Sammlungen sind ein vielschichtiges Problem bei der Erforschung der Rolle von Kapitularien in der fränkischen Welt. Schon die bloße Definition, was genau „eine“ Sammlung darstellen soll, ist schwierig. In der praktischen Verwendung schwankt der Begriff zwischen Maximal- und Minimal-Ansätzen. Ist jede Handschrift, die Kapitularien enthällt, automatisch in ihrer Gesamtheit eine „Kapitulariensammlung“? Oder sollte der Begriff vor allem Gruppierungen von Kapitularien bezeichnen, die unverändert in mehreren Handschriften wiederkehren? Oder genügt es, wenn eine Gruppe von Kapitularien, auch wenn sie so nur in einer einzigen Handschrift zu finden ist, eine ordnende Gemeinsamkeit erkennen lässt, etwa eine chronologische, thematische oder regionale Zusammenstellung? Oder kann schließlich, auf der kleinsten Ebene, jede durchgezählte Kapitelliste, die in ihrem Bestand nicht einem rekonstruierten Original entspricht – und somit einen das Original bewusst verändernden Eingriff eines „Sammlers“ verrät –, bereits als eine „Kapitulariensammlung“ aufgefasst werden? Und dabei ist noch nicht einmal berücksichtigt, dass eine erhaltene Sammlung oft nur eine letzte Überarbeitungsstufe darstellt, in der sich mehrere ältere Sammlungen, und dementsprechend auch Motive und Interessen unterschiedlicher Sammler, überlappen. Die Analyse des Überlieferungsbefunds wird dadurch extrem erschwert.
Als Beispiel für die Komplikationen solcher Materialszusammenstellungen soll heute ein näherer Blick auf die acht Kapitellisten geworfen werden, die sich in der Handschrift Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Chigi F. IV. 75 (Sigle: V5) sowie teilweise auch in der Handschrift Cava de’ Tirreni, Biblioteca Statale del Monumento Nazionale Badia di Cava, 4 erhalten haben. Beides sind relativ späte Handschriften, entstanden um das Jahr 1000 in Süditalien, aber die vatikanische Handschrift bietet generell den besseren Text, während die Handschrift aus Cava zwischendurch und vor allem gegen Ende durch Blattverlust verstümmelt ist. Daher wird letztere im Folgenden nur am Rande berücksichtigt, während die acht Listen, in Anlehnung an die Sigle der vatikanischen Handschrift, vorläufig als „Collectio V5_1“ bis „Collectio V5_8“ bezeichnet seien.
Im Umfang variieren die Listen stark. Die kleinste (Collectio V5_3) bietet auf vier Seiten lediglich 16 Kapitel, die in der Ausgabe von Boretius/Krause als zwei Nummern ediert sind, die vielfältigste Liste (Collectio V5_2) dagegen umfasst auf 15 Seiten 65 Kapitel aus 10 BK-Nummern, die längste (Collectio V5_4) erstreckt sich über 20 Seiten, versammelt dabei aber lediglich 40 Kapitel aus 7 BK-Nummern. Gemeinsam ist den Listen, dass sie kaum je ein vollständiges Kapitular enthalten sondern meist nur Auszüge von ganz unterschiedlichem Umfang. Auszüge aus einem bestimmten Kapitular stehen zudem nicht zwingend in der Originalreihenfolge, sondern haben teilweise Einschübe aus anderen Kapitularien oder sind gar auf verschiedene Listen verteilt. Manche Kapitel sind mehrfach kopiert, im Extremfall findet sich ein Kapitel sogar zweimal in der gleichen Liste (BK 40 c. 4 in Collectio V5_2 auf fol. 70v und fol. 72r, der Variante in presentia] ad presentiam zufolge wohl aus unterschiedlichen Vorlagen bezogen).
An formalen Gemeinsamkeiten ist lediglich die separate Zählung jeder der acht Listen zu erwähnen. Dagegen ist ein wiederkehrendes Muster bei Listen- oder Kapitelrubriken nicht zu beobachten. Wo es in der Originalfassung eines Kapitulars nachweislich Kapitelrubriken gab, sind diese ohne erkennbare Regelhaftigkeit mal übernommen, mal ausgelassen, und zwar selbst innerhalb des gleichen Stücks. Beispielsweise lässt die vatikanische Handschrift in Collectio V5_4 bei BK 139 die Rubriken von c. 3 und c. 11-20 aus, während die Handschrift aus Cava nur für c. 1-2, aber auch für c. 16-17 die Rubriken bewahrt. Womöglich bot eine ältere Fassung, auf die beide Handschriften zurückgehen, hier also noch einen weniger disparaten Anblick. Eigene Kapitelrubriken werden nicht formuliert, die Überschriften zu Beginn der einzelnen Listen (und z. T. auch zu Beginn eines neuen Kapitulars innerhalb einer Liste) weisen zwar manche Besonderheit auf (siehe Mischke 2022), sind aber nicht einheitlich gestaltet. Zwar beginnen die Listen 3, 4 und 5 jeweils mit eine Invocatio (In nomine domini nostri Iesu Christi). Dabei handelt es sich aber wohl um einen Zufall, da die drei jeweils die Listen eröffnenden Kapitularien (BK 98, 134 und 91) eben in dieser Art beginnen. Auch die Collectio V5_2, in der Kapitel von Karl dem Großen, Pippin von Italien und Ludwig dem Frommen zusammengestellt sind, wird schlicht von der auf Karl den Großen bezogenen Rubrik zu BK 61 eingeleitet, ohne dass damit ausgedrückt werden sollte, alle 65 Kapitel der Liste stammten von diesem.
Abb. Vatikan, BAV, Chigi F. IV. 75, fol. 65v: Rubrik zu Beginn der Collectio V5_2 in 65 Kapiteln („Incipiunt Kapitula Que domnus imperator instituit aquis palatio“ – „Es beginnen die Kapitel, welche der Herr Kaiser im Palast zu Aachen erließ“ (©Biblioteca Apostolica Vaticana).
Im Übrigen wird längst nicht jeder Auszug aus einem neuen Kapitular auch von dessen ursprünglicher Rubrik eingeleitet und damit von den vorhergehenden Kapiteln anderer Herkunft abgesetzt. Eine solche Rubrik fehlt offenbar zumeist dann, wenn der jeweilige Auszug nicht mit dem ersten Kapitel des Stücks einsetzt. Auch hier gibt es jedoch Ausnahmen, wie etwa das einsame c. 3 von BK 135 auf fol. 69r, das gleichwohl von der knappen Rubrik Item alia kapitula eingeleitet wird.
Die in den acht Listen verwendeten Texte datieren aus dem Zeitraum von 779 bis 832 und stammen von Karl dem Großen, Pippin von Italien, Ludwig dem Frommen und Lothar I. Es überwiegen in bzw. für Italien erlassene Stücke (u. a. BK 20b, 88, 90-95, 98-99, 102, 158-159, 161-165, 201), daneben stehen aber auch zahlreiche allgemeine Kapitularien (BK 20a, 39-41, 43-44, 61, 67, 134-135, 139-141). Im Folgenden soll die Zusammenstellung der 65 Kapitel der Collectio V5_2 exemplarisch näher betrachtet werden, und zwar anhand ihrer Fassung auf fol. 65v-72v im Vaticanus. Die Liste ist zwar ebenfalls aufgenommen in der Handschrift aus Cava (fol. 204v-213v), dort aber durch einen Blattverlust nach fol. 205 beeinträchtigt.
Die Komplexität der Materialzusammenstellung über die gesamten acht Listen hinweg lässt sich zunächst in einer Tabelle verdeutlichen, die links die in der Collectio V5_2 aufgenommenen Kapitularien in der Reihenfolge ihres Vorkommens verzeichnet, mit Angabe der jeweils in die Liste aufgenommenen Einzelkapitel. Die folgende Spalte verzeichnet, welche Kapitel aus diesen Kapitularien zudem in einer der anderen Listen aufgenommen sind. Abschließend verzeichnet die letzte Spalte alle Kapitel, die von dem oder den Sammler(n) komplett ausgelassen wurden. Mehrfach vorkommende Kapitel sind durch rote Kapitelnummern hervorgehoben.
Tab. 1: Collectio V5_2 in Vatikan, BAV, Chigi F. IV. 75, fol. 65v-72v. „L1“ etc. steht für „Liste 1“.
Eine erste Auswertung, die inhaltliche Gesichtspunkte der Kapitelauswahl noch ausklammert, legt es nahe, dass sich die acht Listen in zwei Gruppen trennen lassen. Ausgangspunkt ist dabei die Prämisse, dass ein einziger Sammler es bei der Aufteilung seines Materials in Listen vermieden hätte, das gleiche Kapitel mehrfach zu kopieren. Zugestandenermaßen ergibt sich hierbei das Problem, dass, wie bereits erwähnt, in der Collectio V5_2 das 4. Kapitel von BK 40 zweimal aufgenommen ist. Lässt man diesen Fall jedoch beiseite, ergeben sich folgende Beobachtungen:
Liste 1 endet mit BK 39 c. 1-2, wobei von dem sehr langen c. 2 lediglich die ersten zehn Worte ausgeführt sind. Liste 2 wiederum liefert, an zwei verschiedenen Positionen, dann recht passgenau c. 2-10 von BK 39 nach, wobei der wiederholte Anfang von c. 2, von einer Dittographie abgesehen, bis in die verwendeten Abkürzungen hinein der Gestalt in Liste 1 entspricht, also wohl die gleiche Vorlage verwendete.
Liste 3 wiederum ergänzt bei BK 98 die in Liste 2 übersprungenen c. 3-4 sowie die Einleitung des Stücks. Liste 4 hingegen könnte auf den ersten Blick zwar ebenfalls als komplementär zu Liste 2 erscheinen, insofern hier BK 140 ohne c. 3 enthalten ist, während Liste 2 von BK 140 nur c. 3 bietet. Aber dem steht entgegen, dass BK 140 c. 3 ebenfalls in Liste 8 alleinstehend enthalten ist, also auch zu dieser komplementär ist, während das in Liste 4 vollständig enthaltene BK 135 eine Wiederholung des bereits in Liste 2 aufgenommenen c. 3 dieses Stücks darstellen würde. Diese Wiederholung ist auffälligerweise in der Handschrift aus Cava vermieden, indem dort das betreffende c. 3 in Liste 4 ausgelassen wurde.
Liste 5 teilt keine Kapitularien mit Liste 2, ergänzt sich aber passgenau mit Liste 7, insofern in der früheren Liste BK 95 ohne c. 6 und 14 kopiert ist, während die spätere Liste nur diese beiden Kapitel des Stücks enthält. Liste 6 wiederholt das in Liste 2 bereits gebotene BK 98 c. 2, während die Einleitung zu BK 98 in den Listen 3 und 6 deutliche Varianten aufweist, die auf unterschiedliche Vorlagen hinweisen (fol. 72v diuino a deo coronatus Romanum regens imperium gegen fol. 91r diuino coronatus Romanus regni imperium). Liste 7 wiederholt analog die in Liste 2 enthaltenen c. 4 und 8 von BK 40 (überlappt sich aber nicht bei BK 99) und Liste 8 schließlich wiederholt BK 140 c. 3 sowie BK 141 c. 25, die beide in Liste 2 vorhanden sind, ergänzt sich dagegen hinsichtlich der Kapitel aus BK 158 gut mit Liste 6.
Es hat somit den Anschein, als würden die Listen 1-3 einerseits sowie die Listen 4-8 andererseits jeweils eine gemeinsame Herkunft haben. Da die Fassungen von BK 140 c. 3 in Liste 2 und in Liste 8 abweichende Varianten haben, könnten die beiden Gruppen an unterschiedlichen Orten entstanden sein und erst in der Zusammenstellung der Vorlage des Vaticanus verbunden worden sein. Der hierfür verantwortliche Redaktor hat sich dabei keine sonderliche Mühe gegeben, vorhandene Doubletten zu beseitigen. Es ist auch, entgegen dem Postulat von Boretius (Boretius 1864 S. 54, zustimmend Mordek 1995 S. 757) keineswegs zwingend, dass der für die Listen 7 und 8 verantwortliche Sammler dort nach BK 201 gezielt nur Kapitel ergänzt habe, die in den Listen 1-6 noch fehlten, und zwar in der Reihenfolge, in der die einzelnen Stücke auch in einer Handschrift nach der Art von Sankt Paul im Lavanttal, Stiftsbibliothek, 4/1 enthalten sind. Hinsichtlich der Reihenfolge, der Varianten und des Umfangs der in beiden Handschriften vorgenommenen Kapitelauswahl sind in der Tat Parallelen zu erkennen, doch hat der Redaktor in den beiden Listen keineswegs alle in der Handschrift von Sankt Paul zusätzlich gebotenen Kapitel aufgenommen und mit der Übernahme von BK 140 c. 3 sogar ein in Liste 2 bereits enthaltenes Kapitel verdoppelt.
Was neben diesem vorläufigen Fazit vor allem ins Auge sticht, ist die im Vergleich zu anderen Kapitularienhandschriften erstaunliche Kleinteiligkeit der Zusammenstellung. In nordalpinen Handschriften werden meist vollständige Kapitularien aneinandergereiht. Selbst ein vorgeblich nach inhaltlichen Kriterien ordnender Sammler wie Ansegis verteilte nur selten Kapitel eines einzelnen Stücks auf verschiedene Bücher, je nachdem, ob sie „geistliche“ oder „weltliche“ Themen berührten – wie es aber sein eingangs postuliertes Ordnungsschema verlangt hätte. In den acht Kapitellisten der vatikanischen Handschrift dagegen werden Kapitularien oftmals geradezu atomisiert, ohne dass bislang ein inhaltliches Motiv für diese Zersprengung unmittelbar ersichtlich wäre. Eine vorsichtige Hypothese zur Erklärung dieses Befundes könnte sein, dass in Italien mit seiner stärker ausgeprägten Schriftlichkeit, auch im Gerichtswesen, häufiger Exzerpte aus Kapitularien je nach aktuellem Prozessbedarf angefertigt wurden, beispielsweise vom advocatus eines klagenden oder beklagten Klosters. Die angesammelten Exzerpte könnten dann in späterer Zeit in einen Codex übertragen worden sein, ohne dass dabei großer Wert auf eine penible Wiederherstellung der ursprünglichen Kapitularien gelegt worden wäre. Aber um dies zu klären, sind weitere Detailstudien unerlässlich, die die jeweiligen Thematiken der Auszüge in den Blick nehmen.
S. Kaschke
Literatur:
Boretius 1864
Mordek 1995, S. 98-111, 756-768
Mischke 2022: Britta Mischke, Spuren von Urkundenformular in den fränkischen Herrschererlassen bis 840, in: Bernhard Jussen / Karl Ubl (Hg.), Die Sprache des Rechts. Historische Semantik und karolingische Kapitularien (im Druck)