Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Handschrift des Monats Mai 2023: Glossen in Vatikan Pal. Lat. 582 – geplante Indizes oder Benutzerspuren?

Die sogenannte Collectio Senonica (vgl. Mordek 2000, S. 45-46) stellt zweifellos eine der bedeutendsten bekannten Kapitulariensammlungen dar. Die Bedeutung dieser Sammlung ist nicht zuletzt auf den enormen Umfang des überlieferten Materials zurückzuführen – die Sammlung enthält etwa 60 Kapitularien aus der Zeit zwischen ca. 750 und 884. Ein Überlieferungszeuge dieser Sammlung – Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. Lat. 582 – wurde wohl in der 1. Hälfte des 10. Jahrhunderts zusammengetragen, Hubert Mordek zufolge vermutlich in Nord(ost)frankreich (vgl. Mordek 1995, S. 780). Es wurde versucht, Material aus verschiedenen Vorlagen bzw. Teilsammlungen möglichst chronologisch zu ordnen. Identifiziert werden können mindestens drei solcher Teilsammlungen (vgl. auch: Blogpost des Monats Februar 2021). Abgesehen von einer Zusatzlage zu Beginn der Handschrift (foll. 1-4) und Nachträgen zur Sammlung auf den letzten Lagen (ab fol. 153v) wurde die Handschrift von zwei Schreibern – von Erich Tscharf als B und C bezeichnet – verfasst. Folgt man der Identifikation der Hände von Tscharf, war C für mehr als drei Viertel der Kernsammlung verantwortlich und dürfte somit als Hauptschreiber bezeichnet werden.

Der von B und C verfasste Kapitularienteil unserer Sammlung enthält zahlreiche Marginalien, die überwiegend von eben diesen beiden Händen (B und C) stammen. Allein in der ältesten Teilsammlung des Vaticanus (foll. 5r-33r mit Kapitularien Pippins des Jüngeren und Karls des Großen) finden sich mehr als 50 knappe Glossen, die auf den Inhalt des nebenstehenden Kapitels verweisen. Hinzu kommen einige wenige Annotationszeichen sowie Korrekturen.

Abb. 1: Folio 15v von Vatikan, BAV, Pal. Lat. 582. (©UB Heidelberg).

Tscharf vermutet, dass „diese Marginalien die Funktion von Indices hatten, um dem Benutzer die Aufgabe des Auffindens der verschiedenen Rechtssätze zu erleichtern“ (Tscharf o.J., S. 17). Bei großzügiger Auslegung von Tscharfs These kann dieser wohl kaum widersprochen werden – es steht außer Frage, dass die kurzen Zusammenfassungen das Auffinden dieser Kapitel erleichterten. Tscharfs Ausführungen zu besagten Marginalien bleiben allerdings knapp – eine nähere Betrachtung scheint dementsprechend lohnend: Möglicherweise ergeben sich daraus Hinweise zur Nutzung der Rechtssammlung. Zudem stellt sich die Frage, in welchem Zusammenhang die Marginalien entstanden. Waren die Marginalen des Vaticanus bei Anlage der Sammelhandschrift bereits geplant, um die Nutzung der Handschrift zu erleichtern? Oder sind sie gar auf eventuelle Vorlage(n) der Handschrift zurückzuführen?

Letztere Vermutung muss als äußerst unwahrscheinlich betrachtet werden. Aus den ursprünglichen Teilsammlungen können die Marginalien schon deshalb nicht stammen, da sie sich in ähnlicher Form in allen Teilen des Vaticanus finden. Auch der Vergleich mit der Pariser Schwesterhandschrift (Paris, BnF Lat. 9654) zeigt, dass die Marginalien unserer Handschrift eigenständig von ihren Schreibern (bzw. Nutzern) verfasst wurden: Die Pariser Handschrift enthält zwar zahlreiche Annotationen bei verschiedenen Kapiteln (vgl. Blogpost des Monats August 2018), die so markierten Kapitel stimmen allerdings nicht mit denen des Vaticanus überein.

Waren die kurzen Notizen am Rand der Handschriftenseiten in Vatikan, Pal. Lat. 582 bereits bei Anlage der Handschrift geplante Indices, die zum Auffinden bestimmter Rechtssätze angelegt wurden, wie Tscharf zu vermuten scheint? Auch dies scheint sehr unwahrscheinlich. Gegen die Annahme, dass es sich um ein geplantes ‚Inhaltsverzeichnis‘ handelt, spricht, dass die annotierten Stellen zu unsystematisch und sporadisch bleiben.

Bei genauerer Betrachtung der Marginalien fällt auf, dass einige Kommentare identisch, andere zumindest sehr ähnlich formuliert sind. Die Bestimmungen, auf die sich diese Verweise beziehen, sind allerdings keineswegs in ihrem Inhalt identisch, sondern markieren lediglich verschiedene Rechtssätze zu ähnlichen Themengebieten. Die Annotatoren könnten also nur an ausgewählten Themen interessiert gewesen sein. Zur Überprüfung dieser Möglichkeit bedarf es eines genaueren Blicks auf die Marginalien. So wird beispielsweise sowohl BK 52 c. 2 (fol. 24r) als auch BK 64 c. 11 (fol. 26r) mit de latronibus markiert. Hinzu kommt BK 62 c. 11 (fol. 25r) mit der Glosse de latrone misso in meziban. Mehrfach finden sich vergleichbare Beispiele. Eine identische Kommentierung verschiedener Kapitel findet sich auch bei BK 52 c. 3 (fol. 24r) und BK 62 c. 16 (fol. 25r), zu denen es de testibus heißt; auf fol. 16r heißt es zu BK 41 c. 5 Nemini liceat servum suum dimittere, während auf fol. 17v BK 56 c. 1 mit Nemini liceat servum dimittere sine ratione certa zusammengefasst wird.

Abb. 1: Folio 17v von Vatikan, BAV, Pal. Lat. 582. Glossierung von BK 56 c. 1(©UB Heidelberg).

Insgesamt decken die annotierten Kapitel ein durchaus breites Spektrum verschiedener Inhalte ab: Auf fol. 9v wird BK 14 c. 18 annotiert, in dem die gerichtliche Zuständigkeit bei Vergehen von Klerikern behandelt wird. Die Auswahl von missi und scabini nach BK 40 c. 3 auf fol. 15r wird ebenfalls mit einer Glosse versehen. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass ein Großteil der markierten Kapitel vor Gericht verhandelte Streitigkeiten – etwa die (?) Haftung bei von Unfreien begangenen Delikten (foll. 16r und 17v bzw. BK 41 c. 5 und BK 56 c. 1) –, aber auch den Gerichtsprozess als solchen – etwa die Auswahl von Zeugen (fol. 20v bzw. BK 44 c. 11) oder die Ladung zu Gericht (fol. 16r bzw. BK 41 c. 6) – behandeln.

Auffällig ist zudem, dass die erste Lage des Kapitularienteils der Handschrift (Lage 2, foll. 5r-12v) mit Texten vornehmlich aus der Zeit Pippins des Jüngeren nur für zwei Kapitel Annotierungen aufweist. 14 der 16 Folioseiten bleiben unkommentiert. Hier finden sich im Vergleich also sehr wenige Marginalien. Anders sieht es im Teil mit den Kapitularien Karls des Großen aus, die auf fol. 11v beginnen: Von hier ab bis zum Ende der ersten Teilsammlung mitten in der 5. Lage auf fol. 33r finden sich bloß 12 weitere Seiten ohne zumindest eine Marginalie. War der Kapitularienteil Pippins vielleicht weniger interessant für die Annotatoren als derjenige Karls?

Wenngleich die Identifikation der Hände für die Marginalien nicht immer eindeutig möglich ist, entsteht für die hier betrachtete älteste Teilsammlung der Eindruck, dass die Schreiber überwiegend die von der jeweils anderen Hand erstellten Abschnitte kommentieren. Die für C charakteristischen offenen g-Schleifen sind vornehmlich/hauptsächlich in den Marginalien der von B geschriebenen Abschnitte zu finden, geschlossene g-Schleifen von B finden sich eher in den Annotationen der von C geschriebenen Teile. Die Marginalien können also kaum bereits während des Abschreibens entstanden sein.

Abb. 1: Folio 20v von Vatikan, BAV, Pal. Lat. 582. Mit geschlossener g-Schleife im Schriftspiegel und offener in der Annotation (©UB Heidelberg).

Doch entstanden sie in einem Korrekturdurchgang (oder Korrektur- und Kommentierungsdurchgang?) von der jeweils anderen Hand, oder handelt es sich um Spuren, die bei der tatsächlichen Nutzung der Handschrift entstanden? Der Vaticanus ist schließlich zweifellos eine Gebrauchshandschrift – Schreiber und (erste) Nutzer könnten durchaus identisch sein. Da es sich um eine Rechtssammlung handelt, kann es kaum überraschen, dass sie im Kontext von Rechtsstreitigkeiten konsultiert wurde. Da die Schreiber nicht nur gerichtsrelevante Delikte, sondern auch abstrakte Verfahrensfragen markierten, lässt vermuten, dass die Sammlung für einen Rechtsexperten angelegt wurde – um solche Experten wird es sich auch bei unseren Schreibern B und C gehandelt haben.

Erneut zeigt sich, dass sich durch einen genaueren Blick auf die Benutzerspuren (oder Annotierungen) einzelner Handschriften oft interessante Erkenntnisse zum Sitz im Leben einer Handschrift gewinnen lassen – auch wenn dabei meist mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet werden.

D. Leyendecker


Literatur:
Tscharf o.J.
Mordek 1995, 780-797
Mordek 2000
Dominik Trump, Handschrift des Monats August 2018
Sören Kaschke, Handschrift des Monats Februar 2021

Empfohlene Zitierweise
Dominik Leyendecker, Handschrift des Monats Mai 2023: Glossen in Vatikan Pal. Lat. 582 – geplante Indizes oder Benutzerspuren?, in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/handschrift-des-monats-mai-2023/ (abgerufen am 24.04.2024)