Same same but different
Die Kapitelbibliothek in Ivrea besitzt gleich zwei Kapitularienhandschriften: Die bereits um 830 entstandene Handschrift Ivrea, Biblioteca Capitolare, XXXIV (Oberitalien [Pavia?]; Sigle I1) und die ein wenig jüngere Ivrea, Biblioteca Capitolare, XXXIII (Oberitalien?; Sigle I), die etwa um die Mitte oder in der 2. Hälfte des 9. Jahrhunderts geschrieben wurde (vgl. Mordek 1995, Ferrari, Libri e testi). Alfred Boretius behandelte in seinen „Capitularien im Langobardenreich“ (1864) beide Handschriften in einem Abschnitt, da sie seiner Meinung nach hinsichtlich der in ihnen enthaltenen Kapitularien auf dieselbe Quelle zurückzuführen seien. Hubert Mordek erkannte im ersten Teil von I und I1 die von ihm identifizierte „Kernsammlung“ von Kapitularien Karls und Pippins (779–805) wieder, die in Italien weit verbreitet war und auch von anderen Handschriften tradiert wird (Mordek 1995, S. 178; vgl. auch den Blogpost zur Sammlung des Monats März 2019). Doch bei genauerem Hinsehen gehen die Übereinstimmungen nicht so weit, wie Mordek meinte, der den gesamten Kapitularienteil bis zu den Gesetzen Lothars I. von 825 der vermutlichen gemeinsamen Vorlage beider Handschriften zuschrieb.
Einen Überblick über Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Materialzusammenstellung beider Handschriften bietet folgende Gegenüberstellung:
Vergleich der in I1 und I überlieferten Kapitularien
Bereits nach BK 43 ist ein Bruch zu erkennen, da auf diesen Text in I1 ein ganzer Block mit Kapitularien(auszügen) folgt, der in I fehlt (BK 98 c. 8, BK 99, BK 101, BK 100 sowie BK 20a c. 10 und 11). Wie aus der Übersicht hervorgeht, ist BK 98 ohne c. 8 bereits an früherer Stelle der Sammlung enthalten. Es ist also naheliegend zu vermuten, dass c. 8 hier aus einer anderen Quelle ergänzt wurde, die eine vollständige Fassung von BK 98 enthielt, weil es oben fehlt. Es ist zwar zweifelhaft, ob das Kapitel überhaupt zu BK 98 gehörte, denn es erscheint in der Überlieferung in unterschiedlichen Kontexten (Boretius 1883 S. 204). Allerdings wird es in zwei italienischen Sammlungen mit dessen Kapiteln in einer zusammenhängenden Liste verbunden: Zum einen in der nach 832 entstandenen Sammlung, die von den beiden Handschriften Cava de’ Tirreni, BS, 4 (um 1005; Süditalien oder Montecassino; Sigle C) und Vatikan, BAV, Chigi F. IV. 75 (um 1000, Mittelitalien; Sigle V5) tradiert wird, zum anderen in der auf italienische Vorlagen zurückgehenden Handschrift München, BSB, Lat. 19416 (Ende 9. Jh., Südbayern; Sigle M8). In M8 wird das Kapitel zudem auch eindeutig als letztes Kapitel von BK 98 mit der Kapitelnummer VIII ausgewiesen. Aus einem solchen Kontext muss I1 das Kapitel entnommen haben, da es auch hier mit VIII bezeichnet wird. Da die in I1 vorangehende Liste bis XVI zählt und die folgende mit I neu einsetzt, muss die Nummerierung aus der Vorlage übernommen worden sein.
Bei BK 100 und 101 handelt es sich um Unikate. Tatsächlich sind sie nicht als zwei unterschiedliche Texte erkennbar, denn sie befinden sich in derselben Liste mit sechs durchgehend gezählten Kapiteln, die mit der Aufmerksamkeit heischenden Rubrik SECRETIORES überschrieben ist. BK 101 entsprechen in dieser Liste c. I–III und BK 100 c. IIII–VI (c. 2 und 3 sind unter V zusammengefasst). Es verwundert, warum Boretius die Entscheidung traf, die unikal überlieferte Liste als zwei separate Nummern zu edieren und sie verschiedenen Herrschern zuzuordnen (BK 100: Pippin von Italien, BK 101: Karl der Große). Die ersten drei Kapitel (= BK 101) beschäftigen sich mit den Söhnen des Herrschers, den Beratern am Königshof und mit Übergriffen an den Außengrenzen des Reiches – zumindest die ersten beiden berühren Themen, die vielleicht eher in einem kleinen Kreis besprochen wurden als auf einer großen Versammlung und die daher durchaus die Rubrik „Secretiores“ (frei übersetzt: „Streng geheim!“) rechtfertigen könnten. Die von Boretius als BK 100 edierten Kapitel behandeln hingegen aus anderen Kapitularien bekannte Standard-Themen wie das Verbot für Kleriker, mit Frauen zusammenzuleben, oder Vorschriften für die Durchführung von Zeugenbefragungen. Die Kapitelliste ist einen genaueren Blick wert und wird demnächst im Rahmen eines eigenen Blogposts näher untersucht.
Die übrigen Texte des nur in I1 vorhandenen Blocks (BK 98 c. 8, BK 99 und BK 20a c. 10 und 11) finden sich in dieser Kombination (wenn auch nicht in derselben Reihenfolge) auch in anderen italienischen Sammlungen, und zwar wiederum in C V5 und M8, darüber hinaus aber auch in der Handschrift St. Paul im Lavanttal, SB, 4/1 (nach 816, Oberitalien). Ein Vergleich der Textfassungen würde den Zusammenhang vielleicht noch erhellen, kann im Rahmen dieses Blogposts aber nicht erfolgen.
Nach den beiden Kapiteln aus BK 20a scheinen die Inhalte beider Handschriften wieder weitgehend deckungsgleich zu sein; beide Handschriften haben in derselben Reihenfolge BK 44, BK 112 c. 13–15, BK 88 (mit jeweils eigenen Zusätzen in I und I1) sowie BK 134 und BK 135. Bei letzteren beiden handelt es sich um zwei Kapitularien aus dem Anfang der Regierungszeit Ludwigs des Frommen (816–818/819), die in I und I1 in einer nur in Italien verbreiteten Fassung geboten werden: Darin werden beide Stücke unter Auslassung von 2 Kapiteln in einer zusammenhängenden 6 Kapitel-Liste zusammengezogen und mit einer Rubrik versehen, die dem Capitulare Italicum Karls des Großen (BK 98) nachempfunden ist (siehe den Blogpost zur Sammlung des Monats Juni 2022).
Doch auch in diesem Sammlungsteil, in dem I und I1 scheinbar wieder auf dieselbe Vorlage zurückgehen, sind einige signifikante Abweichungen zwischen beiden zu beobachten. Die drei Kapitel aus dem Konzil von Reisbach, Freising und Salzburg (BK 112 c. 13–15) in der Salzburger Version präsentieren sich in I als Anhang zu BK 44 mit fortlaufender Kapitelzählung. Nach dem nicht nummerierten, aber mitgezählten c. 22 von BK 44 folgen die drei Kapitel von BK 112 als XXIII, XXV und XXIIII (c. 14 und 15 in vertauschter Reihenfolge). Dieselbe Kombination der beiden Texte in einer Liste mit fortlaufender Kapitelzählung I–XXV findet sich z. B. auch in Lupus‘ Liber legum (Gotha, FB, Memb. I 84 und Modena, BC, O. I. 2). In I1 werden die drei Kapitel hingegen in ihrer originalen Reihenfolge und mit einer anderen Kapitelzählung geboten (BK 112 c. 13–15 = V, XXVIII, XV). Die Zählung hat weder einen Zusammenhang mit der Nummerierung der sie umgebenden Listen noch lässt sie sich plausibel erklären als eine Verlesung aus der Zählung, wie sie I bietet. Fast genau die gleiche Zählung hat aber die Handschrift M8 (vgl. MGH Conc. 2, 1 S. 209; nur c. 14 abweichend als XXVII gezählt). I1 hat also die Zählung aus einer mit M8 verwandten Vorlage übernommen und nicht aus derselben wie I.
In die Notitia Italica (781?; BK 88) schiebt nur I1 ein Zusatzkapitel ein: Als c. III firmiert hier BK 168 c. 2, ein Kapitel über die 30 Jahres-Frist, das eine fränkische Rechtspraxis bezüglich des Freiheitsstatus auf das Regnum Italiae übertrug und das vermutlich auf Ludwig den Frommen zurückgeht (Breternitz – Mischke 2022). Das Kapitel ist ansonsten nur noch im Liber Papiensis überliefert. I hat dafür nach der Notitia Italica zwei zusätzliche Kapitel, die sich mit der Freilassung eines Unfreien und dem Verlassen des Herrn durch einen Vasallen befassen (BK 104 c. 7 und 8). Das erste der beiden Kapitel ist weit verbreitet und hat u. a. Eingang in die Kapitulariensammlung des Ansegis gefunden (Ansegis 3, 43); das zweite hingegen wird außer von I nur noch von C V5 tradiert (vgl. den Blogpost zur Sammlung des Monats Juni 2022). Außerdem steht es nie alleine, sondern wird immer mit dem ersten Kapitel zusammen überliefert.
Die darauf in beiden Handschriften folgende Aachener Gesetzgebung Ludwigs des Frommen von 818/819 kann ebenfalls keiner gemeinsamen Vorlage entnommen worden sein. Zum einen hat I1 die Texte in der Reihenfolge BK 140, BK 141, BK 138, BK 139, während I mit BK 139 beginnt, dort aber bereits in c. 2 aufgrund von Blattverlust fragmentarisch abbricht; ob tatsächlich alle in I1 enthaltenen übrigen Aachener Texte noch folgten, lässt sich daher nicht mit Sicherheit sagen. Zum anderen stammen die Textfassungen von BK 139 in I und I1 aus unterschiedlichen Überlieferungszweigen, wie Karl Ubl zeigen konnte (vgl. künftig die in Vorbereitung befindliche Neuedition).
Beide Handschriften aus Ivrea kombinieren die Kapitularien mit Volksrechten. I stellt die Leges der Ribuarier, Salier, Alamannen, Burgunder und Baiern an den Beginn und lässt die Kapitularien darauf folgen; I1 stellt letztere prominent an den Anfang und fügt (nur) die Leges Langobardorum hinzu. Ganz am Ende des Codex, nach dem Teil mit dem Langobardenrecht, wurden etwas später (nach 832) noch weitere Kapitularien Lothars I. von zwei verschiedenen Nachtragshänden ergänzt: Zum einen das Kapitular von Pavia (832; BK 201), zum anderen die Concessio generalis (823; BK 159). In I1 hat sich der Text von BK 201 nur bis c. 10 erhalten, der fehlende Rest sowie der Anfang von BK 159 stand auf einem in Turin aufbewahrten Fragment, das einst zu I1 gehörte, aber 1944 verbrannte (Mischke 2018; vgl. den Blogpost zur Handschrift des Monats April 2019). Möglicherweise wurden nach BK 159 sogar noch weitere Kapitularien ergänzt, was wegen des Blattverlustes aber nicht geklärt werden kann. Während das Kapitular von Pavia recht breit überliefert ist, wird die Concessio generalis nur von drei weiteren Handschriften tradiert. Sie findet sich wiederum in der durch C V5 repräsentierten Sammlung und außerdem in Wolfenbüttel, HAB, Cod. Guelf. 130 Blank. (nach 856; Oberitalien [Pavia?]; Sigle W). In W wurden, ähnlich wie in I1, BK 159 und 201 erst nachträglich hinzugefügt, und zwar im Rahmen einer Kaiser Lothar zugeschriebenen Liste von 104 Kapiteln, die erst nach Fertigstellung der umfangreichen Capitulatio in die Sammlung aufgenommen wurde (vgl. den Blogpost zur Handschrift des Monats Januar 2016). Ein Zusatz in BK 201 c. 13 (De indiculis vero nihil accipiat nisi tantum pergamenam ubi ipsum indiculum scribere possit, vgl. Boretius 1883 S. 62 Anm. *), den I1 und W teilen, lässt zudem erkennen, dass beide demselben Überlieferungszweig angehören.
Etwa im 3. Viertel des 9. Jahrhunderts wurde die Sammlung in I1 nochmals erweitert. Am Ende des Kapitularienteils, zwischen einem Kapitular Lothars von 822/823 (BK 157) und den Leges Langobardorum, wurde eine separate Lage mit der Gesetzgebung Lothars von 825 (BK 163–165) eingeschoben (Bischoff 1998). Auch bei diesen Texten ist eine Nähe zur Überlieferung in W festzustellen, wobei die Gesetzgebung von 825 in W zum Kernbestand der Sammlung gehörte und nicht, wie in I1, erst nachträglich hinzukam.
Der Vergleich der beiden Kapitulariensammlungen in I und I1 hat gezeigt, dass sie in ihrem Kernbestand mindestens bis zu Karls des Großen Kapitular von Thionville/Diedenhofen von 805 (BK 43) tatsächlich als Schwesterhandschriften gelten können. Die Sammlung, die beiden als gemeinsame Vorlage diente, wurde aber in beiden um weiteres Material erweitert. Abgesehen von dem direkt nach BK 43 folgenden Block von Texten, die nur I1 hat, stammen offenbar auch die Texte von BK 44 bis BK 139, obwohl sie in Auswahl und Reihenfolge in I und I1 weitgehend übereinstimmen, dennoch aus unterschiedlichen Vorlagen (was aber weiterer Untersuchung bedarf). In I1 wurden nach Fertigstellung der Handschrift überdies in mindestens zwei jüngeren Bearbeitungsschritten Kapitularien Lothars I. hinzugefügt: Die Nachträge am Ende der Handschrift erfolgten bereits wenig später (jedenfalls nach 832), der Einschub der Lage mit der Gesetzgebung von 825 erst im 3. Viertel des 9. Jahrhunderts. Das teils sehr exklusive Sondergut von I1 – z. B. das rar überlieferte Einzelkapitel Ludwigs des Frommen, BK 168 c. 2, und vor allem die unikale Liste mit den “Secretiores” – lässt vermuten, dass zu den benutzten Quellen auch nicht für jeden zugängliches Material aus dem engsten Umkreis des Königshofes gehörte.
B. Mischke
Zur Handschriftenseite von Ivrea, Biblioteca Capitolare, XXXIII (Beschreibung und Transkription)
Zur Handschriftenseite von Ivrea, Biblioteca Capitolare, XXXIV (Beschreibung und Transkription)
Literatur:
Boretius 1864, S. 39–42
Mordek 1995, S. 172–185
Bischoff 1998, S. 326f.
Ferrari, Mirella: Libri e testi prima del Mille, in: Storia della Chiesa di Ivrea dalle origini al XV secolo, hg. von Giorgio Cracco (Chiese d’Italia 1, Roma 1998), S. 511–533
Mischke 2018
Breternitz, Patrick – Mischke, Britta: Das italienische Notariat und das „Hlotharii capitulare Papiense“ von 832. Rezeptionsgeschichtliche und rechtshistorische Überlegungen, in: QFIAB 102 (2022), S. 113–138