Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Kapitel des Monats März 2023: Kapitel ja, aber Kapitular? Kapitel 12 der Capitula Italica Karls des Großen

Kapitel ja, aber Kapitular?

Im Frühjahr des Jahres 813 wurde laut den Annales regni Francorum auf einer Versammlung in Aachen entschieden, dass im Verlauf dieses Jahres an (fünf) verschiedenen Orten im Frankenreich Bischöfe zusammenkommen sollten, um über die Reform der Kirche (super statu ecclesiarum corrigendo) zu beraten. Fest stand bereits zu diesem Zeitpunkt, an welchen Orten die Versammlungen stattfinden sollten – nämlich in Arles, Chalon-sur-Sâone, Mainz, Reims und Tours. Darüber hinaus war vorgesehen, „die Beschlüsse (constitutiones) der fünf Teilsynoden [anschließend] auf einer Versammlung des gesamten Reichs zusammenzufassen“ (Hartmann W 1989, S. 129). Die Beschlüsse der einzelnen Synoden sind gut überliefert und finden sich in der entsprechenden MGH-Edition (MGH Conc. 2,1) von Albert Werminghoff ediert. Dort findet sich unter dem Titel „Concordia episcoporum“ zudem ein Dokument, von dem Carlo de Clercq vermutete, dass es sich um jene Zusammenfassung der geplanten Folgeversammlung in Aachen handeln könnte, auf der die Ergebnisse der fünf Versammlungen besprochen wurden (de Clercq 1936, S. 248f.). Um ein herrscherliches Kapitular von Seiten Karls des Großen handelt es sich bei der Concordia episcoporum – wie auch de Clercq zurecht feststellt – in jedem Fall nicht.

Ob ein solches Kapitular Karls, in dem die Ergebnisse der Versammlungen von 813 (oder Teile davon) aufgegriffen wurden wirklich erlassen wurde, ist unklar. Bekannt ist ein solcher Erlass jedenfalls nicht. In der Kapitularienedition von Alfred Boretius finden sich unter der Sammelnummer der Capitula Italica (BK 105), in der einzeln überlieferte Kapitel zusammengefasst wurden, mit c. 12 und 13 allerdings gleich zwei Kapitel, die einem solchen, die Versammlungen von 813 zusammenfassenden Kapitular entstammen könnten. Kapitel 12 weist erhebliche wörtliche Übereinstimmungen zu can. 30 von Chalon auf: Inhaltlich sind beide Texte nahezu identisch, wenngleich c. 12 im Vergleich zu can. 30 kürzer ist und zudem einige syntaktische Unterschiede hat. Kapitel 13 wiederum ist letztlich eine gekürzte Fassung von can. 31 des Konzils von Chalon. Hinzu kommt mit c. 21 der Sammelnummer ein Kapitel mit Parallelen zu can. 23 von Arles. Boretius selbst schreibt in der Vorbemerkung des Kapitels allerdings: Fictum est e concilii Arelatensis 813 canone 23, verbis postremis recens additis. Er geht also von einer nachträglichen Bearbeitung des Kanons aus.

Die Authentizität von c. 12 als Kapitel eines Erlasses Karls des Großen wurde hingegen in der Forschung zumeist als gegeben angenommen. Sowohl Gerhard Seeliger (Seeliger 1894, S. 676-678), als auch Hubert Mordek vermuten, dass unser Kapitel Teil eines „unbekannten Kapitulars Karls des Großen (a. 813) [sein könnte], in dem frühere Bestimmungen erneuert wurden.“ (Mordek 1995, S. 995). Der Frage nach der Authentizität des Kapitels soll im Folgenden nachgegangen werden.

München, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Lat. 29555/1 fol. 2r
München, Bayerische Staatsbibliothek, Lat. 29555/1 fol. 2r. (© BSB)

Zunächst scheint deshalb ein Blick auf den Inhalt des infrage stehenden Kapitels sinnvoll: In c. 12 von BK 105 wird ein Verbot ausgesprochen, rechtmäßig – also unter Zustimmung aller betroffenen Besitzer – geschlossene Ehen von Unfreien aufzulösen. Dem Inhalt des Kapitels wird in der aktuellen Forschung eine herausragende Bedeutung beigemessen. Alice Rio etwa bezeichnet das Kapitel als „the strongest statement made in defence of unfree people’s right to marriage ever made in the Carolingian period.“ (Rio 2017, S. 220). Wie bereits erwähnt, entspricht dies dem Inhalt von can. 30 von Chalon. Der direkte Vergleich der beiden Kapitel verdeutlicht, wie ähnlich beide Texte sind.

Kapitel 12 stellt also eine gekürzte, umgestellte und umformulierte Version des Konzilsbeschlusses dar. Es entsteht der Eindruck, dass das Kapitel in einer möglichst unpersönlichen Formulierung auf seinen sachlichen Inhalt mitsamt biblischer Legitimation reduziert werden sollte.
Überliefert findet sich das Kapitel zum einen im sogenannten Liber Papiensis – einer zu Beginn des 11. Jahrhunderts in Pavia entstandenen Rechtssammlung – ,wo es nach der Edition von Boretius (Boretius 1868, S. 511) als c. 128 (129) am Ende des Teils der Sammlung zu finden ist, der Karl dem Großen zugeordnet wurde. Dort findet sich wenig später als c. 132 auch die bereits erwähnte Kurzform von can. 31 aus Chalon (c. 13 von BK 105).

Über die Überlieferung im Liber Papiensis hinaus ist c. 12 auch in einem Fragment einer im (späten) 9. oder 10. Jahrhundert in Oberitalien entstandenen Handschrift enthalten. Das Fragment findet sich heute unter der Signatur München, Bayerische Staatsbibliothek, Lat. 29555/1 (M4; die Sigle bezieht sich auf alle heutigen Einzelteile, zu denen auch München, Bayerische Staatsbibliothek, Inc. s. a. 26m und München, Universitätsbibliothek, † Fragmente zählen). Die Handschrift, aus der unser Fragment stammt, enthält neben einem Kapitularienblock, der mit der Handschrift Gotha, Forschungsbibliothek Memb. I. 84 (G) nahezu identisch ist, auch weiteres Material (Blogpost des Monats August 2019). Dieses Material setzt sich zwar aus bekannten Texten zusammen – es handelt sich um einzelne Kapitel aus Kapitularien und Synodalbeschlüssen –, allerdings ist nicht gesichert, ob es sich um Exzerpte und Bearbeitungen eines Sammlers oder um Erneuerungen bzw. Bestätigungen des älteren Materials durch Karl den Großen oder Ludwig den Frommen handelt. Für letztere Variante plädiert Mordek, der die in Frage stehenden Listen als Capitula Italica incerta I, II und III edierte (Mordek 1995, Anhang, S. 995-997, 997-999 und 1017-1019). Für (bearbeitete) Exzerpte eines Sammlers hält das Material Britta Mischke (Kapitular oder Kompilation?, S. 609-622 [im Druck]). Im Folgenden relevant sind ausschließlich die Capitula Italica incerta I, bei denen es sich um jene Liste handelt, in der sich – hier gezählt als c. XIII – auch c. 12 von BK 105 findet. Die Liste beginnt fragmentarisch mit dem Schluss eines in der Liste wohl ursprünglich als Nummer 11 gezählten Kapitels und endet – ebenfalls fragmentarisch – mit c. 18. Der genaue Inhalt der überlieferten Kapitel wird uns im Folgenden noch beschäftigen.

Mischke geht im Kontext ihrer Betrachtung des gesamten bekannten Materials aus dem oberitalienischen Codex auch explizit auf unser Kapitel ein. Sie stellt fest, dass c. 12 „keine Anzeichen ‚herrscherlichen Stils‘“ (Kapitular oder Kompilation?, S. 613) enthält. Zudem weist sie darauf hin, dass der Liber Papiensis weitere Konzilskanones enthält, die fälschlicherweise als Kapitularien ausgegeben werden – diese finden sich ihr zu Folge zumeist am Ende der Abschnitte der einzelnen Herrscher in der Rechtssammlung. Dies ist auch in Bezug auf unseren can. 30 von Chalon sowie can. 31 der gleichen Versammlung der Fall. Mordeks bzw. Seeligers Vermutung, die Umarbeitung des Kanons aus Chalon sei im Kontext eines Kapitulars Karls des Großen vorgenommen worden, beruht auf der Zuschreibung des Liber Papiensis. Allein deshalb entstehen hier bereits erhebliche Zweifel daran, ob es sich bei den Capitula Italica incerta I wirklich um ein Kapitular Karls des Großen handelt. Mischke merkt diesbezüglich an, dass die „Umarbeitung des betreffenden Kanons (…) daher genauso gut von einem Sammler oder rechtskundigen Bearbeiter vorgenommen worden sein“ (Kapitular oder Kompilation?, S. 613) könnte. Keineswegs würde dies einen Einzelfall darstellen. Insbesondere in Italien sind solche Bearbeitungen mehrfach nachweisbar. Man bedenke etwa die berühmte Forma Langobardica des Kapitulars von Herstal (BK 20b), bei der es sich höchstwahrscheinlich um eine in Italien vorgenommene Überarbeitung des ursprünglichen Erlasses (BK 20a) handelt.

Auch weitere Argumente sprechen dagegen, dass c. 12 ein Kapitel eines verlorenen Kapitulars sein könnte, und machen somit die Vermutung wahrscheinlicher, dass es sich um eine Überarbeitung des Kanons aus Chalon durch einen italienischen Sammler handelt. Zunächst wäre an dieser Stelle der Überlieferungskontext innerhalb des Münchener Fragments zu erwähnen. Das uns bekannte Blatt (fol. 2) beginnt, wie erwähnt, fragmentarisch innerhalb eines Kapitels, das in der vollständigen Version c. XI einer längeren Kapitelliste gewesen sein muss. Dieses entspricht eindeutig can. 26 von Chalon. Es folgen c. 12, bei dem es sich um can. 19 von Chalon handelt und c. 13, unser c. 12 von BK 105 bzw. can 30 von Chalon. Die anschließenden Kapitel (14-18) stammen allesamt aus dem Capitulare Mantuanum secundum, generale (a. 813, BK 93) in der Ausfertigung Bernhards von Italien. Es liegt nahe anzunehmen, dass die von Mordek als Capitula Italica incerta I bezeichnete Liste aus Exzerpten von Chalon 813 und dem Mantuaner Kapitular desselben Jahres bestand. Auf die inhaltlichen Parallelen einiger Kapitel dieser beiden Texte hat bereits Michael Glatthaar (Glatthaar 2014, S. 31) hingewiesen, so dass eine Zusammenstellung ausgewählter Auszüge der beiden Stücke nach inhaltlichen Kriterien gut nachvollziehbar wird. Über diese Annahme ließe sich auch erklären, weshalb alle drei Kapitel des Münchener Fragments den Beschlüssen von Chalon entnommen wurden, obwohl die Themen von can. 19 und 26 im Jahr 813 auch in die Beschlüsse weiterer Versammlungen aufgenommen wurden. Eigenkirchen finden neben Chalon can. 26 auch in Arles und Mainz Erwähnung; der in can. 19 besprochene Zehnt findet sich gar in den Beschlüssen aller Versammlungen wieder (vgl. Hartmann W 1989, S. 138). Freilich kann diese Vermutung nicht erklären, weshalb can. 30 stilistisch verändert wurde, während can. 19 und 26 keine nennenswerten Veränderungen aufweisen. Zumindest in Bezug auf can. 26 ist hier allerdings darauf hinzuweisen, dass der Kanon aufgrund der fragmentarischen Überlieferung nicht vollständig erhalten ist. Ob in der verlorenen ersten Hälfte des Kanons möglicherweise ähnliche Veränderungen wie bei can. 30 vorgenommen wurden ist folglich nicht zu rekonstruieren – denkbar wäre hier die auch bei can. 30 vorgenommene Tilgung der Formulierung Unde nobis visum est, die sich auch in can. 26 findet, wobei diese Überlegungen freilich vollkommen spekulativ bleiben müssen.

Blicken wir auf den Inhalt unseres Stücks, finden sich zudem weitere Argumente, die gegen die Vermutung sprechen, es könnte sich um ein Kapitel eines verlorenen Kapitulars Karls des Großen handeln. Zunächst wird explizit – sowohl in can. 30 als auch in der Version des Münchener Fragments und des Liber Papiensis – Mt. 19,6 zitiert und auch als Zitat aus dem Evangelium kenntlich gemacht. Solche angekündigten Zitate der Evangelisten finden sich meiner Kenntnis nach nur in drei weiteren in Boretius‘ Edition enthaltenen Stücken Karls des Großen, sowie in dem Caroli Magni Capitulare ecclesiasticum (Mordek Nr. 12). Letzteres wird mittlerweile allerdings nicht mehr als Kapitular Karls des Großen betrachtet (vgl. Glatthaar 2013a, S. 126-135). Es verbleiben lediglich die Admonitio generalis (BK 22), das Capitulare missorum Niumagae datum (BK 46) und die Capitula tractanda cum comitibus, episcopis et abbatibus (BK 71). Letztere beiden Stücke gehören zu jenen Kapitularien, in denen nach Janet Nelson „[t]he Voice of Charlemagne“ (Nelson 2001) zu ,hören‘ ist – dies kann für eine Paraphrase eines Konzilskanons, wie es für c. 12 der Fall ist, wohl kaum behauptet werden. In jedem Fall würde c. 12 von BK 105 also einen von wenigen Fällen darstellen, in denen in dieser Art explizit auf die Evangelien verwiesen wird. Darüber hinaus ist auch die wörtliche Übernahme aus Konzilskanones für die Kapitularien Karls mehr als ungewöhnlich: Denn „nach bisherigem Kenntnisstand [wurden] nur einmal ausgewählte Konzilskanones als eigenes Kapitular bestätigt (Capitula e canonibus excerpta 813 [BK 78], MGH Capit. 1 S. 173–175), doch handelt es sich hierbei ausschließlich um Kanones“ (Mischke, Kapitular oder Kompilation?, S. 619 Anm. 22). Ein Kapitular, in dem sowohl Kanones als auch bekannte Kapitularien aufgegriffen werden, ist nicht bekannt. Da es sich zudem bei den 26 Kanones in BK 78 ausnahmslos um Beschlüsse der Versammlungen von 813 handelt, scheint es ohnehin lohnenswert zu überprüfen, ob es sich nicht auch in diesem Fall um ein bloßes Exzerpt dieser Versammlungen handeln könnte. Bemerkenswert ist zudem, dass in BK 78 kein einziger Kanon nach den Beschlüssen von Chalon zitiert wird, während dies im Münchner Fragment für alle drei Kapitel der Fall ist. Der Zehnt wird hier in der äußerst knappen Version von Arles can. 9 aufgegriffen (De decimis admonendis). Ein italienischer Überlieferungszeuge, der ausschließlich Chalon, nicht aber die anderen vier Konzile enthält – und folglich Vorlage für die Münchener Handschrift gewesen sein könnte – ist allerdings nicht bekannt. Ohnehin ist unklar, welchen Inhalt die Kapitel 1-10 und die Kapitel ab c. 19 unserer Liste hatten.

Abschließend lässt sich also festhalten, dass abgesehen von der entsprechenden Zuschreibung im Liber Papiensis, die, wie erwähnt, gerade am Ende der Abschnitte der jeweiligen Herrscher häufig unzuverlässig ist, nichts dafür spricht, dass es sich bei c. 12 von BK 105 um ein Kapitel eines Kapitulars Karls des Großen handelt. Wahrscheinlicher ist, dass es sich um eine Umarbeitung durch einen italienischen Sammler oder Rechtskundigen handelt. Vorbehaltlich einer umfangreicheren Untersuchung darf dies möglicherweise auch für die cc. 13 und 21 des von BK 105 bzw. die Kanones 31 von Chalon und 23 von Arles angenommen werden. Unser Befund für c. 12 ist insgesamt nicht nur in Bezug auf die Arbeitsweise italienischer Schreiber bzw. Sammler von Bedeutung, sondern auch inhaltlich in Bezug auf die Ehegesetzgebung unter Karl dem Großen: Einen Herrschererlass zum Schutz der Unfreienehe hat es unter Karl dem Großen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gegeben, da ein solcher nur im sehr kurzen Zeitfenster zwischen September 813 und Januar 814 hätte entstanden sein könnten. Die Forderung nach Unauflösbarkeit solcher Verbindungen ist ausschließlich von bischöflicher Seite und nur für die Teilnehmer von Chalon nachweisbar. Da der Liber Papiensis die Formulierung unseres Kapitels aus M4 übernimmt, lässt sich hier zudem eine Verbindung nachweisen. Eine weitergehende Betrachtung dieser Verbindung scheint lohnenswert.

D. Leyendecker

Literatur:

Boretius 1868, S. 511
Boretius 1883
Seeliger 1894
de Clercq 1936
Werminghoff 1906
Hartmann W 1989
Mordek 1995
Nelson 2001
Glatthaar 2013a
Rio 2017
Mischke, Britta, Kapitular oder Kompilation? Drei Kapitellisten aus einer fragmentarischen italienischen Kapitulariensammlung des 9./10. Jahrhunderts, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 79 (2023), S. 609-622 [im Druck]

Handschriften:
München, Bayerische Staatsbibliothek, 29555/1 (Beschreibung und Transkription)

Empfohlene Zitierweise
Dominik Leyendecker, Kapitel des Monats März 2023: Kapitel ja, aber Kapitular? Kapitel 12 der Capitula Italica Karls des Großen, in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/kapitel-des-monats-maerz-2023/ (abgerufen am 21.11.2024)