Bei der jüngsten Handschriftenrecherche des Capitularia-Projekts am DHI in Paris ergab sich der Hinweis auf eine bislang unbekannte Überlieferung der Epistola generalis Karls des Großen (BK 30) in einer frühneuzeitlichen Abschrift des „Urvaters“ der Kapitularienforschung, Étienne Baluze. Die Abschrift befindet sich in einer umfangreichen Sammelhandschrift aus dem Nachlass von Baluze und wird heute in der Bibliothèque nationale de France unter der Signatur Baluze 379 aufbewahrt.
Inhaltlich ist die Handschrift sehr disparat. Im Katalog charakterisiert als „Extraits de chartes et de manuscrits“ (Auvray 1921, S. 421) ist sie aus 354 losen Blättern unterschiedlicher Formate zusammengebunden. Darunter ist auch unsere Abschrift, als Teil eines kleinen Hefts von drei Blatt (fol. 228-230), für das Baluze offenbar zwei Handschriften aus Angers auswertete. Fol. 228 ist bis auf die nüchterne Angabe „No. 5“ leer, fol. 229 bietet die Kopie eines Berichts zum Aufenthalt des 1119 gewählten Papstes Calixtus II. noch im Jahr seiner Wahl in der Kirche des Frauenklosters Ronceray d’Angers und fol. 230 enthält schließlich den Text von BK 30 mit dem Hinweis von Baluze, dieser sei einem „alten Lektionar“ der Petruskirche von Angers entnommen, womit mutmaßlich die 1791 abgebrochene Stiftskirche Saint-Pierre gemeint ist.
Abb. Paris, BnF, Baluze 379, fol. 230r: Notiz zu Baluzes Vorlage („Ex veteri Lectionario, quod extat in Ecclesia B. Petri Andegauensis“ – „Aus einem alten Lektionar, welches aus der Kirche des seligen Petrus in Angers stammt“) (©Gallica).
Es handelt sich hierbei aber nicht um die Abschrift einer Einzelüberlieferung von BK 30, sondern Baluze entnahm den Text offenbar einer im Lektionar enthaltenen Fassung des um 787 von Paulus Diaconus erstellten Homiliars. Den Auftrag hierzu hatte Karl der Große erteilt, der entsprechend im Widmungsgedicht des Homiliars gerühmt wird (ediert bei Migne PL 95, Sp. 1159f. sowie MGH Poetae 1, S. 69). Dieses Gedicht findet sich aber auch am Ende von Baluzes Abschrift:
Abb. Paris, BnF, Baluze 379, fol. 230v: Widmungsgedicht an „Karole Princeps“ (©Gallica).
Tatsächlich ist dies wenig überraschend, handelt es sich bei der Epistola generalis doch nicht um ein klassisches Kapitular, und nicht einmal um ein allgemeines Rundschreiben, sondern, wie Michael Glatthaar gezeigt hat, um ein „anweisendes Geleit- oder Vorwort“ zum Homiliar, das als Mustertext im Reich verbreitet werden sollte (Glatthaar 2010, S. 457). Damit reiht sich der Neufund bruchlos in die bisher bekannte Überlieferung ein, zumal der Text von BK 30 bereits in der (von Baluze in seiner Edition verwiesenen) Ausgabe von Melchior Goldast von 1610 einer Handschrift des Homiliars entstammte.
Einer ersten Sichtung nach bietet der Textbestand überwiegend nur belanglose orthographische Varianten gegenüber der Edition von Boretius. Immerhin verbleiben vier kleine Varianten, die Baluze in seiner eigenen Edition des Stücks nicht durchgängig berücksichtigt hat. Drei dieser Varianten betreffen jeweils nur ein Wort: statt „sive pacis“ (Boretius) schreibt Baluze „sive in pacis“, statt „nihilominus solerti“ ein „nichilominus solliciti“ und statt „latissimis … pratis“ ein „lectissimis … pratis“. Auch die letzte, etwas umfangreichere Variante legt den Verdacht nahe, dass entweder bereits die Vorlage von mäßiger Qualität war, oder Baluze – oder ein Gewährsmann, der ihm eine Transkription der Texte aus Angers übersandte? – sich (mehrfach) verlesen hat.
Abb. Paris, BnF, Baluze 379, fol. 230r: Textvariante gegenüber der MGH Edition („vitiorum jam frutetibus scaterent“ anstatt „vitiorum anfractibus scaterent“) (©Gallica).
Im Kontext beklagte Karl der Große hier die mangelnde Qualität bisheriger Sammlungen von Texten für die nächtlichen Lesungen. Diese Sammlungen seien „übervoll an fehlerhaften Verdrehungen“ (laut Editionstext der MGH), und wohl eher nicht „schon übervoll an fehlerhaften Gebüschen“ (sofern „frutetibus“ hier als eine misslungene Deklination von „frutectum“ oder als Verschreibung von „fruticibus“ zu deuten wäre). Ob die Variante hier auf einen mittelalterlichen oder doch erst auf einen frühneuzeitlichen Kopisten zurückgeht: über eine solche Verdrehung ausgerechnet in diesem Text wäre Karl sicherlich „not amused“ gewesen.
S. Kaschke
Literatur:
Goldast 1610, S. 136
Auvray 1921, S. 421-424
Eckhardt W 1971a
Mordek 1995, S. 186, 207
Glatthaar 2010