Der handliche und eher unscheinbare Codex hat eine bewegte Vergangenheit: Von seinen 146 Blättern waren 119 ehemals Teil eines lateinischen Psalters, der wohl bereits zu Anfang des 8. Jahrhunderts in Verona geschrieben wurde (Schneider, Palimpsest-Psalter S. 367). Dieser ältere Text wurde, vermutlich nach der fränkischen Eroberung des Langobardenreiches und unter dem Einfluss der karolingischen Liturgiereform, nach dem Wortlaut des Psalterium Gallicanum korrigiert (Schneider, Palimpsest-Psalter S. 376 f.). Das Ergebnis war aber offenbar nicht sonderlich zufriedenstellend, denn der gesamte Text wurde teils abgewaschen, teils radiert und das Pergament danach wiederbeschrieben. Heute findet sich in der Handschrift eine Kopie der Leges Langobardorum von mehreren Händen in einer Minuskel der 2. Hälfte des 9. Jahrhunderts.
Abb. 1: Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat. Lat. 5359, fol. 77r ©BAV, Titelverzeichnis zu Liutprandi leges (MGH LL 4 S. 103) mit dem noch gut sichtbaren palimpsestierten Psaltertext.
An das Langobardenrecht schließt auf fol. 142v-146r ein zeitnaher Nachtrag von zwei verschiedenen Händen mit zwei Kapitularien Kaiser Lothars an, dem Capitulare Papiense (832, BK 201) und dem Capitulare Olonnense mundanum (825, BK 165).
Abb. 2: Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat. Lat. 5359, fol. 142v ©BAV, Beginn des Kapitulariennachtrags (BK 201 c. 1).
Letzteres ist nur fragmentarisch erhalten, da zwischen fol. 145 und fol. 146 zwei Blätter herausgeschnitten wurden (Moschetti 1954 S. 24 und Mordek 1995 S. 882). Der Text beginnt auf fol. 145v mit einer Rubrik und setzt auf fol. 146r mit c. 10 wieder ein. Die nur hier überlieferte Rubrik bricht mitten im Wort ab: CAPITULA DATA HOLONA PALATIO PLACIT (sic) GENERALE ANNO IMPE-. Die mit dem Blattverlust verlorengegangene Datierung kann aus dem erhaltenen Textrest leider nicht mehr rekonstruiert werden, was umso bedauerlicher ist, als keine der übrigen erhaltenen Überlieferungen des Kapitulars eine Datierungsangabe enthält.
Doch ist dies nicht die einzige Besonderheit, mit der die Kapitularienüberlieferung aufwarten kann. Das Capitulare Papiense besteht größtenteils aus Exzerpten aus Kapitularien Karls des Großen oder Ludwigs des Frommen, die Lothar 832 um einige wenige eigene Kapitel anreicherte und mit Zustimmung der Großen des Regnum Italiae erneut verkünden ließ. Nur in der Handschrift aus Verona wurden einzelnen Kapiteln Hinweise auf den jeweiligen Aussteller beigegeben. Diese „Quellenangaben“ stehen mal vor, mal nach den betreffenden Kapiteln und sind allesamt korrekt:
Kapitel von BK 201 | Quelle | Angabe des Gesetzgebers in Vat. Lat. 5359 |
c. 3 | (von Lothar neu hinzugefügtes Kapitel) | Domnus Hlotharius (-ius korr. aus –isus) nachgestellt |
c. 6, 7 | Capitulare missorum in Theodonis villa datum secundum, generale 805 (BK 44) c. 10, 16 | Dom(ni) Karli (i korr. aus o) zwischen den beiden Kapiteln; Bezug unklar |
c. 8 | Capitula legibus addenda 818/819 (BK 139) c. 16 | Dom(ni) Hlodouuici vorangestellt |
c. 9 | Capitula legibus addenda 818/819 c. 18 | Dom(nus) Hlodouuicus vorangestellt |
c. 10 | Capitula legibus addenda 818/819 c. 19 | Dom(nus) Hlodouuicus nachgestellt |
c. 11 | Capitulare Olonnense 823 (BK 157) c. 6 | Dom(ni) Hlohtarii vorangestellt |
c. 12, 13 | (von Lothar neu hinzugefügte Kapitel) | jeweils Dom(ni) Hlotharii vorangestellt |
Abb. 3: Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat. Lat. 5359, fol. 145r ©BAV, BK 201 c. 9 (Ende) – c. 13 (Anfang) mit „Quellenangaben“.
Offenbar hatte der Kompilator der Sammlung also auch Zugriff auf weitere Kapitularienabschriften, mit denen er den Text vergleichen und so die Quellen, aus denen die Exzerpte genommen wurden, identifizieren konnte. Das lässt auf eine beachtliche Kenntnis zeitgenössischen Rechts schließen, und es passt gut zu den Erkenntnissen, die Guiscardo Moschetti aufgrund einer Analyse des in derselben Handschrift überlieferten Langobardenrechts gewann: Die Kommentare und Zusätze, die der Kompilator dort hinterließ, deuten auf einen juristisch gebildeten Kleriker hin, der vermutlich an der Kathedralschule von Verona tätig war. Der Kompilator arbeitete den Text auch an einigen Stellen um; im Teil mit den Kapitularien lässt sich dies z. B. an der Rubrik zum Capitulare Papiense beobachten: Die Rubrik des ersten Kapitels, De ęclęsiis emendandis, wurde hier noch vor die Überschrift des Gesamtkapitulars ganz an den Anfang gezogen, und der Beginn der Überschrift, Hec sunt [capitula], durch die für den Kompilator typische Standardeinleitung Incipit ersetzt (vgl. oben Abb. 2).
In einem gewissen Kontrast zu dieser Kommentierung und redaktionellen Bearbeitung steht jedoch die Textqualität der Handschrift. Schon Carlo Baudi di Vesme und Friedrich Bluhme, die den Codex für ihre Editionen der Leges Langobardorum benutzten, urteilten, die Schreiber des Codex seien „nachlässig und unerfahren“ gewesen (Baudi di Vesme 1855 S. XXVIII; Bluhme, Edictus Langobardorum S. XXIV f.). Ein großer Teil der stilistischen Auffälligkeiten lässt sich aber mit regionalen Besonderheiten der gesprochenen Sprache erklären, die auch in anderen italienischen Handschriften der Zeit zu beobachten und daher nicht den Schreibern persönlich anzulasten sind (z. B. fehlendes t am Ende von Verben in der 3. Person Singular, besonders im Konjunktiv: facia; Weglassen des anlautenden h: abere, eredes; Assimilation von g: renno statt regno; Verwendung von Doppelkonsonanten: tullerit etc. Baudi di Vesme 1855 S. XXVIII f.; Bluhme in Pertz 1824-1825 S. 241–243; Moschetti 1954 S. 127–139; vgl. dazu auch Löfstedt 1961). Es sind jedoch auch viele Flüchtigkeitsfehler darunter (z. B. captolis, contructa, ban, antequa), und das Schriftbild ist auffallend unregelmäßig. Im Teil mit den Kapitulariennachträgen wechseln sich die beiden Nachtragshände dazu noch oft nach jeweils nur kurzen Textpassagen ab (die erste Nachtragshand, die auf fol. 142v Z. 16 einsetzt, schrieb nur bis 143r Z. 17 und übernahm danach jeweils noch einige wenige Zeilen auf fol. 144v Z. 18-22 und 145r Z. 8-9; vgl. oben Abb. 3). Beides lässt sich vielleicht am besten mit der Vermutung Moschettis erklären, der annahm, die Abschrift sei von Schülern der Kathedralschule angefertigt worden (Moschetti 1954 S. 230).
Trotz des unprofessionellen Eindrucks, den die Handschrift wegen ihrer Textgestalt und des Schriftbildes erwecken kann, handelt es sich bei ihr um ein sehr frühes Zeugnis eines reflektierten Umgangs mit Rechtstexten, der im 11. Jahrhundert schließlich in die systematisch geordneten Sammlungen von Langobarden- und Kapitularienrecht mündete, welche unter der Bezeichnung Liber legis Langobardorum bzw. Liber Papiensis bekannt sind.
B. Mischke
Zur Handschriftenseite (Beschreibung nach Mordek und Transkription)
Literatur:
Bluhme in Pertz G 1824-1825 S. 239–247
Baudi di Vesme 1855 S. XXVIII–XXIX
Bluhme, Friedrich, Edictus Langobardorum, in: MGH LL 4, Hannover 1868, S. IX-XLVI, 1-225
Schneider, Heinrich, Der altlateinische Palimpsest-Psalter in Cod. Vat. lat. 5359, in: Biblica 19 (1938) S. 361-381
Moschetti 1954
Löfstedt 1961
Mordek 1995