Ein Kapitel mitten in einem Werk Isidors von Sevilla
Dass sich Kapitularientexte an den entlegensten Orten verbergen können, zeigt die Handschrift Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Reg. Lat. 191 (Wilmart 1937, S. 452-458; Pezé 2018, S. 221-222), die in die zweite Hälfte des 9. Jahrhunderts datiert und aus Reims stammt (Bischoff 2014, S. 424). Auf den ersten Blick lässt sie nicht an Verlautbarungen der fränkischen Herrscher denken. In ihr enthalten sind nämlich u.a. Werke vieler bekannter Autoren des frühen Mittelalters, so Isidor von Sevilla, Alkuin oder Hinkmar von Reims (Pezé 2018).
Mitten in Isidors Werk De ecclesiasticis officiis befindet sich ein verkehrt herum hinzugebundenes Einzelblatt (fol. 29) von kleinerem Format als der Rest der Handschrift. Während die Recto-Seite leer geblieben ist, stehen auf der Verso-Seite zwei kurze Texte. Zum einen ein Zusatzkapitel zum zweiten Buch von Isidors De ecclesiasticis officiis, und zwar eine Stelle aus seinen Etymologiae (VII 12,29-30; Cerlini 1946, S. 137; Lawson 1989, S. 29*, 73). Zum anderen – von anderer Hand zu einem späteren Zeitpunkt ergänzt – c. 4 der Capitula legibus addenda (Boretius 1883, Nr. 139, S. 281) von 818/819. Der Text ist nicht weiter auffällig und von guter sprachlicher Qualität. Bemerkenswert sind aber zum einen die Rubrik des kurzen Kapitels und zum anderen die am rechten Seitenrand stehenden, von der Hand des Kapitelschreibers stammenden tironischen Noten.
Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Reg. Lat. 191, fol. 29v (©Biblioteca Apostolica Vaticana)
Die Rubrik ist aus zwei Teilen zusammengesetzt: der erste ist die zu erwartende Überschrift des Kapitels ([.]E RAPTU UIDUARUM), der zweite verweist auf den Herrscher und die Adressaten, nämlich Kaiser Karl an alle Christen (KAROLUS IMPERATOR OMNIBUS CHRISTIANIS). Der zweite Teil ist besonders interessant: mit Kaiser Karl ist wohl Karl der Große gemeint. Die Capitula legibus addenda entstanden allerdings unter seinem Sohn, Ludwig dem Frommen. Die Wendung OMNIBUS CHRISTIANIS ist im Kontext von Kapitularien generell eher ungewöhnlich, erinnert allerdings an die berühmte Admonitio generalis (BK 22; Glatthaar 2013a), bei der die Kapitel ebenfalls mit der Nennung von Adressaten eingeleitet werden (z.B. Omnibus, Episcopis etc.).
Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Reg. Lat. 191, fol. 29v (©Biblioteca Apostolica Vaticana)
Die tironischen Noten am Seitenrand las Aldo Cerlini als Obserua in modum brevis (Cerlini 1946, S. 125 und Tafel 1). Sein – ausdrücklich als solcher bezeichneter – Vorschlag muss allerdings korrigiert werden. Es steht dort nämlich – in ziemlich grobem Duktus – obseruare iussit, wobei obseruare in drei Teile zerlegt ist (ob–seru–are). Beschlossen wird die Notiz durch ein Semikolon. Dem Schreiber war es also wichtig zu betonen, dass die Bestimmung des Kapitels befolgt werden sollte, weil er – der Kaiser – es befohlen hatte. Die tironischen Noten kann man somit als Ergänzung zur Rubrik verstehen, wozu auch das abschließende Semikolon passt, das den Übergang zum Text des Kapitels deutlich macht.
Hubert Mordek verzeichnet die Handschrift in seiner Bibliotheca capitularium (Mordek 1995) nicht. Die vorangehenden Ausführungen wären daher nicht möglich gewesen, wenn uns Dr. Martin Hellmann nicht auf den Reginensis aufmerksam gemacht hätte. Dafür sei ihm herzlich gedankt!
Dominik Trump
Zur Handschriftenseite (Beschreibung und Transkription)
Literatur
Boretius 1883
Wilmart 1937
Aldo Cerlini, Una scuola francese di tachigrafi nel secolo IX, in: Miscellanea Giovanni Mercati 6: Paleografia – Bibliografia – Varia (Studi e Testi 126), Vatikan 1946, S. 122-146.
Isidor von Sevilla, De ecclesiasticis officiis, ed. Christopher M. Lawson (CCL 113), Turnhout 1989.
Mordek 1995
Glatthaar 2013a
Bischoff 2014
Warren Pezé, Une confession inédite d’Hincmar de Reims dans un manuscrit du Vatican, in: Pierre Chambert-Protat / Jérémy Delmulle / Warren Pezé / Jeremy C. Thompson (Hg.), La controverse carolingienne sur la prédestination. Histoire, textes, manuscrits. Actes du colloque international de Paris des 11 et 12 octobre 2013 (Collection Haut Moyen Âge 32), Turnhout 2018, S. 221-248.