Eine bekannte Kapitularienrezeption stellt der Liber Papiensis dar, der im ausgehenden 10. oder Anfang des 11. Jahrhunderts im Regnum Italiae entstand und das langobardische Edikt mit den fränkischen Kapitularien in einem Rechtsbuch vereinte. Der älteste bekannte Textzeuge ist die aus zwei Teilhandschriften bestehende Überlieferung der Mailänder Codices O. 53 sup. und O. 55 sup. Beide wurden zu Beginn des 11. Jahrhunderts wohl in Pavia von einem Notar Secundus geschrieben, der sich selbst in einem Kolophon auf fol. 75v des Codex O. 55 sup. nennt (Secundus notarius scripsit oc manus suas). Das Langobardenrecht ist in der Teilhandschrift O. 53 sup. enthalten, während sich die Kapitularien in O. 55 sup. befinden. Obwohl beide Teile erst nachträglich zu einem Codex verbunden wurden und heute wieder separate kodikologische Einheiten bilden, ist ihre Zusammengehörigkeit gut erkennbar. Sie wurden nicht nur größtenteils von derselben Hand geschrieben, sondern sind auch durch einen juristischen Kommentar, die Quaestiones ac monita, verbunden, der sich über beide Teile des Rechtsbuches erstreckt (MGH LL 4 S. 590–594, Additio II zum Liber Papiensis; Conrat 1891 S. 274–276; Radding 2007).
Der Kapitularienteil des Liber Papiensis ist, wie schon der vorangehende Teil mit dem Langobardenrecht, chronologisch nach Gesetzgebern geordnet. Dabei werden die Kapitel eines Herrschers jeweils in einem großen Block ohne Kapitelzählung zusammengefasst, so dass die einzelnen Kapitularien nicht mehr als separate Einheiten erkennbar sind. Mehr noch, die Sammler des Liber Papiensis wählten oft nur einzelne Kapitel aus und ergänzten die Kapitularienauszüge durch Material anderer Herkunft, wie etwa Exzerpte aus Konzilsakten. Welche Quellen ihnen zur Verfügung standen, ist noch nicht ausreichend erforscht worden; jedenfalls finden sich neben bekannten Texten auch einzelne Kapitel, die nur im Liber Papiensis überliefert sind und deren Herkunft unklar ist. Die einzelnen Handschriften des Liber Papiensis wurden zudem von den Kompilatoren individuell um weiteres Material angereichert. Die Mailänder Handschrift O. 55 sup. stellt dabei in zweifacher Hinsicht einen Sonderfall dar: Sie bietet zum einen als einzige der Liber Papiensis-Überlieferungen eine durchgehende Zählung der Kapitel innerhalb der Gesetzgeber-Blöcke, während die anderen Handschriften keinerlei Zählung aufweisen. Zum anderen tradiert sie eine 43 Kapitel umfassende Liste, die sich in keiner der anderen Überlieferungen findet (Edition in Pertz G 1835).
Diese 43 Kapitel-Liste (gezählt I-XLII, da das von Pertz als c. 4 edierte Kapitel ein unnummerierter Nachtrag am Rand von fol. 33v ist) umfasst Exzerpte aus Kapitularien, Konzilsbeschlüssen und dem römischen Recht. Sie bildet einen eigenen Block, der durch eine Rubrik einem Kaiser Ludwig zugeschrieben wird: Incipit capitula secundum Lodoici impepris. filius Lothari imper.
Abb.: Rubrik der 43 Kapitel-Liste. Mailand, Biblioteca Ambrosiana, O. 55 sup., fol. 33r (Ausschnitt). (@Biblioteca Ambrosiana)
Im Anschluss an Muratori (Scriptores 1, 2 S. 160) haben die meisten Forscher bis hin zu Pertz darin eine Zuschreibung an Ludwig II. gesehen. Boretius vermutete hingegen, der Sammler habe Ludwig den Frommen gemeint, da die Liste zwischen dem Kapitularienteil Pippins (fol. 25r–32v, gezählt cap. I–XLVIIII) und demjenigen Ludwigs des Frommen (fol. 40r–53r, gezählt cap. primo–LVIII) positioniert wurde (Boretius 1864 S. 193). Die Liste muss allerdings nach 850 entstanden sein, denn sie enthält als jüngsten Text ein Exzerpt aus dem Konzil von Pavia 850 (c. 3), was eher für Ludwig II. sprechen würde. Da die Kapitel der Liste bisher nur unvollständig identifiziert wurden (Boretius 1864 S. 193–195; Meyer-Marthaler, Lex Romana Curiensis S. XXVI Anm. 73), wird ihr Inhalt hier in einer tabellarischen Übersicht dargestellt:
Abb.: Identifizierung der Exzerpte in der 43 Kapitel-Liste.
Im Vergleich zu den Kapitularienblöcken der anderen Herrscher, die in der Mailänder Handschrift wie in den übrigen Handschriften des Liber Papiensis überliefert sind, fällt dieser aus dem Rahmen. Üblicherweise enthalten die Blöcke tatsächlich Kapitularien eines Herrschers, bei denen zwar eine Auswahl aus den Kapiteln getroffen wurde, diese aber ansonsten in derselben Reihenfolge wiedergegeben wurden, wie sie in der Quelle vorhanden waren. Zwar finden sich auch immer wieder einzelne falsch zugeordnete Kapitel oder Einsprengsel von fremdem Material wie Exzerpte aus den Leges oder dem Kirchenrecht, das Grundprinzip bleibt aber erkennbar. In der 43 Kapitel-Liste hingegen, die Ludwig II. zugeschrieben wird, finden sich nur zwei Kapitel, die definitiv aus dessen Regierungszeit stammen (c. 3: Konzil von Pavia 850 c. 20 und c. 26: Rescriptum der Bischöfe an Ludwig II. von 845–850, BK 210 c. 11). Bei zwei Kapiteln, die als Unikate in der Handschrift überliefert sind, ist eine Urheberschaft Ludwigs II. immerhin möglich (c. 2 und 10 = BK 168 c. 6 und 8). Zwei weitere sind erweiterte Fassungen früherer Kapitularien, die eventuell von Ludwig II. bestätigt und dabei umformuliert wurden – c. 12 und 37, die nur in einzelnen Handschriften des Liber Papiensis überliefert sind und dort in den Teil Ludwigs II. einsortiert wurden (z.B. in der Redaktion des Walcausus, Paris, BnF, Lat. 9656 und Wien, ÖNB, 471). Kapitel 12 stammt aus dem Schreiben der Bischöfe an Ludwig den Frommen von 829 (BK 196 c. 15), ist aber um einen Zusatz erweitert worden, der nur im Liber Papiensis überliefert ist (Extravagante 38, MGH LL 4 S. 589; Zusatz: et ideo non debemus – inprobandi simus). Das Kapitel befasst sich mit dem Besitz von Klerikern, der nach deren Weihe der Kirche zufallen sollte, was aber nicht immer beachtet wurde. Der Zusatz im Liber Papiensis fügt hinzu, dass bei einem Verdacht der Entfremdung von Kirchengut in diesem Zusammenhang nicht vorschnell geurteilt werden sollte. Auch bei c. 37 handelt es sich um ein inhaltlich abgewandeltes Kapitel Ludwigs des Frommen (BK 188 c. 2 = Extravagante 37, MGH LL 4 S. 589). In dieser abweichenden Fassung wird die Anwendung des Inquisitionsbeweises, die Ludwig der Fromme in Prozessen um Fiskalgut vorschrieb, auf solche um Kirchengut erweitert.
Alle übrigen Kapitel des Blocks sind jedoch Exzerpte aus Kapitularien der Vorgänger Ludwigs II. von Karl dem Großen bis zu Lothar I. sowie auffallend viele Auszüge aus Konzilsakten (17 von 43 Kapiteln). Nach welchen Kriterien diese Einzelkapitel ausgewählt wurden, ist nicht erkennbar, und sie sind noch nicht einmal in der Reihenfolge kopiert, in der sie innerhalb der jeweiligen Quelle standen (vgl. die Tabelle oben). Besonders auffällig wird dies an zwei Stellen: Kapitel 8 entspricht BK 201 c. 14, dem letzten Kapitel des Capitulare Papiense Lothars von 832, das in Form eines Epilogs resümiert, dass alle vorangehenden, aus den Kapitularien der Vorgänger exzerpierten Kapitel wie Gesetze beachtet werden sollten. Von diesen ist in der 43 Kapitel-Liste aber nur ein einziges ebenfalls aufgenommen worden, welches sich zudem erst an viel späterer Stelle in der Liste findet (c. 35 = BK 201 c. 3). Bei c. 2 ist Ähnliches zu beobachten: Es entspricht BK 100 c. 2 (von Boretius Pippin von Italien zugeschrieben, 800–810?), das verfügt: Wer das vorangehende Kapitel (hoc capitulo) missachtet, nachdem es bekannt gemacht wurde, soll den doppelten Königsbann entrichten und von einer Synode gemäß den Kanones verurteilt werden. Im originalen Kapitular war mit „diesem Kapitel“ BK 100 c. 1 gemeint (Priester dürfen nicht mit Frauen zusammenleben), in der 43 Kapitel-Liste folgt dieses Kapitel erst als c. 5. In beiden Fällen ist der ursprüngliche Zusammenhang zwischen den Kapiteln durch ihre getrennte Platzierung innerhalb der 43 Kapitel-Liste also nicht mehr erkennbar. Auch beim Kopieren der Liste in die Mailänder Handschrift scheint etwas in Unordnung geraten zu sein, wie sich an anderer Stelle zeigt: Vor c. 9 ist ohne eigene Zählung der fragmentarische Anfang des Capitulare de iustitio Ottos III. (996–1002, MGH Const. 1 S. 48, bis legis edictum) eingeschoben, das in derselben Handschrift auf fol. 75r–v noch einmal vollständig überliefert ist. Dabei handelte es sich offenbar um einen Irrtum, den der Schreiber selbst bemerkte, weil er die Kopie mitten im Text abbrach und am Rand entschuldigend erklärte: Non debet scribi cap. isto (fol. 34r).
Abb.: Schreibernotiz am Rand der 43 Kapitel-Liste. Mailand, Biblioteca Ambrosiana, O. 55 sup., fol. 34r (Ausschnitt). (@Biblioteca Ambrosiana)
Obwohl die Liste nicht nur Exzerpte aus Texten enthält, die für Italien bestimmt waren – auffallend sind z.B. die beiden Exzerpte aus der rätischen Lex Romana Curiensis – ist sie in Italien kompiliert worden, denn alle der darin eingeflossenen Quellen waren nachweislich dort verbreitet (Mayer E 1905 S. 18f., Meyer-Marthaler, Lex Romana Curiensis S. XXVII). Einige Texte sind sogar nur aus der italienischen Überlieferung bekannt: Die bereits erwähnten Kapitel 5 und 22, die aus dem Kapitular Pippins von Italien (BK 100) stammen, werden nur von der Handschrift Ivrea, Biblioteca Capitolare, XXXIV (um 830, Oberitalien) und dem Liber Papiensis tradiert. Bei c. 23 und 33 handelt es sich um c. 31 und 37 des Konzils von Reisbach, Freising und Salzburg 800, die beide nur in der einzigen vollständigen Überlieferung in der Handschrift Wolfenbüttel, HAB, Cod. Guelf. 130 Blank. (3. Viertel 9. Jh. [nach 855], Oberitalien [Pavia?]) enthalten sind. Die Handschriften aus Ivrea und Wolfenbüttel werden in enge Verbindung mit dem Königshof in Pavia gebracht. Auch die für die 43 Kapitel-Liste verwendeten Quellen stammen daher höchstwahrscheinlich aus dem Umfeld des Hofes. Die kleine Sammlung mit ihren Unikaten stellt einen bislang noch nicht ausreichend gewürdigten Textzeugen für die Überlieferung der Kapitularien dar, auch wenn die Auswahl- und Ordnungskriterien des Sammlers vorerst ebenso schwer nachzuvollziehen sind wie die Gründe, warum er dieses Sammelsurium an Exzerpten als Gesetzgebung Ludwigs II. verstand.
B. Mischke
Zur Handschriftenseite (Beschreibung nach Mordek und Transkription)
Literatur:
Muratori, Antonio: Rerum Italicarum Scriptores 1, 2 (Mailand 1723) S. 160–163
Bethmann, Ludwig: II. Die Gesetze, in Archiv der Gesellschaft für Ältere Deutsche Geschichtkunde 5 (1824), S. 246–277
Pertz G 1835 S. 524–527
Boretius 1864 S. 192–195
Boretius 1868 S. XCI–XCIII
Mühlbacher 1877, S. 468-470
Conrat 1891 S. 274–276 und S. 284–286
Mayer E 1905 S. 17–20 und S. 42
Meyer-Marthaler, Elisabeth: Lex Romana Curiensis (Die Rechtsquellen des Kantons Graubünden, Bd. A, 1), Aarau 1966, S. XXVI–XXVIII
Radding 1988 S. 81f.
Mordek 1995 S. 243–250
Geiselhart 2002 S. 215–218
Kaiser W 2007 S. 260–262
Radding 2007 S. 78–80
Radding 2018 S. 296f.
Trump 2021 S. 215
Gobbitt, Thom: The Liber Papiensis in the Long Eleventh Century. Manuscripts, Materiality and Mise-en-Page (im Druck)