Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Handschrift des Monats August 2021: Barcelona, Arxiu de la Corona d’Aragó, Ripoll 40 (Bc)

Boretius und Krause war dieser wichtige Überlieferungsträger der Kapitularien von 828/829 unbekannt. In ihrer Edition von 1897 zogen sie nur die alten Drucke von Sirmond und Baluze heran, die diese Handschrift bereits für ihre Ausgaben der Konzile bzw. Kapitularien aus der Zeit Ludwigs des Frommen verwendet hatten. Der Codex datiert in die erste Hälfte des 11. Jahrhunderts und stammt aus dem katalanischen Kloster Santa Maria de Ripoll, überliefert aber eine Sammlung, die unter Bischof Walter von Orléans (867/869–nach 891) angelegt worden war. Die Kompilation umfasst im Wesentlichen:

1) das Material der Kapitularien von 828/829 (fol. 5ra–7va);
2) die Sammlung des Ansegis in Kombination mit dem ersten Buch von Benedictus Levita (fol. 9ra–48vb);
3) Kapitularien Karls des Kahlen und ein Synodalstatut Walters von Orléans (fol. 49ra–52va);
4) ein Dossier zum Streit zwischen Karl dem Kahlen, Hinkmar von Reims und seinem Neffen Hinkmar von Laon (fol. 53va–63rb).

Die Zuschreibung an Bischof Walter ergibt sich aus der unikalen Überlieferung seines Synodalstatuts (Brommer 1984, S. 185–193). In diesem Text zitiert Walter ausführlich aus der Sammlung des Ansegis, und zwar in derjenigen Form, wie sie innerhalb derselben Handschrift überliefert ist (Schmitz G 1996, S. 310f.). Ein weiteres Unikat, das diese Herkunft bestätigt, ist der Krönungseid des westfränkischen Königs Odo, der im Jahr 888 von Walter gesalbt wurde. Das Original des Eides wurde in der Kathedralkirche Sainte-Croix von Orléans deponiert, wie ein auf den Eid folgender Eintrag in der Handschrift mitteilt (Pokorny 1995, S. 376; Mordek 1995, S. 20 mit weiterer Literatur). Auch die Abschrift des Krönungseides von König Karlmann (BK 285 aus dem Jahr 882) und die Aufnahme eines Dossiers zum Streit um Hinkmar von Laon stammen sehr wahrscheinlich aus dem Besitz Walters von Orléans. An der Erhebung Karlmanns war der Bischof ebenso beteiligt wie an der Beilegung des Streites um Hinkmar von Laon auf der Synode von Pîtres im Jahr 869 (Hartmann W 1998, S. 362). Walter dürfte die Sammlung zu diesem Streit aus den Händen Hinkmars von Reims erhalten haben, da sie den mächtigen Erzbischof „als Verteidiger des Kirchenrechts ins beste Licht“ rückte (Schieffer R 2019a, S. 206; vgl. die Edition in Hartmann W 1998, S. 312–315 und 352–360 und Schieffer R 2018, S. 230–274). Der gerade zum Bischof erhobene Walter, der sich als Zögling des Martinsklosters in Tours bezeichnete (Hartmann W 2012, S. 226), erfuhr damit aus erster Hand, wie man erfolgreich Kirchengut verteidigte.

Der Hauptteil der Sammlung besteht aus den Kapitularien von 828/829, der Sammlung des Ansegis und dem ersten Buch der Sammlung des Benedictus Levita. Der Kopist der Handschrift beging zwar einige Lesefehler, bemühte sich aber um eine möglichst texttreue Abschrift. Bei einem Defekt in der Vorlage ließ er ausreichend Platz, um die Lücken nachträglich ergänzen zu können. So sind eineinhalb Seiten frei geblieben, weil die Kapitel 1, 34–64 in seiner Ansegis-Vorlage fehlten oder nicht lesbar waren (Schmitz G 1996, S. 76). Eine kurze Lücke ist auch in der Überlieferung der Kapitularien von 828/829 geblieben, um den Verlust von Text zu markieren (fol. 5ra).

Für die Kapitularien von 828/829 bietet die Handschrift eine wichtige Überlieferung (zum Folgenden: Patzold, im Druck). BK 185A und BK 190 sind nur hier erhalten. Zudem haben einige Kapitularien singuläre Rubriken, die wichtige Informationen über die Entstehung der einzelnen Texte enthalten. Schließlich weist BK 184 in Bc spezifische Lesarten auf, die in dem später entstandenen und davon abhängigen Brief Ludwigs des Frommen (BK 185B) wiederbegegnen. Nach Steffen Patzold könnte dies darauf hindeuten, dass die Vorlage von Bc ein Redaktionsexemplar des Bischofs Jonas von Orléans (818–841) gewesen sein könnte, der in die Vorbereitung der Kapitularien am Hof Kaiser Ludwigs des Frommen involviert war. Für die Rekonstruktion der Ereignisse im Winter 828/829 ist die Handschrift daher von herausragender Bedeutung.

Innerhalb der Abschrift von Ansegis sind als Unikate zwei Einzelkapitel (Mordek Nr. 22) überliefert, die sich mit Verschwörungen befassen und die nach Hubert Mordek aus der Zeit Ludwigs des Frommen stammen. Darüber hinaus wurde der Ansegis-Text in Bc um theologische und liturgische Kommentare erweitert, die einen Geistlichen als Urheber haben (Schmitz G 1996, S. 247). Es stellt sich die Frage, ob dieser Teil der Handschrift auf die Zeit des Jonas von Orléans oder auf die Zeit seines Nachfolgers Walter zurückgeht. Für Jonas scheint zu sprechen, dass Gerhard Schmitz in den Varianten klare Übereinstimmungen mit einer Handschrift aus Orléans identifizieren konnte: Paris, Bibliothèque nationale de France, nouv. acq. Lat. 1632 (P29). Diese Handschrift besteht aus drei Teilen (I: fol. 1–67 aus ca. 825–850; II: fol. 68–105 aus ca. 850–875; III: fol. 106–150 aus ca. 900–950: Bischoff 2014, S. 244; Mordek 1995, S. 624 f.). Der zweite Teil enthält eine viel beachtete Materialsammlung des Jonas von Orléans (Wilmart 1933; Laehr / Erdmann 1935; Anton 1968, S. 221–231; Patzold 2008, S. 202–204; Wynn 2013, S. 298–314; Schmitz G 2018, S. 338f.; Heinzle 2020, S. 224–236). Es liegt daher nahe, auch die Abschrift der Ansegis-Sammlung in P29 mit Jonas in Beziehung zu setzen, auch wenn sie im späteren dritten Teil enthalten ist. Doch selbst wenn dies zutreffen sollte, heißt das nicht, dass auch die Ansegis-Version von Bc mit Jonas in Beziehung steht. Gegen diese Annahme spricht, dass die Zusätze von Bc in P29 nicht enthalten sind. Darüber hinaus wurde in Bc noch eine weitere Vorlage aus der Gruppe C2 verwendet, in der Ansegis mit der Sammlung des Benedictus Levita kombiniert wird. Diese Kontamination beginnt in Buch II, in dem sich auch die Kapitel zu Verschwörungen finden (Schmitz G 1996, S. 245–249). Die Fälschung des Benedictus Levita wurde erst nach 847 fertiggestellt, als Jonas von Orléans bereits verstorben war. Die Gestalt von Ansegis in Bc kann also erst in der zweiten Jahrhunderthälfte zustande gekommen sein. Eine Datierung von Mordek Nr. 22 in die Zeit Ludwigs des Frommen ist damit aber nicht ausgeschlossen, weil Walter (oder der Schreiber seiner Kompilation) auch einen älteren Text benutzt haben könnte. Gleichwohl wird man eine Entstehung unter Karl dem Kahlen oder in den unruhigen Zeiten nach dessen Tod nicht ausschließen dürfen.

Es bleibt somit festzuhalten, dass Bc die Abschrift einer Sammlung des Walter von Orléans ist, der seinerseits für den ersten Teil auf ein Dossier seines Vorgängers Jonas von Orléans zurückgegriffen hat. Ob der zwischen Jonas und Walter amtierende Bischof Agius ebenfalls zur Sammlung beigetragen hat, lässt sich nicht eruieren. Für die in Bc enthaltenen Kapitularien von 853 (BK 259) und 865 (BK 244) wäre dies zumindest möglich. Neben den fünf erhaltenen Briefen Walters (Bischoff 1984) und dem Synodalstatut bietet die Handschrift somit einen wertvollen Einblick in die verfügbaren Wissensbestände eines der prominenten Kirchenpolitiker seiner Zeit.

Um 1020 kam die Sammlung in das katalanische Kloster Ripoll. Die Abschrift besorgte der Mönch Guifré (Mundó 2002, S. 80 und 82; Bernadó 2007, S. 318). Die Beziehungen zwischen Ripoll und Orléans sind für diese Zeit gut belegt (Schmitz G 1996, 246 mit Verweis auf Beer 1907, S. 95f.). Im Jahr 1023 berichtete der Mönch Johannes von Ripoll aus dem Kloster Fleury vom Ausbruch der Häresie in Orléans an seinen Abt Oliba, der zugleich Bischof von Vic war und zu den führenden Persönlichkeiten in Katalonien zählte (Ordeig Mata 2016). Johannes war zudem der Adressat von Bücherwünschen aus seinem Heimatkonvent, wie ein Brief seines Mitbruders Pons bezeugt (Zimmermann 2003, S. 488). Man wird annehmen dürfen, dass Oliba an der reichen Sammlung von Normen über Könige, Bischöfe und Kirchengut interessiert war (Tischler 2020, S. 124f.).

K. Ubl


Zur Handschriftenseite (Beschreibung nach Mordek und Transkription)


Literatur:

Anton 1968
Beer 1907
Bernardó 2007
Bischoff 1984 = Bernhard Bischoff, Briefe des neunten Jahrhunderts, in: ders., Anecdota novissima. Texte des 4. bis 16. Jahrhunderts, Stuttgart 1984, S. 123–138
Bischoff 2014
Brommer 1984
Hartmann W 1998
Hartmann W 2012
Heinzle 2020
Laehr / Erdmann 1935 = Gerhard Laehr / Carl Erdmann, Ein karolingischer Konzilsbrief und der Fürstenspiegel Hincmars von Reims, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 50 (1935), S. 106–134
Mordek 1995
Mundó 2002
Ordeig Mata 2016 = Ramón Ordeig Mata, El quadern de Joan de Barcelona, monjo de Ripoll i de Fleury, abat de Santa Cecília de Montserrat (París, BnF, lat. 2858, f. 64–71v), in: Miscellània litúrgica catalana 24 (2016), S. 33–78, revidierter Nachdruck: ders., Guibert de Lieja i Joan de Barcelona, dos europeus del segle XI (Estudis històrics. Monografia 7), Vic 2018, S. 81–135
Patzold 2008 = Steffen Patzold, Die Kapitularien der Jahre 828/29 und die Handschrift Barcelona, Archivo de la Corona de Aragon, Ripoll 40, in: Philippe Depreux / Stefan Esders (Hrsg.), Regnum semper reformandum (Relectio), Ostfildern (im Druck)
Pokorny 1995
Schieffer R 2018 = Rudolf Schieffer (Hrsg.), Die Briefe des Erzbischofs Hinkmar von Reims, Teil 2 (MGH Epp. 8,2), Wiesbaden 2018
Schieffer R 2019a
Schmitz G 1996
Schmitz G 2018
Tischler 2020
Wilmart 1933 = André Wilmart, L’admonition de Jonas au roi Pépin et le florilège canonique d’Orléans, in: Revue bénédictine 45 (1933), S. 214–233
Wynn 2013 = Phillip Wynn, Augustine on War and Military Service, Minneapolis 2013
Zimmermann 2003 = Michel Zimmermann, Lire et écrire en Catalogne (IXe–XIIe siècle), Madrid 2003

Empfohlene Zitierweise
Karl Ubl, Handschrift des Monats August 2021: Barcelona, Arxiu de la Corona d’Aragó, Ripoll 40 (Bc), in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/handschrift-des-monats-august-2021/ (abgerufen am 28.03.2024)