Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Handschrift des Monats April 2019: Turin, Biblioteca Nazionale Universitaria, † Fragment

Eine postume Zusammenführung

Seit Erscheinen der Edition von Boretius – Krause sind nicht wenige neue Handschriften mit Kapitularienüberlieferungen bekannt geworden. Darunter finden sich auch einige Fragmente, die zwar naturgemäß nur bruchstückhafte Textauszüge bieten, aber dennoch höchst wertvoll für die Edition und Rezeptionsgeschichte eines Kapitulars sein können. Man denke beispielsweise an das Freiburger Fragment (Freiburg i. Br., Universitätsbibliothek, Fragm. 65; vgl. Mordek 1992) mit einem Auszug aus dem Liber legum des Lupus, das sich als der älteste Textzeuge dieses Rechtsbuches erwies, oder an das unverhoffte Auftauchen eines bisher unbekannten Fragmentes mit einem Auszug aus der berühmten Admonitio generalis Karls des Großen auf einer Londoner Auktion im Jahr 2017.

Das Fragment, das in diesem Beitrag im Mittelpunkt steht, ist allerdings nicht auf-, sondern abgetaucht: Es wurde im Jahr 1904 bei einem Brand in der Nationalbibliothek von Turin zerstört. Glücklicherweise beschrieb der italienische Historiker Carlo Cipolla, der das Einzelblatt 1883 in der Accademia delle Scienze in Turin entdeckte, seinen Fund ausführlich und fertigte eine sorgfältige Transkription des darin überlieferten Textes an. Zusammen mit einer Fotografie der Verso-Seite des Blattes können Inhalt und Aussehen des Fragmentes trotz seines Verlustes also recht genau rekonstruiert werden. Es tradierte das Ende (cc. 11-13 und den Epilog) des sogenannten Capitulare Papiense Kaiser Lothars aus dem Jahr 832 (BK 201) sowie den Anfang einer Kopie des Prologs und der cc. 1-2 (Anfang) der Concessio generalis desselben Herrschers von 823 (?) (BK 159), von einer anderen Schreiberhand.

Im Zuge der kritischen Neuedition des sogenannten Capitulare Papiense hat sich eine überraschende Entdeckung ergeben: Es handelt sich bei dem verlorenen Blatt um die Fortsetzung der Kopie des Kapitulars in der Handschrift Ivrea, Biblioteca Capitolare, XXXIV (Pavia, um 832), die auf ihren letzten Seiten vermeintlich nur einen Auszug, nämlich cc. 1-10, ebendieses Kapitulars enthält – der Textausschnitt des Turiner Blattes lässt sich also nahtlos hieran anschließen. Sowohl philologische als auch paläographische Übereinstimmungen der beiden Textbruchstücke untermauern die Hypothese einer Zusammengehörigkeit des Ivrea-Codex und des Fragmentes. Der Schreiber des Capitulare Papiense ist an einigen individuellen Gewohnheiten gut zu identifizieren: Er verwendete eine karolingische Minuskel mit Einflüssen der corsiva documentaria, die zahlreiche und zum Teil auffällige Ligaturen enthält (s. Abb. unten), und er schrieb das Wort comes auf eine sehr eigensinnige Weise, nämlich als commis. Diese und weitere Eigenheiten lassen sich sowohl in der Ivrea-Handschrift als auch in der Transkription und der Abbildung des Turiner Fragmentes bei Cipolla wiederfinden. Bereits der italienische Paläograph Ettore Cau hatte 1967 als Entstehungsort beider Handschriften das Hofskriptorium in Pavia ins Spiel gebracht, allerdings noch ohne eine Verbindung zwischen ihnen herzustellen. Die postume Zusammenführung der Handschrift mit dem ehemals dazugehörigen, verbrannten Blatt ist somit eine kleine Neuentdeckung der neuen Kapitularienedition (Mischke 2018).

 

Paläographische Besonderheiten, die sich in der Hs. Ivrea, BC, XXXIV sowie im zerstörten Turiner Fragment finden: ec-, ci-, ct-, li-, ro-Ligaturen, -orum-Kürzung.

Abb. oben: Ivrea, BC, XXXIV, Ausschnitte von fol. 166v-167v, ©Ivrea Biblioteca Capitolare/BEIC, CC BY 4.0; unten: Turin, † Fragment, Verso-Seite, aus Cipolla 1883.

B. Mischke


Zur Handschriftenseite (Beschreibung nach Mordek und Transkription)


Literatur:
Cipolla 1883
Cau 1967, S. 115
Mordek 1992
Mordek 1995, S. 178-185, 743
Mischke 2018

Empfohlene Zitierweise
Britta Mischke, Handschrift des Monats April 2019: Turin, Biblioteca Nazionale Universitaria, † Fragment, in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/handschrift-des-monats-april-2019/ (abgerufen am 18.04.2024)