Neues zu den von Étienne Baluze benutzten Handschriften und Vorlagen für den Druck der Constitutio Romana (1677)
Die Constitutio Romana Kaiser Lothars I., von der Forschung in den November 824 datiert und aufgrund ihres zentralen Themas – das Verhältnis zwischen Kaiser und Papst – sowohl im Mittelalter vielfach rezipiert als auch von frühneuzeitlichen Historiographen mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht, stand bereits im Blogpost zum Kapitular des Monats Juni 2021 im Fokus der Aufmerksamkeit. Dort konnte für den Erstdruck des Kapitulars von Carlo Sigonio (1574) nachgewiesen werden, dass mit großer Wahrscheinlichkeit eine Handschrift des Liber Papiensis die Vorlage für den Druck war. Die Editio princeps bediente sich also keiner der Handschriften, die der Neuedition zugrunde liegen (im Folgenden als Kapitularienhandschriften bezeichnet), sondern einer Rechtskompilation des 11. Jahrhunderts, die ältere Kapitularienüberlieferungen als Quelle benutzte (im Folgenden gemeinsam mit ähnlichen abhängigen Überlieferungen als Rezeption bezeichnet).
Damit steht Sigonios Druck nicht allein da: Auch andere frühe Drucke der Constitutio gehen auf Rezeptionen italienischer Herkunft zurück, die ältere Kapitularienhandschriften verwerteten. So druckte Caesare Baronio im Jahr 1600 aus Sigonio und damit indirekt aus dem Liber Papiensis. Lucas Holstenius übernahm 1662 den Text aus der Collectio canonum des Deusdedit (12. Jh.). Seinen Text wiederum druckten Philippe Labbé und Gabriel Cossart 1671 erneut ab. Und auch Baluze lieferte seinen Lesern im zweiten Band seiner Capitularia Regum Francorum zwei Fassungen des Kapitulars, nämlich sowohl den Text nach Deusdedit (Sp. 317–320) als auch den Text aus dem Liber Papiensis (Sp. 319–322), aber eben nicht aus einer der Kapitularienhandschriften, obwohl er diese in anderen Fällen durchaus benutzte (vgl. Eckhardt W 1959). Die mit der Constitutio in Verbindung gebrachte Eidformel druckte Baluze übrigens ebenfalls ab, jedoch bereits im ersten Band (Baluze 1677, Sp. 647f.); er sah also keinen Zusammenhang mit den restlichen Kapiteln.
Abb. 1: Der Titel des Liber-Papiensis-Drucks von Baluze 1677a, Sp. 319f. (© Universitätsbibliothek Paderborn)
Die Ausgabe von Baluze steht im Fokus dieses Blogposts, da er anmerkt, die Kapitel in der Fassung des Liber Papiensis seien Ex libris legis Longobardorum editis, sed emendatis auctoritate veterum exemplarium (Baluze 1677a, Sp. 319f., Hervorhebung ergänzt). Auch in anderen Fällen nutzte er zur Kollation mehrere ungenannte Manuskripte der königlichen Bibliothek in Paris, zu der er problemlos Zugang hatte (vgl. Gasnault 2008, S. 132); so ist z.B. für BK 158 und BK 159 in den am Ende des zweiten Bandes enthaltenen Notae zu Pag. 321 tit. 3, angemerkt: Nos illa emendavimus & supplevimus ex antiquis libris bibliothecæ regiæ (Baluze 1677a, Sp. 1291). Zu einem Großteil kann nur schwer anhand von Textvergleichen identifiziert werden, welcher Codex für welches Kapitular verwendet wurde, da sie eben nicht selbst die Vorlage für den Druck bildeten, sondern allenfalls zu erwarten ist, dass vereinzelt Varianten aus ihnen im Drucktext zu finden sind. Für den Druck der Constitutio Romana allerdings haben wir einen Hinweis, der es ermöglicht, eines der „alten Exemplare“, die Baluze vorgelegen haben müssen, mit ziemlicher Sicherheit zu identifizieren. In den Notae vermerkt Baluze zum Kapitel 4 in Spalte 320 (d.h. nach neuer Zählung Kapitel 5 der Constitutio Romana):
„VOLVMVS VT POP. ROM.] Vetus nota marginalis in uno codice regio: Non est putandum populum Romanum ulteriùs esse interrogandum, quandoquidem Romana lege confessi sunt se vivere eo tempore. […]“ (Baluze 1677a, Sp. 1291)
Die Glosse dieses „königlichen Codexʾ“ konnte in einer Abschrift der sogenannten Lombarda ausfindig gemacht werden. In der Handschrift Paris lat. 4616 steht das Kapitel zur professio iuris des römischen Volkes mit der zwar kürzungsreichen aber wortgetreuen Marginalie auf fol. 41v: N. est putandum ppm. R. ult.ius e.e int.rogandum. ququid romana l. c.fessi s. se viv.e eo tpe. (diverse Kürzungen wurden als Punkte transkribiert).
Die Handschrift Paris lat. 4616: Einer der von Baluze benutzten Codices der königlichen Bibliothek
Die Pariser Handschrift lat. 4616 entstand im späten 12. Jahrhundert vermutlich in Oberitalien. 1657 gelangte sie in die Bibliothèque Royale in Paris, was sich mit Baluzes Verweis auf einen codex regius deckt (vgl. zu Entstehungszeit und Provenienz Avril/Załuska 1980, Nr. 126, S. 73). Sie enthält die Lombarda-Fassung des langobardischen Rechts und ist sowohl interlinear als auch marginal stark glossiert (für eine genaue Auflistung des Inhalts siehe den Eintrag bei Dolezalek 1972, o. S.). Baluze erwähnt die Benutzung der Handschrift, die durch einen von ihm zitierten Besitzvermerk auf fol. 7v eindeutig identifiziert werden kann, in §LXXXI seiner Präfatio (Baluze 1677; vgl. Bluhme 1868, S. CV-CVI). Somit ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass Baluze für die Constitutio Romana genau diese Handschrift vorliegen hatte, obwohl es theoretisch möglich ist, dass auch eine andere Handschrift des langobardischen Rechts dieselbe Glosse tradierte (vgl. Radding 2018, der anmerkt, dass auch Glossen kopiert wurden). Der Pariser Liber Papiensis-Codex lat. 9656 weist die Glosse jedoch nicht auf (fol. 90v), und auch die anderen in der Bibliothèque nationale de France aufbewahrten Lombarda-Handschriften (Paris lat. 4566, 4614, 4615, 4617 und 14475 [im 17. Jh. noch Paris, Abtei St. Victor, Ms. 87]; vgl. Bluhme 1868, S. CV-CVI, Gobbitt 2021 sowie die entsprechenden Einträge bei Dolezalek 1972) enthalten nicht diese spezifische Glosse zum Kapitel 5 der Constitutio Romana.
Abb. 2: Das Kapitel 5 der Constitutio Romana in der Handschrift Paris lat. 4616, fol. 41v, mit der fraglichen Glosse rechts oben. (© BnF)
Es ist zudem wahrscheinlich, dass Baluze die Lombarda auch für weitere Kollationen nutzte, da er für die Constitutio sowie für einige andere Kapitularien stets eine Referenzstelle im Lib. leg. Longobardorum angibt (z.B. für BK 201, Baluze 1677a, Sp. 327–332). Ein Abgleich mit den in der Edition von Bluhme gedruckten Rubriken aller Kapitel der Lombarda Vulgata (Bluhme 1868, S. 623–638, das hier fragliche Kapitel der Constitutio Romana ist als Tit. LVII, c. 1 im Buch 2 verzeichnet) zeigte, dass diese Angaben sich zumindest für die Constitutio auch tatsächlich auf die Lombarda beziehen. Die Lombarda war jedoch wahrscheinlich für kein Kapitular die Leitüberlieferung, da die in der Lombarda aus ihrem ursprünglichen Kontext gerissenen Kapitel bei Baluze immer in der „richtigen“ Reihenfolge und zusammen mit den anderen Kapiteln ihres jeweiligen Kapitulars auftauchen. Für eine nur zweitrangige Rolle bei der Kollation spricht auch seine eigene Bemerkung in der Präfatio, er habe die heutige Handschrift 4616 sowie eine weitere Handschrift mit langobardischem Recht aus der alten bibliotheca regia insbesondere für die Ergänzung einiger Glossen in den Notae genutzt (Baluze 1677, Praefatio, §LXXXI). Für die Annotation der einzelnen Kapitel mit ihren Korrespondenzstellen in der Lombarda hingegen lag ihm vermutlich eher eine andere Handschrift oder sogar eine frühe Edition der Sammlung vor (eine solche gab es in jedem Fall schon, z.B. Lindenbrog 1613, S. 509–690). Denn der Codex lat. 4616 lässt, ebenso wie die anderen Pariser Lombarda-Handschriften, von seiner Strukturierung her keine klare Zählung von Titeln und Kapiteln erkennen, wenn die Kapitel in ihrer Anordnung auch derjenigen der Lombarda Vulgata entsprechen (die Capitulatio in lat. 4616 ist unvollständig und unnummeriert; lat. 4617 hat eine Capitulatio, deren Zählung aber von der heute gängigen und auch durch Baluze benutzten abzuweichen scheint).
Liber Papiensis, Lombarda und Deusdedit
Angesichts der Feststellung, dass gerade die frühesten Drucke der Constitutio Romana – und das gilt auch für einige andere Kapitularien (z.B. BK 157, 158, 159, 163, 168, vgl. in Zukunft jeweils den Abschnitt „Drucke“ in den Neueditionen ) – auf wenige zentrale Rezeptionen des Hochmittelalters zurückgehen, lohnt sich ein kurzer Blick auf die drei Kompilationen, die sich in Baluzes Ausgabe wiederfinden.
Der Liber Papiensis und die Lombarda gehören zur Gruppe der Langobardischen Rechtsbücher (ed. Boretius 1868, Bluhme 1868). Sie sind Vertreter einer eigenen gelehrten Rechtstradition in Oberitalien (vgl. Meyer C 2003). Die Aufzeichnung langobardischen Rechts begann im Frühmittelalter mit dem Edictum Rothari des Langobarden-Königs Rothari (643). Nach der Eroberung Italiens durch Karl den Großen (774) wurden die Kapitularien der fränkischen Herrscher auch in Oberitalien zu geltendem Recht. Die bis dahin hauptsächlich getrennt überlieferten Texte des langobardischen Edictum Rothari und der fränkischen Kapitularien wurden im 11. Jahrhundert zu einer Kompilation zusammengefasst, die wegen ihres mutmaßlichen Entstehungsortes Pavia als Liber Papiensis bezeichnet wird. Während die einzelnen Kapitel im Liber Papiensis chronologisch nach den jeweiligen Herrschern geordnet waren, entstand im frühen 12. Jahrhundert mit der sogenannten Lombarda eine neue Überarbeitungsstufe, welche sich durch eine thematische Zuordnung der Kapitel zu übergeordneten tituli sowie durch eine ausgeprägte Glossierung auszeichnet (vgl. allg. Radding 2018, bes. S. 295–302).
Abb. 3: Die Constitutio Romana in der Liber Papiensis-Handschrift Paris lat. 9656, fol. 90v. (© BnF)
Sowohl der Liber Papiensis als auch die Lombarda waren verbreitete Grundlagenwerke der mittelalterlichen Rechtslehre (vgl. Meyer C 2003, S. 390–393) und wurden in Italien wie auch nördlich der Alpen trotz der erneuten Blüte des römischen Rechts im 12. Jahrhundert weiterhin rezipiert (allg. Meyer C 2003). Die Gründe für diesen Erfolg sind wohl darin zu suchen, dass sie die sonst eher unübersichtliche Überlieferung der Kapitularien ordnend bündelten und so einen Rückgriff auf das fränkische Recht weit nach dem Ende des fränkischen Großreichs ermöglichten (ebd., S. 397f.). Christoph Meyer merkt an, dass sie außerdem eine dezidiert germanische Rechtsauffassung tradierten, was ihr Fortbestehen neben dem römischen Recht erklärte, das für gewisse Fragen des Gewohnheitsrechts schlicht keine Antworten lieferte (Meyer C 2003, S. 403).
Abb. 4: Beginn der Constitutio Romana im Deusdedit-Fragment der Handschrift Paris lat. 1458, fol. 251r. (© BnF)
Bei Baluzes dritter Vorlage handelt es sich um die Kanonessammlung des Deusdedit, Kardinalpriester der römischen Titelkirche S. Pietro in Vinculi. Die Collectio canonum (ed. Glanvell 1905) muss im Kontext ihrer Entstehung zur Zeit des Reformpapsttums verstanden werden. Deusdedit stellte sie wohl um 1087 fertig, da sie Papst Viktor III. gewidmet ist (1086–1087; vgl. Kéry 2016, S. 360). Die Forschung konnte anhand der Textauswahl sowie der Textmodifikationen eine eindeutige progregorianische Tendenz des Kardinals feststellen, der stets den Primat der römischen Kirche, aber auch den Vorrang der Bevölkerung Roms sowie die Bedeutung der römischen Kardinäle hervorhebt (Blumenthal 1993; Kéry 2016, S. 360–370). Die Constitutio Romana nahm er daher vermutlich wegen ihrer Bestimmungen zur Papstwahl (c. 3) sowie zu den Rechten des populus Romanus (c. 5) auf. Die Überlieferung ist schmal; nur eine vollständige Abschrift (Vatikan Vat. lat. 3833) ist erhalten. Wie Lotte Kéry betont, sollte dies jedoch nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass das Werk breit rezipiert und in anderen Sammlungen verwendet wurde (vgl. Kéry 2016, S. 367–370). Baluze nutzte für seinen Druck das Deusdedit-Fragment im Codex Paris lat. 1458, welchen er in seiner Präfatio als Codex Thuanus nennt (Baluze 1677, Praefatio § XVIII, vgl. Mordek 1995, S. 412) und welcher das Kapitular auf fol. 251r–v enthält.
Abschließend ist die Frage zu stellen, warum die Herausgeber der frühen Kapitulariendrucke häufig auf Rezeptionen wie die drei vorgestellten zurückgriffen und nicht auf die Kapitularienhandschriften selbst? Es ist anhand unseres Beispiels zunächst festzustellen, dass Baluze für seine Kapitularienausgaben im Allgemeinen hauptsächlich Handschriften verwendete, die sich in Paris oder Umgebung befanden (von den 21 bei Eckhardt W 1959 genannten Handschriften stammen nur 5 nicht aus Frankreich bzw. aus der näheren Pariser Umgebung: Abschriften zweier vatikanischer Codices Palatini, eine Ripoller und zwei St. Galler Handschriften). Auch der Druck der Constitutio Romana bestätigt dies: Statt der weit von der Wirkungsstätte des Gelehrten entfernt aufbewahrten Kapitularienhandschriften Wolfenbüttel Cod. Guelf. 130 Blank., Cava deʾ Tirreni 4 und Vatikan Chigi F. IV. 75 benutzte er die in Paris verfügbaren Handschriften des Liber Papiensis (Paris lat. 9656), der Lombarda (Paris lat. 4616) und der Collectio Canonum Deusdedits (Paris lat. 1458). Diese Beobachtung entspricht allgemein dem Ziel frühneuzeitlicher Ausgaben mittelalterlicher Texte und Handschriften: Dieses bestand zunächst vornehmlich darin, bisher unbekannte Überlieferungen erstmals der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Daher sind viele frühe Drucke oft nur Wiedergaben einer Handschrift oder, wie im Fall von Baluze, hauptsächlich Texte, die auf Basis der an einem Archiv- oder Bibliotheksort vorhandenen Handschriften ediert wurden. Erst zu einem späteren Zeitpunkt, als die Kenntnisse über das verfügbare Material verbreitet waren, war es möglich, verschiedene Überlieferungen zu vergleichen und kritisch zwischen „ursprünglicher“ und „abhängiger“ Überlieferung zu unterscheiden. Daher verwundert es nicht, dass Baluze in diesem Fall nur aus Rezeptionen druckte, obwohl er gründliche Recherchen anstellte und auch aus dem Ausland Informationen einholte. Möglicherweise blieb ihm die Existenz der Kapitularienhandschriften schlicht verborgen oder er konnte sie aufgrund der großen Entfernung nicht einsehen, zumal er nicht immer auf bereitwillige Helfer vor Ort stieß (vgl. Gasnault 2008, S. 136f.).
A. Ostrowski
Angesprochene Drucke der Constitutio Romana
Sigonio 1574, hier S. 179
Baronius 1600, hier S. 720
Holstenius, Lucas (Hg.): Collectio Romana Bipartita Veterum Aliquod Historiae Ecclesiasticae Monumentorum, Bd. 2, Rom 1662, hier S. 208–211
Labbé, Philippe / Cossart, Gabriel (Hgg.): Sacrosancta concilia ad regiam editionem exacta, Bd. 7, Paris 1671, hier S. 1550f. [mit Druckfehler: S. 1650 statt 1550]
Baluze 1677, hier Sp. 647f. [Eidformel]
Baluze 1677a, hier Sp. 317–320 u. 319–322
Literatur
Lindenbrog, Friedrich (Hg.): Codex legum antiquarum, Frankfurt 1613
Bluhme 1868
Boretius 1868
Glanvell 1905
Eckhardt W 1959
Dolezalek 1972, Bd. 2.
Avril, Franҫois / Załuska, Yolanta (Hgg.): Manuscrits enluminés d’origine italienne, Bd. 1: VIe – XIIe siècles, Paris 1980.
Blumenthal, Uta-Renate: History and Tradition in Eleventh-Century Rome, in: The Catholic Historical Review 79 (1993), S. 185–196
Meyer C 2003
Gasnault 2008
Kéry, Lotte: Recht im Dienst der Reform. Kanonistische Sammlungen der Reformzeit und ihre „Adressaten“, in: Brief und Kommunikation im Wandel. Medien, Autoren und Kontexte in den Debatten des Investiturstreits (Papsttum im mittelalterlichen Europa 5), hg. von Florian Hartmann, Köln u.a. 2016, S. 335–380
Radding 2018
Gobbitt, Thomas (Bearb.): Manuscripts of the Lombard Laws, in: thomgobbit. early medieval laws and lawbooks [Blog], 2021, URL: https://thomgobbitt.wordpress.com/lombard-laws/manuscripts-of-the-lombard-laws (abgerufen am 19.07.2021)