Die Bibliotheken von Mainz und Fulda waren schon in der Karolingerzeit gut mit Rechtshandschriften ausgestattet, nun sind diese karolingischen Codices jedoch größtenteils verloren gegangen. Von den fünf Kapitularienhandschriften, die sich im Jahr 1479 ihren Ex-libris zufolge in der Mainzer Dombibliothek befanden, sind drei – Gotha, Forschungsbibliothek, Memb. I 84, Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. Lat. 582 und Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. Lat. 583 erst im 10. Jh. entstanden, und die restlichen zwei, die tatsächlich schon in der frühen Karolingerzeit geschrieben wurden – München, Bayerische Staatsbibliothek, Lat. 8112 (Schriftheimat Fulda) und Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. Lat. 577 (eher Hersfeld als Mainz oder Maingegend, vielleicht Fulda) – enthalten nur zwei Erlasse des Hausmeiers Karlmann (BK 10 und BK 11). Dieselben zwei Dokumente Karlmanns werden auch in zwei anderen in Mainz (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, 751) und Fulda (Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Rastatt 22) geschriebenen Handschriften erhalten, die beide aber bereits im Mittelalter eine neue Bibliotheksheimat gefunden haben. In den sechs sonstigen paläographisch gesicherten Mainzer Rechtshandschriften der Karolingerzeit wird kein einziges Kapitular überliefert (Licht 2017, S. 83f.).
Ähnlich sieht die mit Fulda verbundene Kapitularienüberlieferung aus. Im Kern der frühmittelalterlichen Fuldaer Rechtssammlung, der durch etwa fünf, leider nur durch Bücherverzeichnisse des 16. Jh. bezeugte, Rechtscodices gebildet wurde, findet sich ebenfalls kein direkter Verweis auf Kapitularien (Schrimpf 1992, S. 170f.). Ein am Ende des 15. Jh. mit Fuldaer Ex-libris versehener frühmittelalterlicher Codex Kassel, Universitätsbibliothek – Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek, 4° Ms. theol. 1 mit Capitula e canonibus excerpta (BK 78) ist zu Beginn des 9. Jh. in Mainfranken geschrieben. Zwei weitere Grenzfälle bedürfen noch einer näheren paläographischen Untersuchung: Der Wolfenbütteler Codex mit dem berühmten Capitulare de villis und der Codex Palatinus 289 (nach J. Hanselmann in Mainz, nach B. Bischoff aber nur in der „Maingegend“ geschrieben, vgl. Mordek 1995, S. 769). Nur in zwei Fuldaer Handschriften sind Kapitularien erhalten: Das ist zum einen der um 850 von einer Fuldaer Hand geschriebene und in scrinio aufbewahrte Hammaburgensis 141 mit der Collectio Ansegisi und dem Wormser Kapitularienpaket von 829 sowie zum anderen die Zimelie der Wolfenbütteler Helmstedt-Sammlung 496a mit dem Text der Admonitio generalis aus der Zeit um 800.
Aus diesem Überblick ergibt sich Folgendes: In großen Verwaltungszentren der Karolingerzeit wie Mainz und Fulda sollte man mehrere Kapitularienhandschriften erwarten und jede zuverlässige Spur, die zur Erweiterung der Quellenbasis dienen kann, sei mithin herzlich begrüßt.
Eine der noch nicht ausgeschöpften Quellen hierzu bietet der in Corvey geschriebene und heute in Münster aufbewahrte Rechtscodex LA NRW, Msc. VII 5201, wohl aus dem Jahr 946, in dem ein Kapitel der Admonitio generalis (BK 22), das Capitulare Saxonicum von 797 (BK 27) und ein Kapitularienpaket Ludwigs des Frommen von 819 mit drei im Winter 818/819 aufgezeichneten Herrschererlassen Ludwigs des Frommen MGH Capit. NS 4 Nr. 9-11 (=BK 139, BK 140 und BK 141) überliefert sind. Das Fehlen des kirchlichen Kapitulars Nr. 8 (=BK 138) im Paket und die unikal in der Rubrik zu Nr. 11 (=BK 141) erhaltenen Namen der Missi Albwin und Wicbald beweisen, dass die Corveyer Abschrift höchstwahrscheinlich von einer mittels Königsboten verbreiteten Ausfertigung angefertigt wurde (Esders 2024, S. XXVI und 56-57). Auch die sehr gute Textqualität der Kapitularien Ludwigs des Frommen im Corveyer Codex weist darauf hin, dass der Corveyer Text auf eine verlorene, für Albwin und Wicbald bestimmte Originalausfertigung von 818/819 zurückgeht. Wie weitere, sternförmig verbreitete Abschriften des Kapitularienpakets wurde diese bald nach der Bekanntmachung von Aachen aus für eine Region bzw. Amtsbezirk bestimmt. Dass diese mit Albwin und Wicbald geschickte Originalausfertigung nicht nach Corvey, sondern anderswohin geliefert werden sollte, ergibt sich bereits aus dem Faktum, dass das Kloster (wenigstens als ein bedeutendes Verwaltungszentrum) erst drei Jahre später gegründet wurde. Zugleich liegt die Vermutung nahe, dass Albwin und Wicbald in Mainfranken und Thüringen tätig waren und mit ihrer Kapitularienhandschrift nach Mainz oder Fulda geschickt wurden: Die beiden Namen kommen häufig in Fuldaer Privaturkunden und in Thüringen vor (Kikuchi 2021, Bd. 2, S. 358f.) und eine Fuldaer Vorlage ist im Corveyer Codex auch für die mit überlieferten Leges Saxonum und Lex Thuringorum nachweisbar. Insgesamt ist in der Corveyer Handschrift eine Mainzer oder Fuldaer Überlieferung des Kapitularienpakets von 818/819 greifbar, auch wenn die geographische Nähe und der rege Bücheraustausch zwischen Mainz und Fulda in der Karolingerzeit ihre präzisere Lokalisierung nicht erlaubt.
Ein weiteres Argument für diese Vermutung bringt das Kapitel 80 der Admonitio generalis, das auf p. 92-94 der Corveyer Handschrift untergebracht wurde. Zwar wurde die Corveyer Überlieferung ihrer relativ späten Datierung wegen nicht in den Apparat der MGH-Ausgabe von 2013 aufgenommen, doch sind auch in diesem kleinen Exzerpt einige gemeinsame Varianten mit der Fuldaer Kopie der Admonitio generalis (Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 496a Helmst., fol. 13v-15r) vorhanden. In Zeile 406 wird nur in diesen zwei Handschriften statt Akk. pl. in celos Abl. pl. in celis bzw. in caelis überliefert (Glatthaar 2013a, S. 234). An zwei Stellen fehlt zudem sowohl im Fuldaer als auch im Corveyer Textzeugen die Präposition de (vor resurrectione[m] Z. 411 und vor fide Z. 423, beide Glatthaar 2013a, S. 236). In Zeile 437 ergänzen beide Handschriften nach domino übereinstimmend deo (Glatthaar 2013a, S. 238). Andere kleinere Korrekturen und Auslassungen in der Corveyer Handschrift verbieten es allerdings, sie zu einem direkten Deszendenten der Fuldaer Zimelie zu proklamieren: Einst zeigte die Corveyer Abschrift eine größere Auslassung der Wörter idolorum servitus, veneficia im paulinischen Sündenverzeichnis, in der sie mit der Fuldaer Überlieferung nicht übereinstimmt; diese Lücke teilt sie aber, wohl zufällig, mit einer italienischen spätkarolingischen Handschrift (München, Bayerische Staatsbibliothek, Lat. 19416) (Z. 416, S. 236). Wiederum können wir keine exakte Herkunft der in Corvey verwendeten Vorlage lokalisieren und wiederum legt der textkritische Befund nahe, dass die in Corvey verwendete Vorlage der Admonitio generalis mehr Gemeinsamkeiten mit Fulda oder Mainz als mit jedem anderen Überlieferungszweig teilt.
Auch das Capitulare Saxonicum vom Jahre 797 (BK 27) konnte nicht in der Originalausfertigung nach Corvey geschickt werden, sondern sollte an das Weserkloster aus einer anderen, ziemlich exzeptionellen Büchersammlung wie Mainz oder Fulda kommen. Das Kapitular ist sonst nur im obengenannten Vatikaner Palatinus 289 überliefert, der im zweiten Viertel des 9. Jhs. in Mainz bzw. im Maingebiet geschrieben wurde (vgl. Hanselmann 1987, S. 85f.). Die Corveyer Abschrift zeigt dabei manche Besonderheiten in der Minuskelschrift, die keineswegs den zur Mitte des 10. Jhs. in der Klosterschule unterrichteten Buchstabenformen angehörten. Einerseits handelt es sich um ‚insulare Symptome‘, die z. B. in der ungeschickt ausgeschriebenen Abbreviatur für con- im Capitulare Saxonicum ins Auge springen (p. 32, Z. 15 und 19). Andererseits schrieb der Schreiber (er kopierte auch das Kapitularienpaket von 818/819) nur im Text des Capitulare Saxonicum das vergrößerte e, das nur für vorkarolingische Minuskelschriften typisch ist. Ebenfalls führte er nur in diesem Text das i mit einer langen Oberlänge aus, das eines der wichtigsten Schriftelemente im karolingischen Mainz mit charakteristischen ‚Skalpellschäften‘ bildet (vgl. Licht 2017, S. 78-79) und welches einige Schnitzer bei jenen mittelalterlichen Schreibern verursachte, denen diese i-Form unbekannt war. Der Corveyer Abschreiber des Capitulare Saxonicum war hier folglich durch seine Vorlage aus Mainz oder Fulda beeinflusst, was mit der Herkunft der Vorlagen anderer Kapitularien seiner Handschrift übereinstimmt. Nimmt man alle diese spärlichen Indizien zusammen, erscheinen die Auswahl der Kapitularien Karls des Großen und Ludwigs des Frommen, die überlieferten Namen der Missi Albwin und Wicbald, die Sonderlesarten und paläographischen Sonderformen als charakteristische Spuren der in Corvey genutzten Vorlagen. Diese Eigenheiten bezeugen demnach die Existenz der verlorenen karolingischen Kapitularienhandschriften aus Mainz und Fulda, von denen uns nun nur der verblasste Schein der zuverlässigen Rekonstruktion vorliegt.
G. Borisov
Hanselmann 1987
Mittelalterliche Bücherverzeichnisse des Klosters Fulda und andere Beiträge zur Geschichte der Bibliothek des Klosters Fulda im Mittelalter, hg. von Gangolf Schrimpf / Josef Leinweber / Thomas Martin, Frankfurt/Main 1992.
Mordek 1995, S. 769-771
Glatthaar 2013a
Tino Licht, Handschriften im karolingischen Mainz, in: T. Licht / W. Wilhelmy (Hg.), In Gold geschrieben: Zeugnisse frühmittelalterlicher Schriftkultur in Mainz: Festgabe für Domdekan Heinz Heckwolf zum 75. Geburtstag, Regensburg 2017, S. 74-85.
Kikuchi 2021
Esders 2024