Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Handschrift des Monats Juli 2022: Kapitularienauszüge in einer Kirchenrechtssammlung – Vesoul, BM, 79 (73)

Wie bereits im Mai erwähnt, finden sich bekanntlich in frühmittelalterlichen Handschriften mit kanonischem Material neben “rein” kanonischen Texten oft auch andere normative Werkgattungen. In der Tat griffen die Verfasser systematisch angelegter kanonischer Sammlungen bei der Auswahl des maßgeblichen Materials für ihre Sammlungen nicht selten auf königliche Kapitularien zurück. Das letztgenannte Phänomen scheint in dem Manuskript aus dem zehnten oder elften Jahrhundert, das sich heute in der Stadtbibliothek von Vesoul befindet, zum Tragen zu kommen (nicht von Koal 2001 erwähnt). Hier ist das Material aus den Kapitularien Teil der kanonischen Sammlung selbst.

Weder das Manuskript noch das Vorhandensein von Auszügen aus den Kapitularien waren früheren Gelehrten unbekannt. Die Rolle dieser Texte innerhalb des sorgfältig zusammengetragenen Materials dieser Handschrift aus dem zehnten oder elften Jahrhundert wurde jedoch bisher nicht eingehend untersucht.

Hubert Mordek beschrieb Vesoul, Bibliothèque municipal, MS 79 (73) als eine “typisch kirchliche Gebrauchshandschrift” (Mordek 1995 S. 895). Ihr einfacher Charakter spiegelt sich in ihren bescheidenen materiellen Aspekten wider. Mit ihren 88 Blättern im Format von höchstens 190 x 130 mm ist sie ein kleiner, handlicher Codex, der bequem mitgeführt werden kann. Sein geringwertiges Pergament ist von mittlerer Dicke und weist zahlreiche ungleichmäßige Seitenränder auf, die auf die Verwendung von Hautstücken von Hals, Schulter und Hinterteil der Tiere zurückzuführen sind. Im gesamten Manuskript finden sich zahlreiche Löcher (ein Loch wurde vernäht – Fol. 30).

Die Texte wurden von mehreren Schreibern kopiert, die in einer fließenden karolingischen Minuskel schrieben, aber mehr als ein paar Fehler in ihrem Latein machten. Es handelt sich um einen recht gut geordneten Codex mit roten Rubriken in Minuskeln (selten in Großbuchstaben), die die verschiedenen Werke voneinander trennen und den Leser durch die Auswahl der Texte führen. Diese nüchterne Handschrift hat nur zwei kleine Illustrationen, die vielleicht später hinzugefügt wurden: ein Mann mit Hut ist in der Q-Initiale auf Folio 12v zu sehen (die eine Erklärung über die Durchführung von Auguren und Wahrsagern eröffnet), während eine andere Q-Initiale die Zeichnung eines Gesichts enthält (Fol. 23v).

Abb. Vesoul 79 (73), fol. 12v: Wohlbehüteter Anonymus (©Bibliothèque municipale Louis Garret).

Die Herkunft des Manuskripts, das auf das Ende des zehnten oder elften Jahrhunderts datiert wird, bleibt ungewiss (Fournier 1926 S. 79; Mordek 1995 S. 894). Da sie aus der Abtei von Faverney, die nicht allzu weit vom Kloster Luxeuil entfernt liegt, in die Stadtbibliothek gelangte, nahm Franz Bernd Asbach an, dass die Handschrift aus der Gegend von Luxeuil stammt. Die Mönche von Faverney kamen jedoch erst im späten 18. Jahrhundert, kurz vor der Französischen Revolution, in den Besitz des Codex, möglicherweise durch einen Erben des magister “Iohannes Denisot”, dessen Name in frühneuzeitlicher Schrift auf einem der Vorsatzblätter erscheint. Dieser Jean Denisot könnte Mitglied einer ursprünglich englischen Familie gewesen sein, die aus der Gegend von Nogent nach Le Mans gezogen ist (Asbach 1975 S. 45), was auf einen näher an Paris gelegenen Ursprung des Manuskripts hindeuten könnte, doch ist dies recht unsicher.

Wichtig ist, dass die Kombination von Texten in Vesoul 79 (73) wohl überlegt und sorgfältig geplant war und dass das Buch als Ganzes studiert werden sollte. Der Codex kombiniert autoritative Anweisungen, die vor allem für den weltlichen Klerus und die lokalen christlichen Gemeinschaften von Bedeutung sind, mit einfachen und kurzen Erklärungen zu kirchlichen Dogmen und Praktiken. Neben grundsätzlichen Bußregeln enthält die Handschrift eine kanonische Sammlung (die Collectio 91 capitulorum) und ein kanonisches Florilegium, das Richtlinien für das Verhalten der Priester, Vorschriften über Fasten, Festtage und Spenden sowie die Pflicht des Klerus, den Laien die Grundlagen des Christentums zu vermitteln, enthält. Ein Traktat über die Taufe – in Form von Fragen und Antworten – und die Erklärungen zum Glaubensbekenntnis, zur Messe und zum Paternoster geben dem niederen Klerus weitere praktische Anweisungen zum christlichen Kult. Die in der kanonischen Sammlung behandelten Themen lassen auf einen praxisorientierten und “lokalen” Schwerpunkt der Sammlung schließen, was sich auch in der Materialität des einzigen erhaltenen Manuskripts widerspiegelt.

Da der jüngste datierbare Text in der Handschrift aus dem frühen neunten Jahrhundert stammt – nämlich eine Auswahl von Auszügen aus dem ersten Bischofskapitular Theodulfs von Orléans (geschrieben zwischen 798 und 818) -, scheint diese Kombination von Texten aus dem zweiten Viertel des neunten Jahrhunderts zu stammen. Das Fehlen späterer Texte deutet darauf hin, dass das Manuskript aus Vesoul aus dem Hochmittelalter eine getreue Abschrift eines Codex aus dem 9. Jahrhundert ist. Es ist ungewiss, aber nicht unwahrscheinlich, dass der einfache Charakter der Handschrift von Vesoul den Charakter ihres Vorbilds widerspiegelt. Wir scheinen also einen Zeugen aus dem zehnten oder elften Jahrhundert für ein kleines praktisches Pastoralbuch aus dem neunten Jahrhundert zu haben.

In der kanonischen Sammlung, die als Collectio 91 capitulorum bekannt ist, finden sich Auszüge aus vier königlichen Kapitularien: BK 23, BK 13, BK 15 und BK 16. Die drei letztgenannten finden sich am Ende der Sammlung, das Fragment aus Capitulum 19 des so genannten Duplex legationis edictum (BK 23) von 789 findet sich jedoch in der Mitte der Sammlung, als Kapitel 37. Es fordert die Bischöfe auf, dafür zu sorgen, dass kleine Nonnenklöster einen festen Platz finden und eine Regel annehmen. Außerdem sollen die Äbtissinnen nicht gegen die Regel handeln. Der Rest des Kapitels, das der Äbtissin verbietet, das Kloster ohne “unseren” Befehl zu verlassen, das den Nonnen verbietet, vulgäre Lieder zu schreiben oder zu singen oder den Aderlass vorzunehmen, wurde vom Kompilator der kanonischen Sammlung weggelassen. In der Fassung der Collectio 91 capitulorum fehlt auch das Prädikat des ersten Satzes (uolumus ut – “wir wollen, dass …”), welches auf die königliche Autorität dieses Erlasses hinweist. Stattdessen scheint sich das Kapitel nun nahtlos in die umgebenden Kapitel über Nonnen und Äbtissinnen (cc. 36-46) einzufügen, die eher “traditionelles” kanonisches Material wie die theoderianische Bußordnung und die gallischen Synodalakten enthalten.

Das letzte Kapitel der Collectio 91 capitulorum besteht aus den ersten drei Kapiteln des sogenannten “Königskapitulars” (BK 13) Pippins des Jüngeren von 754/755 (Breternitz 2020). Die Kapitel behandeln den Inzest, ein Wort, das in der Sammlung sonst nirgends ausdrücklich vorkommt. Das erste Dekret verbietet den Inzest mit einer Reihe von aufgelisteten Kategorien von Frauen (Gottgeweihte, Patinnen, Familienangehörige) und schreibt für Übertretungen Geldstrafen, Schläge oder sogar Gefängnis vor (siehe zu diesen und den folgenden Bestimmungen zur Thema Inzest Pippins Ubl 2008 S. 261-270). Die Version in Vesoul 79 (73) sieht wiederholt – aber nicht immer – eine Buße von 40 (XL) solidi vor, während das ursprüngliche (?) Kapitular 60 (LX) vorsieht.

Abb. Vesoul 79 (73), fol. 53r: XL oder LX Solidi als Buße? (©Bibliothèque municipale Louis Garret).

Das Kapitel ist insofern einzigartig, als es die weltliche Autorität in Fragen des Inzests nachdrücklich bekräftigt, indem es vorschreibt, dass – in einigen Fällen – eine Geldstrafe an den König zu zahlen ist, und dem comes eine Rolle bei der Durchsetzung der Regeln zuweist (Breternitz 2020 S. 49-50). Die kirchliche Autorität wird nur erwähnt, wenn es sich bei dem Täter um einen Kleriker handelt; in diesem Fall sollen die Bischöfe und die comites bei der Verfolgung des Täters zusammenarbeiten. Aufgrund der Betonung der weltlichen Autorität scheint das Dekret weniger für eine kanonische Sammlung geeignet zu sein, aber seine ausdrückliche Nummerierung (XCI) deutet darauf hin, dass es eindeutig als Bestandteil dieser Sammlung des kanonischen Rechts angesehen wurde. Vielleicht wurde das königliche Kapitular als der geeignetste normative Text zur Behandlung des Themas Inzest für das spezifische Publikum der Collectio 91 capitulorum angesehen.

Die unmittelbar auf das einundneunzigste Kapitel der Sammlung folgenden Texte sind neu nummeriert; sieben kurze Kapiteln sind mit I bis VII nummeriert. Sie scheinen daher von der kanonischen Collectio 91 capitulorum getrennt zu sein, obwohl die Themen der Kapitel recht gut mit dem oben besprochenen capitulum 91 zusammenpassen. Es scheint wahrscheinlich, dass die Kapiteln im Zusammenhang mit der Collectio 91 capitulorum gelesen werden sollten (die gleiche Zusammenstellung findet sich auch in den Handschriften Laon 265, fol. 162r und Paris, BnF, lat. 2796, fol. 152v, siehe Mordek 1995 S. 201). Die Aussagen stammen aus dem Decretum Compendiense (a. 757), BK 15, cc. 1-4 und dem Decretum Vermeriense (a. 756), BK 16, cc. 1, 2 (+4). Sie befassen sich speziell mit der Blutsverwandtschaft in der Ehe und insbesondere mit der Frage, ob Ehepaare, die im dritten oder vierten Grad verwandt sind – wenn dies post factum entdeckt wird -, getrennt werden sollten und ob die getrennten Ehepartner wieder andere Personen heiraten dürfen. Die Synode von Verberie betrachtete Ehen vierten Grades als sündhaft, empfahl aber keine Trennung, wenn sie nachträglich entdeckt wurde. Ehen von Personen, die im dritten Grad verwandt sind, sollten jedoch aufgelöst werden. Die spätere Synode von Compiègne (deren Capitula in diesem Manuskript vor denen von Verberie eingetragen sind) relativiert diesen Ansatz, indem sie ausdrücklich die Trennung von Ehen die zwischen drittem und viertem Grad stehen anordnet. Dagegen gab es keine Konsequenzen mehr für eine Heirat im vierten Grad; es handelte sich nicht mehr um Inzest (Ubl 2008 S. 266-267).

Das erste Kapitel dieser kleinen Gruppe macht bereits deutlich, dass Ehen vierten Grades nicht getrennt werden (I = Compendiense, c. 1). Dies wird in Kapitel VI (= Vermeriense, c. 1 [2]) wiederholt, in dem erklärt wird, dass solche Ehen nicht erlaubt sind, wenn der Grad der Blutsverwandtschaft im Voraus bekannt ist. Während der ursprüngliche Text von Verberie den Ehepartnern solcher Ehen eine Buße auferlegt, lässt die Fassung in Vesoul 79 (73) die Forderung nach einer Buße in diesen Fällen weg und schließt sich damit dem Tenor der späteren Synode von Compiègne an.

Capitulum VII (= Vermeriense, c. 2 (+4)) schließlich ist eine stark gekürzte Fassung des Kapitels, das die Ehe (oder den Inzest) sowohl mit der Mutter als auch mit der Stieftochter verbietet. Die Version in Vesoul 79 (73) reduziert einige der Komplikationen des Originals und erklärt, dass eine Ehefrau – offenbar nachdem sie die sexuellen Beziehungen ihres Mannes zu ihrer Tochter entdeckt hat – sich für das Zölibat entscheiden oder “wie es gepredigt wird” handeln darf: Si quis cum filiastra sua manet nec filiam nec matrem habeat nec aliam uxorem, nec illa filiastra uirum. Illa autem mulier, mater filiastre, si uoluerit, se contineri faciat, si non potest, agat, quod uult, tamen predicanda est (“Falls jemand mit seiner Stieftochter schläft, soll er weder die [Stief-] Tochter noch [deren] Mutter behalten, noch [jemals] eine andere Ehefrau [nehmen], noch soll die Stieftochter [jemals] einen Ehemann [nehmen]. Wenn jene Frau aber, die Mutter der Stieftochter, sich enthalten möchte, tue sie das; falls sie es nicht kann, darf sie handeln, wie sie möchte – wie es gepredigt wird”).

Die Kapitularienauszüge in Vesoul 79 (73) sind somit interessante Zeugnisse für die Verwendung von königlichem Kapitularienmaterial im Rahmen von Sammlungen des kanonischen Rechts. Ihr Vorhandensein in dieser Sammlung zeigt die Eignung säkulare normativer Texte für kanonische Werke, während die Neuanordnung und die textlichen Varianten ihrer Versionen in Vesoul auf die Fähigkeit und Bereitschaft der Kompilatoren kanonischer Sammlungen hinweisen, weltliche Aussagen so zu bearbeiten, dass sie in ihre neuen Kontexte passen.

S. Meeder


Literatur:
Fournier P 1926
de Clercq C 1936
Asbach, Franz Bernd: Das Poenitentiale Remense und der sogen. Excarpsus Cummeani: Überlieferung. Quellen und Entwicklung zweier kontinentaler Bußbücher aus der 1. Hälfte des 8. Jahrhunderts, unveröff. Diss., Univ. Regensburg, 1975
Mordek 1995, 894-898
Koal 2001
Ubl 2008
Breternitz 2020

Empfohlene Zitierweise
Sven Meeder, Handschrift des Monats Juli 2022: Kapitularienauszüge in einer Kirchenrechtssammlung – Vesoul, BM, 79 (73), in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/handschrift-des-monats-juli-2022/ (abgerufen am 19.03.2024)