Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Handschrift des Monats November 2016: Berlin, SBPK, Savigny 1

Weitere Neufunde in einer Handschrift mit römischem Recht

Dass Handschriften mit römischem Recht auch für die Kapitularienforschung ergiebig sein können, hat schon der erste Neufund in der Handschrift Paris, BN, Lat. 4419 gezeigt, den wir an dieser Stelle im Juni präsentiert haben. Mit der in diesem Monat vorzustellenden Handschrift verhält es sich ähnlich, wie im Folgenden gezeigt werden soll.

Der Codex Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, Savigny 1 ist eine 149 foll. umfassende Pergamenthandschrift, die ins 10. Jahrhundert (nach G. Hänel) bzw. in das 2. Drittel des 9. Jahrhunderts (nach B. Bischoff) datiert wird. Sie enthält foll. 1r-147v die im frühen Mittelalter im Westen Europas am weitesten verbreitete und umfassendste Kompilation römischen Rechts, die Lex Romana Visigothorum, die unter dem Westgotenkönig Alarich II. zu Beginn des 6. Jahrhunderts promulgiert wurde. Auf dieses mächtige Kompendium, das zu Beginn aufgrund von Blattverlust mitten im Titelverzeichnis beginnt (in der Explanatio tituli zu CTh 2,4), folgen auf foll. 148r-149v gleich zwei Kapitularien, zum einen das Capitulare legibus additum Karls des Großen von 803 (BK 39), das in über 50 Handschriften überliefert ist, und zum anderen die Childeberti II decretio von 596 (BK 7), die in über 20 Codices zu finden ist.

Schon der Editor des westgotischen Römerrechts, der Leipziger Rechtsprofessor Gustav Hänel (1792-1878), hat in seinem der Edition vorgeschalteteten Handschriftenkatalog die Berliner Handschrift genannt und bereits erwähnt, dass auf die Lex zum einen ein “Capit. circ. ann. 803” und ein “Decretum Childeberti regis circiter ann. 595” folgt. Trotz dieses bereits 1849 erschienenen, ziemlich deutlichen Hinweises nennen weder Alfred Boretius im ersten Band seiner Kapitularienedition noch Hubert Mordek in seiner “Bibliotheca capitularium” den Berliner Codex. Folglich hat Boretius die Handschrift auch nicht für seine Edition herangezogen. In der von Wilhelm August Eckhardt 1967 besorgten Edition der Childeberti II decretio sucht man die Handschrift ebenfalls vergeblich.

Es lohnt sich daher, einen Blick in die Handschrift zu werfen:

Abb.: Berlin, SBPK, Savigny 1, fol. 148r (©SBPK Berlin)

Der obige Ausschnitt zeigt den Beginn des Capitulare legibus additum auf fol. 148r. Der Text des Kapitulars beginnt mit der Nummerierung und der Kapitelüberschrift zum ersten Kapitel. Laut der Edition von Boretius ist dies das einzige Kapitel, das eine Überschrift trägt. Das Kapitular wird vollständig geboten, d. h., dass alle 11 Kapitel vorhanden sind. Auffällig ist, dass nur die Kapitelnummern I bis V den Zusatz cap(itulum) tragen, die anderen Nummern stehen für sich allein. Gezählt wird das Kapitular von I bis X, da cc. 10 und 11 unter X subsumiert werden, wobei die Reihenfolge von cc. 10 und 11 vertauscht ist. Eine weitere Auffälligkeit dieses Textes ist, dass ein Korrektor nicht unerheblich in den Text eingriff und ihn verbesserte, wie man gut an den Rasuren, Durchstreichungen und übergeschriebenen Buchstaben erkennen kann.

Abb.: Berlin, SBPK, Savigny 1, fol. 149r (©SBPK Berlin)

Im Anschluss an das Capitulare folgt eine Auswahl aus der Childeberti II decretio, deren vollständige Fassung aus 14 Kapiteln besteht. Hier sind die cc. 6-13 sowie anschließend cc. 4 und 3 exzerpiert worden. Eine Besonderheit ist hier, dass nach c. 6 mit der Überschrift DE FARFALIIS die cc. 7-13 unter der Rubrik von c. 7, DE LATRONIBUS, subsumiert werden. Boretius gibt in seiner Edition im Übrigen überhaupt keine Überschriften für die Kapitel an. Das vierte und dritte Kapitel sind ebenfalls mit Überschriften versehen, zum einen DE RAPTORES (!), zum anderen DE REBUS INIUSTE INTERCIATAS (!).

Insbesondere bei der Childeberti II decretio sind zahlreiche Abweichungen vom Text der Editionen von Boretius und Eckhardt zu verzeichnen. Die beiden neu- bzw. wiederentdeckten Stücke bereichern somit in besonderem Maße das vielgestaltige Bild der handschriftlichen Überlieferung der Kapitularien. Das den beiden Kapitularien direkt vorausgehende römische Recht der Lex Romana Visigothorum verleiht ihnen dabei gleichsam eine besondere Autorität.

D. Trump

 


Zur Handschriftenseite (Beschreibung nach Mordek und Transkription)


Referenzen:
Beschreibung der Handschrift Berlin, SBPK, Savigny 1 und Blogpost zum Fund auf den Seiten der Bibliotheca legum
Bischoff 1998, S. 93-94
Boretius 1883, S. 15-17, 111-114
Eckhardt W 1967
Hänel 1849, S. LXVII-LXVIII
Mordek 1995, S. 1062

Empfohlene Zitierweise
Dominik Trump, Handschrift des Monats November 2016: Berlin, SBPK, Savigny 1, in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/hdm-berlin-savigny-1/ (abgerufen am 22.12.2024)