Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Sammlung des Monats September 2023: Die Collectio capitularium Laudunensis (Teil 1)

Was macht eigentlich eine Kapitulariensammlung aus? Harte Kriterien für diese hochkomplexe Frage zu finden ist keine leichte Aufgabe. Für Hubert Mordek war es offenbar ausreichend, dass Kapitel aus verschiedenen Kapitularien in einem zusammengehörigen Textblock miteinander verbunden wurden, als er die Kapitel auf foll. 162r–164v der Handschrift Laon Bibliothèque municipale 265 als Collectio capitularium Laudunensis (vgl. Mordek 1995, S. 201) bezeichnete. Dieses „kleine systematische Opusculum“ (ebd.) soll im Folgenden genauer betrachtet werden.

Die Handschrift, in der unsere Sammlung enthalten ist, befindet sich spätestens seit der Mitte des 9. Jahrhunderts in Laon; eine dortige Entstehung ist möglich. In der Handschrift enthalten sind gut dreißig verschiedene Texte, die wohl zu Beginn des 9. Jahrhunderts zusammengeführt wurden. Diese Texte „would have been useful in the formation of priests“ (Contreni 2023, S. 385) und entstammten ursprünglich verschiedenen Sammlungen. Insgesamt können acht verschiedene Teile identifiziert werden. An dieser Stelle ist ausschließlich der siebte Teil (foll. 162–183) relevant, dessen Lagen noch im 9. Jahrhundert in ihrer Reihenfolge verändert wurden (vgl. ebd., S. 365). In der ursprünglichen Reihenfolge begann Teil 7 mit besagter Collectio capitularium Laudunensis, auf die dann ein Auszug des sogenannten Paenitentiale Umbrense folgt. Bei letzterem handelt es sich um den zwölften Abschnitt des zweiten Buchs mit insgesamt 37 Kapiteln, in dem ausschließlich eherechtliche Fragen behandelt werden (XII – De questionibus coniugiorum, vgl. Finsterwalder 1929, S. 326–331). Viele der Texte dieses siebten Teils behandeln die Ehe bzw. eherechtliche Themen.

Auch unsere ‚Kapitulariensammlung‘ behandelt ausschließlich eherechtliche Fragen. Zusammengesetzt ist sie überwiegend aus Kapiteln der Decreta Vermeriense von 756 (BK 16) und Compendiense von 757 (BK 15), also zwei Stücken aus der Zeit Pippins des Jüngeren. Verglichen mit der übrigen Überlieferung dieser Texte finden sich die Kapitel in unserer Sammlung allerdings teils in stark abweichendem Wortlaut (vgl. Mordek 1995, S. 201). Außerdem in der Sammlung enthalten sind ein hier unikal überliefertes Kapitel (von Mordek, ebd., S. 973 als Capitulum post Decretum Vermeriense conferendum bezeichnet), das sich auf BK 16 c. 7 bezieht, und fünf Kapitel aus dem bereits erwähnten Paenitentiale Umbrense. Von diesen fünf Kapiteln stammen drei ebenfalls aus Abschnitt XII und werden wenige Seiten später erneut kopiert, die beiden weiteren Kapitel (Canones Gregorii cc. 176–177, vgl. Finsterwalder 1929, S. 269) behandeln ebenfalls Fragen der Ehe.

Aus BK 16 wurden 11 der 21 Kapitel aufgenommen, aus BK 15 sogar 16 von 21 Kapiteln. Vier der 15 fehlenden Kapitel (BK 15 c. 12 und BK 16 cc. 14–16) sind eherechtlich nicht relevant und wurden wohl deshalb ausgelassen. Bei drei weiteren (BK 15 c. 21 und BK 16 cc. 4 und 17) könnte vermutet werden, dass sie aufgrund inhaltlicher Redundanz absichtlich weggelassen oder schlicht vergessen wurden.

Zunächst zu den aufgenommenen Kapiteln aus BK 15 und 16: Wie bereits erwähnt, weichen einige (stark) von den Formulierungen der sonstigen Überlieferung (etwa in den Handschriften Vatikan Pal. Lat. 582, Paris Lat. 9654, München Lat. 3853 und Heiligenkreuz 217) ab. In Laon 265 fehlt etwa ‒ wie auch in den verwandten Handschriften Vesoul 79 (73) und Paris 2796, die jeweils nur einen kleinen Teil der Sammlung enthalten ‒ in einigen Fällen das Ende des Kapitels: Bei BK 15 c. 16 fehlt das abschließende Georgius consensit; BK 15 c. 20 unterschlägt den gesamten letzten Satz (De muliere, quae dicit quod vir suus ei commercium maritale non reddidit, Georgius consensit); Hoc aecclesia non recipit fehlt bei BK 16 c. 18 (vgl. Contreni 2023, S. 396). Bei dem (nicht) erwähnten Georg handelt es sich um Bischof Georg von Ostia, der in Compiègne nachweislich als päpstlicher Legat anwesend war (vgl. Oelsner 1871, S. 293). Der Nachsatz zu BK 16 c. 18 ist vermutlich eine spätere Ergänzung (vgl. Boretius 1883, S. 41 Anm. 7). Gänzlich ausgeschlossen werden kann aufgrund der teils sehr unverbindlichen Formulierungen von BK 16 allerdings nicht, dass es sich um einen Verweis auf eine anderslautende Bestimmung eines älteren Konzils handelt. Infrage käme hier möglicherweise can. 6 des Konzils von Rom 743 (MGH Conc. 2,1, S. 987). Es könnte sich bei diesen Veränderungen schlicht um Fehler des Kopisten handeln, möglich ist aber auch, dass es sich um bewusste Eingriffe handelt.

Für beides lassen sich anhand weiterer Abweichungen in unserer Sammlung eindeutige Beispiele finden. Am Ende von BK 15 c. 18 wird etwa das bei c. 16 fehlende Geor[gius] [con]sen[sit] ergänzt. Auf bewusste Veränderungen bei BK 16 cc. 2 und 6 hat bereits Mordek (1995, S. 203) hingewiesen; beide Kapitel wurden verkürzt. Der Inhalt der Kapitel wird durch diese Bearbeitung nicht maßgeblich verändert. Bei c. 2 wird lediglich eine einschränkende Bedingung des behandelten Falls (Trennung bei Ehebruch des Ehegatten mit seiner Stieftochter) weggelassen, bei c. 6 wird ein Sonderfall des Kapitels (Unfreiheit durch Selbstverkauf aus Not) ausgespart.

Eine weitere, von Mordek unbemerkte Verkürzung eines Kapitels findet sich in BK 16 c. 1. Dort wird in der Mitte des Kapitels die auferlegte Buße für Eheleute, die im vierten Verwandtschaftsgrad verwandt sind, ausgelassen. Diese inhaltliche Veränderung findet sich auch in der mit der Laonenser Sammlung verwandten Handschrift Vesoul 79 (73), wie Sven Meeder festgestellt hat (vgl. Blogpost des Monats Juli 2022). Bemerkenswert ist die Veränderung insofern, weil so der inhaltliche Unterschied zu dem kurz vorher kopierten BK 15 c. 1 aufgehoben wird. Dem Kompilator darf also eine bewusste (inhaltliche) Auseinandersetzung mit dem Material unterstellt werden.

Diese zeigt sich auch an der Aufbereitung des von ihm zusammengetragenen Materials. Die Kapitel der beiden Kapitularien sind nicht bloß aneinandergereiht, sondern vielmehr thematisch organisiert (vgl. Fried 2012, S. 128). Es scheint offensichtlich, dass der Kompilator versuchte, alle eherechtlichen Inhalte der beiden Texte wiederzugeben – daher auch die bereits erwähnte Auslassung aller nicht eherechtlichen Kapitel – und in thematischen Blöcke zu sortieren. Contreni (2023, S. 376) nimmt sogar einen Aufbau an, welcher der „trajectory of marriage from beginning to end“ folgt. Da bereits in den ersten beiden Kapiteln die Trennung von inzestuösen Ehen behandelt wird, überzeugt diese These jedoch nicht.

Diese Sortierung ist nicht immer nachvollziehbar, scheint aber grundsätzlich gelungen. Folgende Blöcke könnte man annehmen: Die ersten sechs Kapitel der Sammlung behandeln inzestuöse Ehen (BK 15 cc. 1–4 und BK 16 cc. 1–2) und bilden den ersten thematischen Block. Kapitel 7 (BK 15 c. 5) behandelt den Umgang mit Frauen, die ohne Erlaubnis ihres Gatten in den Nonnenstand eintreten, und passt nicht in die hier angenommene Gliederung. Die cc. 8–15 (BK 15 cc. 6–8, BK 16 c. 6, 13, 7–8 und Mordek Nr. 4) behandeln standesungleiche Verbindungen. Das auf BK 16 c. 8 folgende Kapitel hat Hubert Mordek (1995, S. 973) als Capitulum post Decretum Vermeriense conferendum bezeichnet. Es lautet: Potest seruus honoratus, si dominus eius uoluerit ei dare ancillam ad concubinam habere, postea aliam accipere, si domino placet? Es wird also gefragt, ob ein seruus honoratus, wenn sein Herr es gestattet, heiraten darf, obwohl ihm vorher (ebenfalls von seinem Herrn) bereits eine andere Frau zur concubina gegeben wurde. Weshalb sich diese Frage stellte, ist nicht vollständig nachzuvollziehen. Ein ganz ähnlicher Fall wird schließlich in BK 16 c. 7 bereits behandelt, auf das sich die Nachfrage wohl bezieht. Dort wird bestimmt, dass ein servus seine eigene Unfreie, die er zur concubina hatte, entlassen darf, um eine ancilla seines Herrn zur Ehefrau zu nehmen, obwohl es besser sei, bei der ersten Frau zu bleiben (sed melius est suam ancillam tenere). Es stellt sich jedoch vor allem die Frage, von wem diese Rückfrage zu BK 16 c. 7 stammt. Mordek (1995, S. 973) vermutet, dass sich die Frage „dem Gesetzgeber“ stellte. Anhaltspunkte für diese Vermutung gibt es allerdings keine. Durchaus möglich ist, dass sich die Frage dem Kompilator unserer Sammlung oder einem späteren Kopisten stellte, der sie neben dem Text notierte, und dass sie dann als dessen Bestandteil weitertradiert wurde. Mit diesem Satz schließt der zweite inhaltliche Block der Sammlung.

Laon 265, fol. 162v: Mordeks Capitulum post Decretum Vermeriense

Die cc. 16 und 17 (BK 16 c. 9 und BK 15 c. 9), und somit der dritte Block, behandeln Fragen zur Auflösung der Ehe in besonderen Situationen. Die cc. 18–24 (BK 15 cc. 11, 18, 13, BK 16 c. 10–11, BK 15 c. 15, BK 16 c. 18 und BK 15 c. 20) behandeln verschiedene Fälle des (inzestuösen) Ehebruchs und bilden den vierten Block. In diesem letzten inhaltlichen Block werden, wie bereits im vorangehenden, Fragen um die Auflösung der Ehe in besonderen Situationen behandelt. Er umfasst BK 16 c. 5, fünf inhaltlich passende Kapitel aus dem Paenitentiale Umbrense und BK 15 c. 16. Abgesehen von der Trennung der Kapitel zur Auflösung von Ehen und zwei Kapiteln (cc. 7 der Sammlung = BK 15 c. 5), die sich nur bedingt in diese inhaltliche Gliederung einfügen lassen, war der Kompilator in seinem Versuch, das gesammelte Material inhaltlich zu gruppieren, also durchaus erfolgreich.

Die thematische Ordnung von Kapitularienmaterial begegnet nicht besonders häufig; ebenso die bewusste Veränderung bzw. Umformulierung von Kapiteln. Die Collectio capitularium Laudunensis darf also durchaus als kreative Leistung bezeichnet werden. Wer genau für diese Kompilation verantwortlich zeichnet, ist, wie so oft, nicht nachzuvollziehen. Dass es nicht der Schreiber der Laonenser Handschrift war, lässt sich allerdings mit sehr großer Wahrscheinlichkeit behaupten. Der Frage, wer und wann die Sammlung kompiliert haben könnte, widmen wir uns in einem zukünftigen Blogpost.

D. Leyendecker


Literatur:

Oelsner 1871
Finsterwalder 1929
Mordek 1995
Fried 2012
Contreni 2023

Empfohlene Zitierweise
Dominik Leyendecker, Sammlung des Monats September 2023: Die Collectio capitularium Laudunensis (Teil 1), in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/sammlung-des-monats-september-2023-die-collectio-capitularium-laudunensis-teil-1/ (abgerufen am 21.11.2024)