Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Handschrift des Monats Juni 2017: Berlin, SBPK, Phill. 1737

Auch mittelalterliche Kopisten waren nur Menschen und insofern der gelegentlichen Erleichterung ihrer Arbeit nicht abgeneigt. So auch im Falle der Schreiber eines unbekannten ostfranzösischen Skriptoriums im 10. Jahrhundert, die mit der Aufgabe konfrontiert waren, eine Kopie der erweiterten Kapitulariensammlung des Ansegis anzufertigen: Anstatt ihre Vorlage – eine Handschrift, wie sie ähnlich auch dem Fuldaer Schreiber des Codex Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek, Cod. 141 a in scrinio vorgelegen haben dürfte – brav von Anfang bis Ende abzuschreiben, erinnerte sich einer der Beteiligten offenbar daran, dass es im Bestand ihres Skriptoriums ein erst kurz zuvor angefertigtes Heftchen von drei Lagen mit den Kapitularien BK 138-141 gab. Konnte man nicht, da alle diese vier Kapitularien Ludwigs des Frommen auch in der Ansegis-Sammlung enthalten waren, dieses Heftchen auflösen und seine 16 Blätter für die neue Ansegis-Kopie verwenden? Dafür mussten zwar die alten Kapitularientitel beseitigt, die Kapitelzählung angepasst sowie Rubriken aus Ansegis ergänzt werden. Aber auf diese Weise ließ sich immerhin gut ein Viertel der Schreibarbeit einsparen – und dass, ohne den Textbestand der eigenen Bibliothek dadurch effektiv zu verringern.

Abb. Berlin, SB, Phill. 1737, fol. 1r: Durchgestrichener Titel von BK 138 und ergänzte Kapitelrubrik als nunmehr Ansegis 1, c. 77 (©Staatsbibliothek zu Berlin – PK).

Tatsächlich wurde der Plan so ausgeführt, auch wenn die daraus resultierende heutige Gestalt des Codex Berlin, Staatsbibliothek, Phill. 1737 das Ergebnis nicht mehr genau wiedergibt. Denn zwischenzeitlich ging der Beginn der Ansegis-Sammlung bis zum Einsetzen des ersten der vier „alten“ Kapitularien, BK 138, verloren und zudem wurde die fremde Lage einer älteren Cassiodor-Handschrift des 9. Jahrhunderts als fol. 38-43 vor den Beginn der Appendices zu Ansegis eingeheftet. Immerhin lässt sich noch gut erkennen, wo der Text von BK 141 auf der Recto-Seite des letzten Blatts (heute fol. 37) des ursprünglichen Heftchens endete und die neuen Schreiber daran den Schluss des vierten Buchs der Ansegis-Sammlung anfügten.

Abb. Berlin, SB, Phill. 1737, fol. 37r: Übergang von BK 141 zu Ansegis 4, c. 71 [hier irrig LXXXI statt LXXI] (©Staatsbibliothek zu Berlin – PK).

Gerhard Schmitz hat bereits die große Nähe der im Berliner Codex gebotenen Ansegis-Fassung zu jener des Hamburger Codex dargelegt (Schmitz G 1996, S. 198f.). Dieser Befund wurde jüngst von Steffen Patzold für die in beiden Handschriften der Ansegis-Sammlung als Erweiterung angeschlossenen sogenannten „Wormser Kapitularien“ (BK 191-193 und 188) bestätigt: Diese Kapitularien liegen hier jeweils in einer besonderen Gestalt vor, die noch im Frühjahr 829 wohl in Aachen entstand, bevor die jeweiligen Texte im Sommer in Worms revidiert und in ihre endgültige Form gebracht wurden (Patzold 2014).

Auch hinsichtlich des wiederverwendeten Heftchens mit den vier früheren Kapitularien lassen sich nun erste Verbindungslinien zu anderen Handschriften ziehen. Denn von den 43 Handschriften, in denen sich mindestens eines der vier Stücke erhalten hat, bieten nur fünf alle Stücke zusammen und in der Reihenfolge BK 138 – 139 – 140 – 141. In zweien dieser Handschriften stellen die vier Stücke jeweils die einzigen enthaltenen Kapitularien überhaupt dar, in den beiden anderen sind sie zumindest nicht von weiteren Stücken Ludwigs des Frommen umgeben. Dies macht es wahrscheinlich, dass sie den Schreibern des Berliner Codex tatsächlich in Form eines eigenen Heftchens, mindestens aber als isolierter Textblock vorgelegen haben dürften.

Neben dem Berliner Codex handelt es sich bei diesen fünf Handschriften um einen Codex aus Montpellier (Bibliothèque Interuniversitaire (Section Médecine), H 136) sowie um drei heute in der Bibliothèque Nationale in Paris befindliche Codices (Lat. 4280a, Lat. 4626, Lat. 18238). Bei der Editionsarbeit haben sich zumindest für BK 139 bereits Indizien ergeben, wonach der Berliner Codex eine direkte Abschrift des Codex Paris Lat. 18238 sein könnte. Beim gleichen Stück gibt es ferner Indizien für eine Gruppe von sechs Handschriften, die auch drei der hier betrachteten Codices einschließt, nämlich Montpellier 136 sowie Paris Lat. 4626 und Lat. 4280a. Ob alle Kapitularien derartige Verbindungen aufweisen und sich die Fünfergruppe damit als eigene kleine Sammlung in der Überlieferung der Kapitularien Ludwigs des Frommen bestätigen lässt, wird sich im weiteren Verlauf des Editionsprojekts noch zeigen müssen.

S. Kaschke


Zur Handschriftenseite (Beschreibung nach Mordek und Transkription)



Literatur:
Rose 1893, Nr. 162, S. 354-357
Christ 1937, S. 305-307
Schmitz G 1991, S. 89f.
Mordek 1995, S. 50-55, 617
Schmitz G 1996, S. 81-83, 197-199
Patzold 2014, S. 71-79

Empfohlene Zitierweise
Sören Kaschke, Handschrift des Monats Juni 2017: Berlin, SBPK, Phill. 1737, in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/handschrift-des-monats-juni-2017/ (abgerufen am 05.11.2024)