommen, die zudem sogar direkt voneinander abhängig sind: München, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Hochstift Passau, Inneres Archiv 5 (olim HL Passau 3; Sigle: M40) und München, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, HL Passau 3 ½ (Sigle: M41; vgl. zu den Handschriften Mordek 1995, S. 282–284). Inneres Archiv 5 ist der sog. Lonsdorfer Codex, der vom Bischof von Passau, Otto von Lonsdorf, in Auftrag gegeben wurde. Er entstand zwischen 1254 und 1265. HL Passau 3 ½ ist eine Abschrift des Lonsdorfer Codex und wurde um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert geschrieben, ebenfalls in Passau.

München, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Hochstift Passau, Inneres Archiv 5, fol. 58v: Beginn von BK 253 (© bavarikon)

Dass M41 eine Abschrift von M40 ist, wird durch direkte Bezugnahmen auf die Vorlage deutlich. Die Raffelstettener Zollordnung wird direkt zu Beginn in M41 deutlich sichtbar als Stück Nr. LVI eingeleitet. In M40 steht diese Zahl am linken Seitenrand, wohl von einer neuzeitlichen Hand ergänzt. Möglich wäre, dass man bei der Abschrift die Stücke, die in M40 ohne Zählung geboten werden, erstmals durchzählte. In M41 gibt es zudem zwei Glossen, die Bezug auf M40 nehmen: Auf fol. 135v steht am Seitenrand die Angabe „Fol. 59.a.“ neben der Zeile, die mit „gundpolt; item gerolt“ beginnt. Exakt mit diesen Wörtern fängt fol. 59r in M40 an. Des Weiteren gibt es in M41 auf fol. 136v die Glosse „Hic hiatus itidem est in Manuscripto membranaceo“, die neben einer Zeile mit einer entsprechenden Lücke steht. In M40 ist an dieser Stelle passenderweise eine Rasur. Die unmittelbare Abhängigkeit ist durch diese wenigen Beispiele schon zweifelsfrei belegt, M41 ist also ein klassischer codex descriptus. Dass dies trotzdem nicht heißt, dass exakt der gleiche Text geboten wird, sollen einige Beispiele in der folgenden Übersicht veranschaulichen (rein orthographische Varianten und andere kleinere Abweichungen werden hier nicht berücksichtigt):

Inskription
LVI (ergänzt am Seitenrand)] LVI. Ludovicus Rex, Arnolfi filius, ordinat thelonia salis ad Danubium [A]ria anno 912 M41

Prolog
in illis] multis M41
Durinc] Durine M41 (2x)
Gundalperht] fehlt M41
Item Humperht] fehlt M41
Eigil uicarius Poto] fehlt M41
tribus] fehlt M41
loca thelonio] loca theloniorum (nach Korr.) M41

c. 1
id est] item M41 (2x)
scoti I] Scoti M41
postea] praeterea M41

c. 3
postea] praeterea M41

c. 4
perscriptum] praescriptum M41
et] fehlt M41

c. 5
autem] aut M41 (Glosse)

c. 6
utraque] utrumque M41
masculino] masculo M41
similis] similiter M41

c. 7
ad Eperaespurch] Eperaesburch M41
id est] item M41 (2x)
constitum] constitutum M41
ac] et M41

c. 8
solidum I de naui] solidum unum denariorum M41

c. 9
id est] item M41

Die kurze Übersicht zeigt, dass es insgesamt keine gravierenden Abweichungen zwischen den Handschriften gibt. Viele Varianten lassen sich zudem sehr leicht durch falsch bzw. anders aufgelöste Abkürzungen oder Verlesungen erklären. So kommt es mehrmals in M41 dazu, dass das in M40 mit „ide“ mit Kürzungsstrich über dem e gekürzte „id est“ als „item“ aufgelöst wird, wobei die Plosive d und t dem Kopisten wohl als austauschbar erschienen. Ein ähnlicher Fall ist das in M40 als „ptea“ gekürzte „postea“, dass der Schreiber von M41 öfter als „praeterea“ auflöst. Zu dieser Art von Varianten gehört auch die in M40 zu findende Abkürzung „masclo“ (c. 6), wohl für „masculino“, während M41 hier „masculo“ bietet. Sinnverändernd ist dies jedenfalls nicht, beides meint letztlich dasselbe. Kurioser ist die Variante in c. 8: Dort hat der Kopist von M41 die eng beieinanderstehenden Wörter „de naui“ und wohl auch den anschließenden Punkt als Abkürzung für „denariorum“ verlesen. Weitere Verleser dürften „Durine“ statt „Durinc“ und eventuell „multis“ statt „in illis“ sein (beide Fälle im Prolog des Stücks). An zwei Stellen ist es allerdings zu Verbesserungen der Vorlage gekommen. Das in c. 7 stehende „constitum“ in M40 hat M41 zu „constitutum“ verbessert. Und in c. 4 hat der Schreiber von M41 das in M40 gebotene „perscriptum“ zu „praescriptum“ (scil. „theloneum“) verändert. Ob dies nun einfach eine falsche Auflösung des in M40 gekürzten „per“ ist, oder eine willentliche Änderung, muss offenbleiben. Zwar sind die Wortbedeutungen ähnlich, stilistisch besser ist aber sicher „praescriptum“. In c. 5 verweist eine Glosse am Seitenrand in M41 zum Wort „aut“ auf die Variante „autem“, die auch in M40 zu finden ist. Die in M41 fehlenden Wörter, die vor allem den Prolog betreffen, sind durch Augensprünge und einfache Versehen zu erklären, so wohl auch der fehlende Name „Gundalperht“. Das „similiter“ statt „similis“ in c. 6 und „et“ statt „ac“ in c. 7 dürften Angleichungen an vorhergehende Formulierungen sein und sind letztlich nicht relevant, genauso wie die „loca theloniorum“ die aus dem M40 nahestehenden „loco thelonio“ korrigiert wurden.

Die wohl auffälligste Variante zu M40 ist die neu hinzugekommene Inskription in M41. Sie weist das Stück dem Jahr 912 und dem Sohn Kaiser Arnulfs, Ludwig dem Kind, zu, der allerdings bereits 911 starb. Interessanterweise ist das Jahr 912 aus 911 korrigiert. Zudem wird angegeben, dass es um Salzzölle („thelonia salis“) geht, was den Inhalt des Textes eher verkürzt wiedergibt. Dass es einige Korrekturen innerhalb dieser Inskription gibt, könnte darauf hindeuten, dass dem Kopisten besonders wichtig war, auf welche Weise das Stück eingeleitet wird.

Eine Besonderheit der Abschrift M41 ist, dass der breite linke Seitenrand für zahlreiche Glossen und Anmerkungen genutzt wurde, während in M40 keine Nutzerspuren zu finden sind. So werden durch diese Randbemerkungen insbesondere Personen bzw. Personengruppen und Orte aus dem Text erläutert. Einige Beispiele sollen die Annotationspraxis veranschaulichen: Direkt auf fol. 135r wird zum Wort „HLodowicum“ im Text erklärt, dass dies der „Sohn des Caesars Arnolph“ war. Und die „Nuntios“ erhalten die Erklärung, dass diese heute „Commissarii“ genannt werden. Auf fol. 135v gibt es längere Ausführungen zu den „Scoti“. Der Text meint mit „Scoti“ den Skot, eine Münze, während dies der Annotator vollkommen missverstanden hat und an die Schotten/Skoten dachte. Man kann lesen, dass es die „Scoti“ nicht nur in Britannien, sondern auch in Germanien gab („fuerunt etiam Scoti in Germania, non solum in Britannia“). Es wird danach auf den spätantiken Bischof und Literaten Sidonius Apollinaris verwiesen und auf die „Annales ecclesiastici“ von Cesare Baronio zum Jahr 413. Und zur im Text stehenden Junktur „Sclavi qui de Rugis vel Boemannis“ auf fol. 136v liest man: „Omnes Boemi sunt Slavicae originis. Sed quod de Rugis est, notandum hos fuisse gentem Germanicae originis, atque ut ex Eugippio in vita S. Severini diximus, habitabant seculo quinto ad sinistram ripam Danubii e regione Norici, hoc est in hodierna Austria transdanubiana. …“ Neben diesen längeren Ausführungen gibt es auch kurze Erläuterungen: Zu „Tremisa, Saiga“ wird knapp erklärt: „monetae genera“, während „Sogma“ ein „genus mensurae“ sei. Die Randbemerkungen zeugen von dem Bemühen, den Text inhaltlich zu durchdringen und zu verstehen. Gerade in den längeren Ausführungen sieht man förmlich, wie (regional-)historisches Interesse und Gelehrsamkeit zusammenkommen.

Die Zollordnung von Raffelstetten ist ein gutes Beispiel für eine lokal begrenzte Rechtsordnung, die entsprechend auch nur auf schmaler Basis überliefert ist. An den beiden Textzeugen lässt sich gut das Verhältnis von Vorlage und Abschrift untersuchen. Im Gegensatz zur Vorlage ist in diesem Fall die Abschrift, HL Passau 3 ½, aufgrund ihrer inhaltlichen Durchdringung durch verschiedene Benutzerspuren das interessantere Zeugnis, auch wenn sie editorisch betrachtet als codex descriptus nachrangig ist.

Dominik Trump


Zur Handschriftenseite (M40; Beschreibung und Transkription)
Zur Handschriftenseite (M41; Beschreibung und Transkription)


Literatur:

Boretius 1897
Mitterauer 1964
Weinrich 1977
Koller 1995
Mordek 1995

Empfohlene Zitierweise
Dominik Trump, Handschrift des Monats September 2022: München, Hauptstaatsarchiv, HL Passau 3 1/2, in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/handschrift-des-monats-september-2022/ (abgerufen am 29.03.2024)