Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Handschrift des Monats August 2020: Straßburg, ehemalige Stadtbibliothek, † C. V. 6

Im deutsch-französischen Krieg von 1870 wurde die Stadtbibliothek von Straßburg durch den Beschuss deutscher Truppen zerstört. Damals verbrannte mit der Handschrift C. V. 6 ein wichtiger Zeuge für das weltliche und kirchliche Recht der Karolingerzeit. Nach der Rekonstruktion von Mordek bestand der Straßburger Codex aus der Lex Alamannorum, der Kapitulariensammlung des Ansegis, dem Excarpsus Cummeani, den Konzilskanones von Worms 868 (fragmentarisch) sowie zweier Werke des Paulinus von Aquileia (Brief an Haistulf von Mainz und Libellus sacrosyllabus episcoporum italiae von 794). Die Überlieferung des Ansegis wurde von Georg Heinrich Pertz für seine Kapitularien-Edition von 1835 benutzt, und zwar nach einer Transkription, die Christian Engelhard für ihn in Straßburg angefertigt hatte. Pertz druckte auch Schriftproben ab, die einen guten Eindruck von der spätkarolingischen Handschrift vermitteln. Während Pertz noch von einer Entstehung im elsässischen Kloster Schlettstadt ausging, sprach sich Mordek für die Herkunft aus der Kathedralbibliothek von Straßburg aus.

Abb.: Schriftprobe aus dem Straßburger Codex, angefertigt von Christian Engelhard (MGH LL 1, Tafel IV, 9 nach S. XXIV, ©dMGH).

Die Überlieferung des Ansegis weckte bereits das Interesse von Pertz. Vor allem für das vierte Buch, das in der Straßburger Handschrift vor den anderen Büchern stand, bemerkte er einen deutlich abweichenden Wortlaut. Zum Teil seien Sätze verändert, erweitert oder ganz weggelassen worden. Manche Kapitel seien so umgeschrieben worden, „dass sich Ansegis selbst kaum wiedererkannt hätte“. Dieser Umstand sei bereits dem Schreiber der Straßburger Handschrift aufgefallen, da er am Ende des vierten Buches einige besonders verunstaltete Kapitel in besserem Wortlaut nachgetragen hat. Pertz verzichtete daher auf eine vollständige Aufnahme aller Varianten in seine Ansegis-Edition. Gleichwohl druckte er unter der Sigle 6 eine Reihe von Lesarten aus der Straßburger Handschrift ab, die ein Bild von den Veränderungen geben.

In seiner Neuedition von Ansegis stellte sich Gerhard Schmitz die Frage, wie es zu dieser Verunstaltung des vierten Buches gekommen sein könnte. Schmitz beobachtete ein Cluster von Varianten in denjenigen Kapiteln, die aus der Aachener Gesetzgebung von 818/819 stammen (Ans. IV, 13-70=BK 139-141). Ferner stellte er fest, dass sich keine andere Überlieferung so weit vom Wortlaut des Ansegis entfernt hat wie die Straßburger Handschrift. Diesen Befund könne man laut Schmitz am besten durch eine Kontamination erklären, und zwar von einem Ansegis-Text mit dem Text einer Einzelüberlieferung der Kapitularien. Schmitz identifizierte eine Lesart der Straßburger Handschrift, die auf eine Einzelüberlieferung von BK 139 zurückgehen könnte:

Ans. IV, 14: De iniuriis sacerdotum vel quorumlibet ex clero in ecclesia factis

Straßburger Handschrift: vel-clero fehlt.

BK 139, c. 2: De iniuriis sacerdotum in ecclesiis factis

Die Auslassung in der Straßburger Handschrift entspricht genau der Einzelüberlieferung des Kapitulars. Schmitz folgert daraus: „Es spricht also alles dafür, einen Textbestand der Kapitularien Ludwigs anzunehmen, der vorne und hinten aus Ansegis ergänzt wurde: Das erklärt nicht nur die absonderliche Stellung des vierten Buches vor den Büchern 1-3, es erklärt, weshalb sich in c. 1-12 und in der zweiten Reihe so gut wie keine Abweichungen vom Ansegis-Text finden, es macht die massiven Veränderungen in den Kapitularien der Jahre 818/819 eher verständlich, es erklärt die Tatsache, daß ein Schreiber überhaupt in einem zweiten Arbeitsgang die fehlenden Kapitel nachtrug, und es erklärt weiter, weshalb im 4. Buch sich nirgendwo eine tragfähige Beziehung zu einer anderen Ansegis-Version herstellen läßt.“

Es ist jedoch fraglich, ob aus einer Variante solche weitreichenden Schlüsse gezogen werden können. Die Lesart besteht aus einer Auslassung und kann daher nur bedingt als eine gemeinsame Variante bewertet werden, zumal die Straßburger Handschrift durch viele Textlücken gekennzeichnet ist. Bei einem Vergleich der von Pertz genannten Varianten mit dem textkritischen Apparat der Neuedition von BK 139-141 sind keine weiteren Parallelen zutage getreten. Die Straßburger Handschrift steht sowohl innerhalb der Ansegis-Überlieferung als auch innerhalb der Überlieferung des Kapitulars einzigartig da. Eine sichere Zuordnung zu einer der beiden Überlieferungen wird dadurch erschwert, dass Pertz die Varianten nur in Auswahl angegeben hat. Dennoch scheint meines Erachtens mehr für eine Nähe zu Ansegis zu sprechen. Bei Ans. IV, 15 unterscheidet sich der Anfang sehr deutlich von BK 139:

Ans. IV, 15: De viduis, pupillis et pauperibus. Praecipimus, ut …

BK 139, c. 3: De viduis et pupillis et pauperibus. Ut …

Pertz gab an dieser Stelle keine Variante für die Straßburger Handschrift an, was doch merkwürdig wäre, wenn hier der Text des Kapitulars gestanden hätte. Noch eindeutiger ist die folgende Rubrik:

Ans. IV, 18: De homine libero, ut potestatem habeat, ubicumque voluerit, res suas dare et qualiter hoc facere debeat.

Straßburger Handschrift: De homine libero, qualiter res suas dare debeat.

BK 139, c. 6: Ut omnis homo liber potestatem habeat, ubicumque voluerit, res suas dare pro salute animae suae.

Hier entspricht die Straßburger Handschrift sicher der Ansegis-Überlieferung. Bei allen weiteren Rubriken, die sich bei Ansegis oft deutlich von der Einzelüberlieferung unterscheiden, hat Pertz keine Varianten der Straßburger Handschrift notiert. Man wird deshalb auch in diesen Fällen eine Übereinstimmung annehmen können. Insgesamt gibt es somit keine zwingenden Gründe, für die Ansegis-Überlieferung der Straßburger Handschrift eine Kontamination mit der Einzelüberlieferung anzunehmen.

Zuletzt sei noch auf einen merkwürdigen Befund hingewiesen. Bei Ans. IV, 23 (=BK 139, c. 11) überliefert die Straßburger Handschrift nicht den gesamten Text des Kapitels, sondern nur denjenigen Teil, der in der Vorlage (BK 134, c. 5) enthalten ist. Überdies bewahrt die Straßburger Handschrift an drei Stellen die Formulierung fiscus regis aus BK 134, c. 5, die in BK 139, c. 11 (=Ans. IV, 23) durch fiscus noster ersetzt worden ist. Hier muss es tatsächlich zu einer Kontamination gekommen sein. Aber womit? Zur Auswahl steht entweder die Einzelüberlieferung von BK 134, c. 5 oder die Ansegis-Version in Ans. IV, 74. Eine Entscheidung ist anhand der Varianten nicht zu treffen, da Ansegis die beste Überlieferung von BK 134 bietet und Pertz für die Straßburger Handschrift keine weiteren signifikanten Varianten nennt. (Die zweimalige Verschreibung von res mobiles zu res nobiles in der Straßburger Handschrift möchte ich nicht dazu rechnen, auch wenn sie an einer Stelle in der Ansegis-Handschrift P17 begegnet: Schmitz G 1996, S. 663).

Wir dürfen also annehmen, dass der Straßburger Schreiber recht eigenwillig mit seiner Vorlage umging, dass es aber keine zwingenden Belege für die Benutzung einer Einzelüberlieferung von BK 139-141 gibt. Diese Eigenwilligkeit zeigt sich an einer weiteren Umformulierung, bei der er den sachlichen Ton der Kapitularien verfehlte: „Und wenn sie (die Witwen, Waisen und Armen) von sich aus keine Zeugen stellen können, um ihre Prozesse zu führen, oder wenn sie das Gesetz nicht kennen, helfe der Graf ihnen und stelle ihnen einen so geschwätzigen Mann, der bloß ihre Stellvertretung übernimmt oder für sie spricht.“ (Et si testes per se ad causas suas quaerendas habere non potuerint vel legem nescierint, adiuvet illis comes et praestet illis tam loquacem hominem, qui tantummodo rationem eorum teneat vel pro eis loquatur.)

Karl Ubl


Zur Handschriftenseite (Beschreibung und Transkription nach Pertz)


Literatur:

Mordek 1988, S. 84 f. Anm. 81
Mordek 1995, S. 714-716
Schmitz G 1996, S. 184-188

Empfohlene Zitierweise
Karl Ubl, Handschrift des Monats August 2020: Straßburg, ehemalige Stadtbibliothek, † C. V. 6, in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/handschrift-des-monats-august-2020/ (abgerufen am 29.03.2024)