Der Liber legum des Lupus, Teil 2
Das bedeutende Rechtskompendium des Gothanus (10./11. Jh., Mainz) und seine Besonderheiten waren bereits schon einmal Thema unserer Rubrik „Handschrift des Monats“. In diesem Beitrag steht ein weiterer Aspekt dieser inhaltsreichen Kompilation im Mittelpunkt, nämlich die in ihr enthaltene Kopie des so genannten Liber legum des Lupus. Oliver Münsch hat dieses von einem gewissen Lupus für den Markgrafen Eberhard von Friaul zusammengestellte Rechtsbuch eingehend untersucht (Münsch 2001). Allgemein wird angenommen, dass es sich bei der Kopie in der Gotha-Handschrift um eine Schwesterüberlieferung der in der Handschrift Modena O. I. 2 tradierten Fassung des Liber legum handelt.
Der Gothanus überliefert das Rechtsbuch des Lupus im Kontext einer umfangreichen Sammlung von weltlichen Rechtstexten. Einige von ihnen wurden sogar doppelt aufgenommen; so ist die Kapitulariensammlung des Ansegis in zwei Fassungen vertreten (Schmitz G 1996 S. 87-91), und auch die Leges Langobardorum sind zweimal vorhanden, wobei eine der beiden die im Liber legum enthaltene und von Lupus redaktionell bearbeitete Fassung ist (Concordia de singulis causis). Der Codex wurde zwar in vier kodikologisch unterscheidbaren Teilen angelegt (im Folgenden: Teile I-IV), allerdings lässt das einheitliche Layout erkennen, dass die Zusammenführung der Teile von Beginn an geplant war (Buchner 1940 S. 65). Die Doppelung mancher in die Sammlung aufgenommener Texte ist also nicht erst dadurch zustande gekommen, dass zunächst voneinander unabhängige Lagen nachträglich zusammengebunden wurden; vielmehr scheinen die einzelnen Teile in unterschiedlichen Arbeitsschritten und wohl auch unter Rückgriff auf verschiedene Vorlagen ausgeführt worden zu sein.
Lupus‘ Liber legum ist in der Handschrift aus Gotha nicht, wie im Modeneser Codex, zusammenhängend überliefert, sondern in zwei Blöcken, die sich auf die Teile II und IV verteilen. Dabei findet sich der Beginn (allerdings ohne die beiden Gedichte, in denen Lupus als Verfasser und Eberhard als Empfänger des Rechtsbuches genannt werden) bis zum Ende des ersten Abschnittes, der die Kapitularien Karls des Großen und seines Sohnes Pippin von Italien enthält, in Teil II (foll. 148ra-225va), und die Fortsetzung mit den Lothar zugeschriebenen Kapitularien erst in Teil IV. Letztere sind allerdings wiederum auseinandergerissen worden und finden sich auf den foll. 396rb-406rb sowie 406va-409va. Dabei weicht die Reihenfolge der Texte von derjenigen in der Modena-Handschrift ab. Zudem wurden zusätzliche Kapitel eingefügt, die in der Schwesterhandschrift fehlen.
Die folgende Übersicht listet Gemeinsamkeiten und Abweichungen zwischen dem Gothanus (G) und dem Modenensis (Mo) in dem die Kapitularien Lothars enthaltenden Teil des Liber legum auf:
Die Unterschiede zwischen den Kopien des letzten Abschnittes des Liber legum in den beiden Überlieferungszeugen sind also erheblich. Darüber hinaus gibt es auch keinerlei Hinweise darauf, dass diese in Teil IV des Gothanus enthaltenen Texte vom Kopisten als eine Fortführung des in Teil II enthaltenen ersten Abschnittes des Liber legum verstanden wurden. Weder zu Beginn der Episcoporum ad Hludowicum imperatorum relatio (BK 196) auf fol. 396rb noch an der Stelle, an der nach Mordek 1995 S. 145 die „Fortsetzung des Lupusschen Liber legum von Teil II“ beginnen soll (fol. 406va, BK 157) ist ein Einschnitt oder gar irgendein Verweis auf die Kopie in Teil II zu erkennen.
Auch die Auswahl der in Teil IV ebenfalls enthaltenen Texte hilft nicht weiter bei der Suche nach einer Erklärung, warum man den letzten Abschnitt des Liber legum erst an dieser Stelle platzierte: Am Anfang von Teil IV befindet sich die zweite der im Gothanus enthaltenen Kopien der Leges Langobardorum, und zwar diejenige, die nicht auf die Redaktion des Lupus zurückgeht (foll. 339ra-376rb). Auf diese folgt eine Version der Collectio Ansegisi, in der zunächst Kopien der Kapitularien Ludwigs des Frommen aus einer Einzelüberlieferung der Texte in einer mit dem entsprechenden Ansegis-Text vermischten Version und danach die um ebendiese Ludwigs-Kapitularien reduzierte, ‚reine‘ Ansegis-Version folgen, deren Ursprung in Italien liegt und die mit dem Fragment München lat. 29555/1 verwandt ist (Schmitz G 1996 S. 89, 173 f., 223 f.).
Will man daran festhalten, dass die Abschrift im Gothanus auf einer Vorlage basiert, die wie die Modena-Handschrift ausgesehen hat, dann muss man weiterhin auch annehmen, dass bei dieser Kopie der Text in zwei Teile gerissen wurde und dass man im zweiten Teil das Rubrikenverzeichnis wegließ, ganze Kapitularien hinzufügte und dazu noch die Reihenfolge der Texte veränderte. Nimmt man jedoch stattdessen an, dass die beiden Kapitularienabschnitte in Teil II und IV des Gothanus auf unterschiedliche Vorlagen zurückgehen, dann erübrigen sich solche umständlichen Prämissen. Die Hypothese der Verwendung zweier unterschiedlicher Vorlagen passt auch besser zum kodikologischen Befund der vier separat hergestellten Teile der Handschrift, denn zusammen mit dem mutmaßlich letzten Abschnitt des Liber legum sind in Teil IV ja auch die beiden ‚Zweitkopien‘ der Leges Langobardorum und der Collectio Ansegisi enthalten, die jeweils eine von den Kopien in Teil I bzw. II abweichende Textfassung bieten. In einem früheren Beitrag unseres Blogs wurde bereits die Vermutung ausgesprochen, dass es sich auch bei der Liber legum-Version aus Modena nicht zwingend um die Kopie einer um die Stücke Ludwigs des Frommen reduzierten Fassung des ursprünglich vollständigen Rechtsbuches des Lupus handeln müsse. Der Frage, welche Konsequenzen sich aus der Neubewertung der beiden Überlieferungszeugen des Liber legum ergeben, soll künftig an dieser Stelle weiter nachgegangen werden.
B. Mischke
Zur Handschriftenseite (Beschreibung nach Mordek und Transkription)
Literatur:
Buchner 1940, S. 65
Hauke 2013, S. 13-17
Mordek 1995, S. 131-149 und S. 369-376
Münsch 2001
Schmitz G 1996