Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Kapitular des Monats Juni 2021: BK 161

Zur Vorlage des Erstdrucks der Constitutio Romana von Carlo Sigonio (1574)

Die von der Forschung in den November 824 datierte Constitutio Romana (BK 161) Kaiser Lothars I. stellt ein wichtiges Zeugnis für das Kaiser-Papst-Verhältnis in karolingischer Zeit dar und wirkte durch das Privilegium Ottonianum (962) und das Privilegium Heinricianum (1020) noch im Ostfrankenreich nach (siehe allg. Mordek 1986b). Der Text fand bereits bei den Historiographen des Humanismus Beachtung und wurde seitdem in zahlreiche frühneuzeitliche und moderne Drucke aufgenommen. Der früheste uns bekannte Abdruck der Constitutio Romana findet sich in den Historiarum de Regno Italiae Libri Quindecim des Humanisten Carlo Sigonio. Dieses erstmals 1574 erschienene Werk, welches der Autor später um fünf weitere Bücher ergänzte (siehe zu Sigonios Leben und Werk allg. McCuaig 1989), bietet im vierten Buch auf S. 179 die Kapitel 3, 5, 6, 8 und 9 des Kapitulars im Rahmen einer Erzählung über die Taten Lothars I. in Italien (a. 825). Sigonios Druck war insofern einflussreich, als weitere Drucke direkt oder indirekt auf ihn zurückgehen, z.B. die Ausgaben von Baronius (Baronius 1600) und Goldast (Goldast 1607). Die Editio princeps bietet eine Textfassung, die an vielen Stellen von anderen bekannten Überlieferungsträgern der Constitutio abweicht. Sie verdient daher eine genauere Betrachtung.

Sigonio 1574, S. 179

Abb. 1: Sigonio 1574, S. 179: Editio princeps von BK 161. (© BSB)

Überlieferung der Constitutio Romana

Die Constitutio ist in drei heute noch erhaltenen Kapitularienhandschriften überliefert und wurde darüber hinaus auch in späteren Rechtskompilationen rezipiert. Alfred Boretius edierte die Constitutio Romana mit neun Kapiteln sowie einer Eidformel (Boretius 1883). Die Kapitel und die Eidformel sind jedoch getrennt überliefert und können nur inhaltlich miteinander in Verbindung gesetzt werden. Die Zusammenstellung der neun Kapitel, wie sie bei Boretius aufgenommen wurde, ist in den zwei Codices Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 130 Blank. und Vatikan, Chigi F. IV. 75 überliefert. Der Codex Cava de’ Tirreni 4 enthält immerhin die ersten acht Kapitel in derselben Reihenfolge wie die beiden anderen Handschriften. Lediglich der Liber Papiensis (11. Jh.) fällt bezüglich der Kapitelzusammenstellung aus dem Rahmen und enthält, wie für diese Kompilation typisch, nur einen Auszug, nämlich die Kapitel 1–3, 5, 6, 8 und 9 (ed. Boretius 1868). Eine weitere Rezeption stellt die Collectio canonum des Kardinals Deusdedit (11. Jh., ed. Glanvell 1905) dar, in der sich ebenfalls alle neun Kapitel erhalten haben, deren Text allerdings teils stark von dem der genannten Codices abweicht.

Abweichungen im Druck von Sigonio

Sigonios Druck unterscheidet sich von diesen Textzeugen bereits im Hinblick auf die aufgenommenen Kapitel. Er enthält lediglich die Kapitel 3, 5, 6, 8 und 9 – eine Auswahl, die zwar größtenteils der des Liber Papiensis entspricht, aber dennoch zwei Kapitel auslässt. Ein Vergleich des Wortlautes des bei Sigonio gedruckten Textes mit den Varianten des vorläufigen neuen Editionstextes der Constitutio Romana von Stefan Esders sowie mit den Editionen von Deusdedit nach Glanvell und des Liber Papiensis nach Boretius brachte einige eigenständige Varianten der Sigonio-Version zum Vorschein, die sich nicht durch orthographische Varianz oder bloße Abschreibfehler erklären lassen (für eine detaillierte Auflistung der Abweichungen siehe unten Tabelle 1). Bemerkenswert ist die Ersetzung diverser Verben durch Synonyme (z.B. nemo audeat statt nullus presumat in c. 3; exilio afficiatur statt exilio tradatur ebd.; potestate occupatae statt potestate invase in c. 6), die Nutzung des Begriffes legatos statt missos (c. 6) sowie der Zusatz aut in ceteris provinciis exerceri debet in Bezug auf die Ausübung richterlicher Gewalt in der Stadt Rom (c. 8).
Angesichts dieser Abweichungen gegenüber den anderen bekannten Textzeugen und Rezeptionen stellt sich die Frage, ob Sigonio eine heute unbekannte Handschrift benutzt hat. Sigonio selbst gibt in dem das Kapitular umgebenden Text keinen Hinweis auf seine Vorlage für die Constitutio. Im kurzen Prolog betont Sigonio nur allgemein seine Bemühungen um geeignete Quellen. Auf der Suche nach diesen habe er zahlreiche Archive durchstreift und später noch die Chroniken einzelner Städte ergänzt: …deinde vetera Italiae, et maxime Lombardiae tabularia perlustravi, atque omnia ferè, quae apud ciuitates, eçclesias, monasteria pontificum, Regum, atque Imperatorum diplomata residebant, aut praesens inspexi, aut certè absens beneficio amicorum, hospitumque cognovi. postremò singularum etiam chronica civitatum […] adiunxi (Sigonio 1574, Epistola [ungez., S. III]). Die benutzten Manuskripte und Urkunden lassen sich hieraus nicht identifizieren.
Sigonio veröffentlichte später einen Index zu seinem Werk mit einem angehängten Quellenverzeichnis (vgl. Hessel 1900, S. 29), welches z.B. im Anhang zur Bologneser Ausgabe von 1580 zu finden ist. Dieses erst am Ende des Index beginnende Verzeichnis trägt die Überschrift Monumenta, unde haec Historia excerpta est. Es handelt sich hierbei nicht um eine Konkordanz zwischen Quellen und Druckstellen, so dass auch daraus nicht ersichtlich wird, für welches Zitat genau welche Quelle genutzt wurde. Alfred Hessel, der jeder Seite von Sigonios Werk die seiner Vermutung nach korrespondierenden Quellen und Vorlagen aus dem Index zugeordnet hat (Hessel 1900, S. 29–77), konnte ebenfalls keine konkrete Vorlage für die Constitutio ausfindig machen. Er verweist lediglich allgemein auf den Eintrag zu „Lothars Gesetz“ bei den Regesta Imperii (BM2 1021, ehem. 988; s. Hessel 1900, S. 43 zu Sp. 279/280, wo in der von ihm benutzten Venezianer Ausgabe von 1732 das Kapitular steht).
Hessel bietet allerdings, wie zuvor schon Georg Waitz, einen anderen wichtigen Hinweis: Im gesamten De regno Italiae fügte Sigonio seine Quellen teils stark verkürzt und mit zahlreichen humanistischen Stilkorrekturen ein. So werden als „barbarisch“ empfundene Worte oder grammatikalische Konstruktionen durch eleganteres, klassisches Latein ersetzt. Sowohl Waitz (1867) als auch Hessel (1900, S. 18f., Anm. 1) bieten dafür eindrückliche Beispiele. Und tatsächlich lassen sich einige der Abweichungen in der Sigonio-Fassung der Constitutio Romana durch stilistische Verbesserungen wie Ersetzungen von Worten durch Synonyme oder grammatikalische Anpassungen erklären, die den Text oft fließender und eben „klassischer“ machen (vgl. die Beispiele im nächsten Abschnitt).

Eine mögliche Vorlage für Sigonios Druck

Lässt sich nun vor diesem Hintergrund, d.h. unter Berücksichtigung solcher Stilkorrekturen, dennoch eine mögliche Vorlage Sigonios ausmachen? Die Auswahl der aufgenommenen Kapitel der Constitutio Romana stimmt am ehesten mit derjenigen des Liber Papiensis überein. Die zwei ersten Kapitel nicht abzudrucken, könnte eine Entscheidung Sigonios gewesen sein, da sie noch nicht konkret auf päpstliche oder römische Rechte eingehen. Bereits der Editionstext des Liber Papiensis (Boretius 1868) bietet manche mit Sigonio übereinstimmende Abweichungen zum vorläufigen Text der Neuedition. Ein Vergleich von Sigonios Textfassung mit den bei Boretius angegebenen Varianten der einzelnen Handschriften erbrachte gegenüber dem Editionstext von Boretius noch weitere Übereinstimmungen, die den Erstdruck insbesondere in die Nähe des Codex London, Add. 5411 rücken (hier fol. 159r-159v). Insbesondere diejenige Stelle, bei der es sich nicht bloß um eine grammatikalische Anpassung oder eine Ersetzung eines Wortes mit einem gleichbedeutenden Ausdruck handelt, sondern um einen größeren und sonst unbelegten Zusatz, findet sich auch in der Londoner Handschrift: Während Sigonio statt urbe Romana agi debet in Kapitel 8 urbe Roma exercetur, aut in ceteris provinciis exerceri debet druckt, bietet der Londoner Codex dort urbe Roma, vel in coeteris provinciis, agi debet. In der Abweichungstabelle unten wurde die Version von Sigonio neben den bereits genannten Textzeugen direkt mit dem Digitalisat der Londoner Handschrift kollationiert, da Boretius einige kleinere grammatikalische Abweichungen nicht im Apparat seiner Liber Papiensis-Edition aufgenommen hat, die jedoch wiederum mit Sigonio übereinstimmen.

London, Add. 5411, fol. 159r

Abb. 2: London, British Library, Add. 5411, fol. 159r: BK 161 (Liber Papiensis). (© British Library Board)

Diejenigen Abweichungen, die zwischen der Londoner Handschrift und dem Erstdruck der Constitutio Romana noch bestehen bleiben, lassen sich größtenteils problemlos auf stilistische Verbesserungen zurückführen. So schreibt Sigonio iudiciaria potestas exercetur/exerceri debet statt iudiciaria potestas agi debet (c. 8), de rebus ecclesiarum volumus ut restituantur statt de rebus aecclesiarum volumus ut fiant emendatę (c. 6; die Londoner Handschrift weicht hier vom Neueditionstext ab, der fiant emendatum bietet) und admonere statt ammonitionem facere (c. 8). An anderen Stellen passt er die grammatikalische Form der Wörter leicht an, um elegantere Sätze zu bilden, so z.B. bei ad electionem venire statt in electione venire (c. 3) oder interrogetur, qua lege velit vivere statt interrogetur, qua lege vult vivere (c. 5).
Die Benutzung der Londoner Handschrift durch den in Oberitalien tätigen Sigonio wird auch dadurch plausibel, dass sie in Norditalien entstanden ist und sich noch im 18. Jahrhundert im Besitz eines venezianischen Buchhändlers befand (siehe den Abschnitt zur Provenienz in der Beschreibung der Handschrift). Bei seinen im Prolog genannten Archivrecherchen könnte er also durchaus auf sie gestoßen sein. Aufgrund der starken Eingriffe in den Text lässt sich allerdings nicht entscheiden, ob Sigonio wirklich die Handschrift London, Add. 5411 vorliegen hatte, oder mit einer anderen, eng verwandten Handschrift gearbeitet hat. Die Ersetzung des Begriffes missos durch legatos zum Beispiel könnte zwar eine Konjektur Sigonios sein, doch sie findet sich, wie vereinzelt manche anderen Varianten, auch bei Deusdedit, könnte also durchaus auf eine andere Vorlage zurückgehen. Denkbar ist auch, dass Sigonio den Londoner oder einen ihm verwandten Codex zwar benutzt, aber mit einem anderen kollationiert hat.
Der Liber Papiensis selbst wird in Sigonios Quellenverzeichnis nicht genannt, doch im Abschnitt LIBRI LEGUM sind gedruckte Bücher mit „Langobardischen, Fränkischen und Germanischen Rechten“ sowie zwei Handschriften „desselben Inhalts“ aufgeführt:

Libri legum Longobardorum, Francorum, et Germanorum typis impressi.
Liber eiusdem argumenti alius manuscriptus apud me.
Liber eiusdem argumenti alius manuscriptus apud Canonicos Mutinenses.

Die Benutzung eines bestimmten Manuskripts oder Druckwerks ist auch anhand dieser Einträge nicht zu verifizieren, doch da der Titel Liber legum Longobardorum sowohl ein allgemeines Buch mit langobardischen Rechtstexten als auch konkret den Liber Papiensis bezeichnen kann, könnte es sich bei einem der Druckwerke oder Manuskripte um eine entsprechende Vorlage für die Constitutio Romana handeln. Sicher ist dies freilich nicht zu sagen und ohne weitere Erforschung der Provenienz und Überlieferung einzelner Liber Papiensis-Handschriften sowie insbesondere der Handschrift London Add. 5411 muss die Frage, welchen (möglicherweise verlorenen) Textzeugen Sigonio für seinen Abdruck der Constitutio Romana benutzte, offenbleiben.
Nach den angestellten Untersuchungen ist jedoch relativ sicher zu schlussfolgern, dass diese Vorlage aus dem Kreise der Liber Papiensis-Handschriften stammte und zahlreiche der Abweichungen zum heute bekannten Text wohl Sigonios Bemühen um einen einheitlich klassischen Stil des Lateinischen geschuldet sind. Der Erstdruck der Constitutio Romana repräsentiert somit keinen eigenständigen mittelalterlichen Überlieferungsstrang. Er kann uns jedoch einiges über die Arbeitsweise der frühen humanistischen Geschichtsschreiber verraten.

A. Ostrowski


Literatur:
Sigonio 1574, S. 179
Baronius 1600, S. 720
Goldast 1607, S. 13-14
Waitz, Georg, Über den falschen Text des Friedens von Venedig 1177, in: Nachrichten von der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften und der Georg-Augusts-Universität zu Göttingen 1867, Heft 19, S. 389–392.
Boretius 1868, S. 545-546, Nr. 37-41
Boretius 1883, S. 322-324, Nr. 161
Hessel, Alfred, „De regno Italiae libri viginti“ von Carlo Sigonio. Eine quellenkritische Untersuchung (Historische Studien 13), Berlin 1900
Glanvell 1905, S. 187-189
McCuaig, William, Carlo Sigonio. The Changing World of the Late Renaissance, Princeton 1989
Mordek 1986b


Tabelle 1: Abweichungen des Erstdrucks zum vorläufigen Text der Neuedition und gemeinsame Varianten mit den bekannten Textzeugen (ohne Berücksichtigung orthographischer Abweichungen)

Benutzte Siglen:
C = Cava deʾ Tirreni, BdB, 4 nach vorläufigem Variantenapparat der Neuedition
De = Deusdedit nach Glanvell 1905
L6 = London, BL, Add. 5411 nach Digitalisat
LP = Liber Papiensis nach Boretius 1868
V5 = Vatikan, BAV, Chigi F. IV. 75 nach vorläufigem Variantenapparat der Neuedition
W = Wolfenbüttel, HAB, Cod. Guelf. 130 Blank nach vorläufigem Variantenapparat der Neuedition

Kapitel (nach Neuedition) Vorläufiger Editionstext von Stefan Esders Sigonio Textzeugen mit Varianten, die mit Sigonio übereinstimmen
3 in electione ad electionem Keine
3 nullus presumat nemo audeat Keine
3 impedimentum faciat impedimentum inferat Keine
3 illi[s] solummodo Romanis exceptis illis tantum Romanis Keine, aber: exceptis illis solummodo Romanis LP, exceptis illis romanis solummodo L6
3 antiquitus antiqua Keine
3 contra hanc iussionem nostram contra nostram iussionem L6, contra hanc nostram iussionem LP
3 facere presumpserit facere ausus fuerit Keine
3 exilio tradatur exilio afficiatur Keine
5 qua lege vult vivere qua lege velit vivere Keine
5 ut tali, qua se professi fuerint ut ea, qua professus sit Keine, aber: ut sub ea vivat
De (statt ut tali, qua se professi fuerint vivere velle, vivant, doch ansonsten ganz anders), ut tali quali se professus fuerit L6
5 vivere velle, vivant vivere velle, vivat L6, V5, ut sub ea vivat De (statt ut tali, qua se professi fuerint vivere velle, vivant, doch ansonsten ganz anders)
5 illisque denuntietur, quod eique denuncietur, ut Keine, aber: eisque denuntietur De (doch ansonsten ganz anders)
5 quam et iudices quàm Judices Keine
5 offensione sua offensionem suam L6
5 quam profitentur qua profitentur L6
5 per dispositionem pontificis ac nostram ex constitutione pontificis, & nostra Keine, aber: ex dispositione domni pontificis et nostra De (doch ansonsten ganz anders)
6 invasis sub occasione occupatis per occasione[m] Keine
6 iniuste a potestate pontificum invase à potestate pontificum occupatae Keine
6 per missos nostros fiat emendatum per legatos nostros restituantur Keine, aber: a legatis nostris … redigantur De (doch ansonsten ganz anders)
8 Placuit nobis Placet nobis Keine
8 iudicaria potestas iudiciaria potestas L6, iudiciaria potentes W
8 urbe Romana… urbe Roma… C, L6, LP
8 …agi debet …exercetur, aut in ceteris provinciis exerceri debet Keine, aber:
…vel in coeteris provinciis agi debet L6
8 presentia nostra praesentiam nostram L6, LP, nostram presentiam De
8 volentes Volumus De, L6
8 singulis singulos C, V5
8 de ministerio sibi credito ammonitionem sibi facere de munere sibi credito admonere Keine, aber: sibi2 fehlt auch De, L6, LP und W
9 admoneatur admonemus Keine
9 ut omnis homo, sicut … desiderat, ita prestet ut omnes homines, sicut … desiderant, ita praestent Keine
9 gratiam dei Dei gratiam De, L6, LP, W
9 atque ac Keine

Empfohlene Zitierweise
Alina Ostrowski, Kapitular des Monats Juni 2021: BK 161, in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/kapitular-des-monats-juni-2021-bk-161/ (abgerufen am 24.11.2024)