Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Kapitel des Monats Dezember 2022: Die Kapitel 7 und 8 der Capitula Francica

Der sechste Abschnitt des ersten Bandes von Alfred Boretius‘ Kapitularienedition trägt die Überschrift Capitula singillatim tradita Karolo Magno adscripta. Die unter dieser Überschrift vereinten 30 Einzelkapitel sind wiederum in zwei Sammelnummern unterteilt: Die ersten acht Kapitel führt Boretius als Capitula Francica (BK 104), die restlichen 22 Kapitel als Capitula Italica (BK 105).

Doch während die Einzelkapitel von Boretius überwiegend auch einzeln ediert wurden, finden sich unter den beiden Sammelnummern zwei Fälle, in denen Boretius zwei Kapitel als zusammenhängend betrachtet. Es handelt sich zum einen um die cc. 4 und 5 der Capitula Italica und zum anderen um die cc. 7 und 8 der Capitula Francica. Die beiden letztgenannten Kapitel sollen im Folgenden näher betrachtet werden.

Während sich c. 7 als Capitulum de ingenuitate chartarum bereits in der Kapitularienedition von Étienne Baluze (Baluze 1677, S. 395-396) findet, edierte Georg Heinrich Pertz beide Kapitel unter dem Titel Constitutio de liberis et vasallis (Pertz 1835, S. 196) gemeinsam. Pertz stellt in Bezug auf die beiden Kapitel fest, dass sie sich zwischen solchen Kapiteln finden, die Ludwig der Fromme dem langobardischen Recht hinzugefügt habe und nimmt diesen auch als Aussteller an. Während Boretius die beiden Kapitel, wie bereits erwähnt, ebenfalls gemeinsam führt, plädiert er für eine Entstehung unter Karl dem Großen. Zwei Fragen soll hier nachgegangen werden: Inwiefern ist Boretius‘ Entscheidung – die er in der Vorbemerkung der Edition der beiden Kapitel selbst als unsicher beschreibt –, die beiden Texte als zusammenhängend zu betrachten, zutreffend? Und sollten die Kapitel Karl dem Großen oder aber Ludwig dem Frommen zugeschrieben werden?

Blicken wir bezüglich der Frage nach der Zusammengehörigkeit der beiden Kapitel zunächst auf den von Boretius als c. 8 edierten Text. Das Kapitel wird in insgesamt drei Handschriften überliefert: Zunächst in Ivrea, Biblioteca Capitolare, XXXIII – entstanden wohl in der 2. Hälfte des 9. Jahrhunderts in Oberitalien; darüber hinaus in den eng miteinander verwandten Handschriften Cava de’ Tirreni, Biblioteca Statale del Monumento Nazionale Badia di Cava, 4 (um 1005, Süditalien) und Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Chigi F. IV. 75 (um 1000, Mittelitalien, vermutlich in der römischen Abtei S. Paolo fuori le Mura). Folglich sind alle drei uns bekannten Überlieferungsträger des Kapitels in Italien entstanden. Darüber hinaus findet sich unser Kapitel in allen drei Fällen direkt im Anschluss an jenen Text, der von Boretius als c. 7 der Capitula Francica ediert wurde – unabhängig von c. 7 findet sich c. 8 folglich nirgends überliefert.

Der Umstand, dass c. 8 nur im Zusammenhang mit c. 7 überliefert ist, mag zunächst auf eine gemeinsame Entstehung der Kapitel hindeuten. Anders als für c. 8 sind für c. 7 allerdings durchaus unabhängige Überlieferungsträger bekannt. Zunächst anzuführen sind die bereits von Boretius erwähnten Überlieferungen des Kapitels: Die Kapitulariensammlung des Ansegis, in der sich unser Kapitel als c. 43 des dritten Buchs findet, die Handschrift. Paris, BnF, Lat. 4632 und darüber hinaus der Liber Papiensis. Hinzu kommt Paris, BnF, Lat. 9654 – obwohl diese Handschrift Boretius bekannt war, berücksichtigte er sie (wohl versehentlich) für die Edition des Kapitels nicht. Dieser Umstand ist insofern bedeutsam, als dass sie seine Zweifel an der Zusammengehörigkeit von cc. 7 und 8 sicherlich bestärkt hätte. Dies gilt wohl auch für die Handschrift Cologny (Kanton Genf), Fondation Martin Bodmer, Cod. Bodmer 107, zu der Hubert Mordek (Mordek 1995, S. 115) feststellt: „Dem Herausgeber Boretius dürfte das Manuskript unbekannt geblieben sein, denn er hat es für seine Ausgabe nicht benutzt.“ Erneut findet sich dort c. 7, nicht aber c. 8. Die oberflächliche Betrachtung der unabhängigen Überlieferungen von c. 7 lässt einen gemeinsamen Entstehungszusammenhang bereits weniger eindeutig erscheinen. Ein Nachweis für eine unabhängige Entstehung der Kapitel ist durch die alleinige Überlieferung von c. 7 in einigen Handschriften bzw. Rechtssammlungen freilich nicht gegeben.

Auch auf inhaltlicher Ebene finden sich keine Argumente, die für eine gemeinsame Entstehung der Kapitel sprechen. Kapitel 7 setzt sich umfangreich mit Gerichtsprozessen auseinander, in denen die Authentizität einer Freilassung in Frage steht. Kleinschrittig wird hier festgelegt, wem die Beweislast in solchen Prozessen zukommt. Kapitel 8 hingegen behandelt die Frage unter welchen Umständen ein Vasall seinen senior verlassen darf und zählt im Folgenden ebenjene Gründe auf, nach denen dies zulässig sein soll: 1. wenn der senior versucht hat, den Vasallen in die Unfreiheit zu zwingen; 2. wenn er in eine Verschwörung verwickelt war, die dem Vasallen nach dem Leben trachtet; 3. wenn er Unzucht mit der Ehefrau des Vasallen betreibt; 4. wenn er den Vasallen mit der Absicht ihn zu töten mit dem Schwert angreift; und 5. wenn der senior seiner Schutzverpflichtung nicht nachkommt, obwohl er dazu in der Lage gewesen wäre.

Abgesehen von fehlenden Argumenten, die für eine gemeinsame Entstehung der Kapitel sprechen, findet sich zumindest ein Argument, das explizit gegen diese Möglichkeit spricht: Der Aufbau von c. 8 deutet darauf hin, dass es sich um einen eigenständigen ,Erlass‘ beziehungsweise eine eigenständige kurze Liste handelt. Diese Einschätzung ergibt sich aus dem Umstand, dass alle drei Handschriften die fünf Gründe, die es dem Vasallen gestatten, seinen senior zu verlassen, als eigene capitula bezeichnen. Besonders anschaulich ist dieser Listencharakter in der Handschrift aus Ivrea. Solche (Unter-)Kapitel innerhalb eines Kapitels eines Kapitulars – wie es der Fall wäre, wenn c. 8 tatsächlich zusammen mit c. 7 (und möglicherweise weiteren Kapiteln) Bestandteil eines umfangreicheren Herrschererlasses wäre – sind innerhalb der bekannten fränkischen Kapitularien ohne Parallele. Auf dieser Grundlage darf wohl behauptet werden, dass eine gemeinsame Entstehung von cc. 7 und 8, wie von Pertz und Boretius vermutet, unwahrscheinlich ist.

Mit dieser Einschätzung kann nun zur zweiten Frage übergegangen werden: Entstanden cc. 7 und 8 unter Karl dem Großen oder unter Ludwig dem Frommen? Wie eingangs erwähnt schreibt Pertz die Kapitel auf Grundlage von Cava und Chigi Ludwig dem Frommen zu. Boretius hingegen geht von einer Entstehung unter Karl dem Großen aus. Gerhard Schmitz merkt zu c. 7 in seiner Edition der Kapitulariensammlung des Ansegis an: „Die Urheberschaft Karls des Großen ist nicht völlig gesichert, aber wahrscheinlich“ (Schmitz G 1996, S. 591 Anm. 170).

Auf inhaltlicher Ebene ist der Nachweis der Zuschreibung an einen Herrscher freilich nur schwer zu erbringen. Wohl lassen sich sowohl für c. 7 als auch für c. 8 inhaltsverwandte Kapitel unter den Kapitularien Karls des Großen finden, wie bereits Boretius (Boretius 1883, S. 214) bemerkt: Kapitel 7 des Capitulare legibus additum (BK 39, von 803) ähnelt unserem c. 7 in Aufbau und Inhalt leicht. Es könnte sich bei unserem Kapitel um eine Vorlage oder Präzisierung des Kapitels handeln – letzteres wäre freilich auch unter Ludwig dem Frommen möglich. Kapitel 16 eines Aachener Kapitulars (Capitulare Aquisgranense, wohl von 802/803, BK 77) nennt wie auch unser c. 8 Gründe, aus denen ein Vasall seinen senior verlassen darf. Hier sind es allerdings nur vier (statt fünf) Gründe, die angeführt werden. Zudem stimmen – selbst bei großzügiger Auslegung – nur zwei der genannten Gründe überein: Erstens der Versuch den Vasallen zu töten und zweitens ein Unzuchtdelikt mit der Ehefrau des Vasallen, wobei c. 16 des Capitulare Aquisgranense auch die Tochter des Vasallen nennt.

Ein Blick auf die handschriftliche Überlieferung der Kapitel scheint also zwingend notwendig, um die Frage der Zuschreibung zu beantworten. Zumindest in Bezug auf c. 7 findet sich ein starkes Argument für eine Entstehung unter Karl dem Großen im Codex Bodmer 107: Der Kapitularienteil dieser Handschrift besteht ausnahmslos aus Kapitularien Karls des Großen – das enthaltene c. 7 wäre also der einzige Text aus der Zeit Ludwigs. Allerdings muss hier einschränkend angemerkt werden, dass die Handschrift unvollständig ist – sie bricht mit fol. 143 ab, auf der unser Kapitel enthalten ist. Hubert Mordek vermutet allerdings, dass sich auch das verlorene Material aus Kapitularien Karls speiste und verweist in diesem Zusammenhang auf die mit der Handschrift verwandten Codd. Vatikan Reg. Lat. 1036, Reg. Lat. 1728, Nürnberg Cent. V, App. 96 und St. Petersburg Q. v. II. 11. Letzte Zweifel am Entstehungszeitpunkt können aufgrund der Beschädigung der Handschrift freilich nicht ausgeräumt werden.

Schwieriger gestaltet sich die Situation für c. 8 beziehungsweise für die gemeinsamen Überlieferungen unserer Kapitel. Kapitel 7 folgt sowohl im Liber Papiensis, als auch in den drei Überlieferungsträgern (Ivrea, Cava und Chigi) auf Kapitel der Notitia Italica (BK 88) Karls des Großen. In allen Fällen finden sich zudem Kapitel der sogenannten Capitula legibus addenda (unmittelbar) (BK 139) hinter unseren Kapiteln, Teile der Capitula legi addita (BK 134) und der von Boretius Item capitula legi addita (BK 135) genannten Kapitel im näheren Umfeld unseres Kapitelblocks. Es ergibt sich folgendes Bild:

Anmerkung zur Abb.: Durch Blattverlust in Ivrea, BC, XXXIII nach c. 2 der Capitula legibus addenda ist davon auszugehen, dass auch weitere Kapitel dieses Kapitulars ursprünglich in der Hs. enthalten waren. Dies ist auch in der Schwester-Hs. Ivrea XXXIV der Fall – allerdings beziehen die beiden Handschriften diesen Text aus unterschiedlichen Quellen (vgl. Blogpost zur Sammlung des Monats November 2022).

Es scheint, dass die insgesamt sechs Stücke bereits in einer früheren Sammlung einen Block gebildet haben. Alle Überlieferungsträger sind zudem um die Zuschreibung der enthaltenen Kapitularien an konkrete Herrscher bemüht. In den Handschriften Cava und Chigi, ebenso wie im Liber Papiensis, findet sich unser Block am Anfang ebenjener Stücke, die Ludwig dem Frommen zugeschrieben werden. Dieser Umstand wird wohl auch Pertz – der ja nur Cava und Chigi für seine Edition verwendete – zu seiner Einschätzung bewogen haben, dass cc. 7 und 8 von Ludwig stammen. Die Zuschreibung der Kapitularien an Ludwig in Cava und Chigi ist allerdings in Bezug auf die Notitia Italica falsch. Da, wie oben beschrieben, auch c. 7 wahrscheinlich von Karl stammt, wäre hier ein weiterer Zuschreibungsfehler durchaus wahrscheinlich. Cava und Chigi scheinen insgesamt wenig zuverlässig – insbesondere, da sie auch über unseren Fall hinaus jeweils weitere eindeutige Fehlzuschreibungen enthalten.

Die dritte Handschrift, in der sich der Kapitularienblock um unsere cc. 7 und 8 findet – Ivrea XXXIII – enthält eine abweichende Zuschreibung: Die Notitia und cc. 7 und 8 bilden die letzten Kapitel, die Karl dem Großen zugeschrieben werden, mit c. 1 der Capitula legi addita beginnt – nach entsprechendem kurzem Prolog – der Kapitularienteil Ludwigs des Frommen. Da hier sowohl die Notitia und c. 7 als auch die Capitula legi addita, Item capitula legi addita und die Capitula legibus addenda allesamt korrekt zugeschrieben werden, ist es nicht unwahrscheinlich, dass auch c. 8 – der letzte mit Unsicherheit behaftete Text – dem korrekten Herrscher zugeordnet wurde. Diese Vermutung wird umso wahrscheinlicher, als dass sich auch unter den insgesamt 17 Kapitularien (und kapitulariennahen Texten) im vorangehenden Kapitularienteil Karls des Großen ausschließlich solche Texte finden, die auch tatsächlich unter ihm entstanden sind. Wenn wir also die Handschrift Ivrea als zuverlässiger einstufen als Cava und Chigi, scheint sich auch für c. 8 eine Entstehung unter Karl dem Großen anzubieten. Dieser Befund deckt sich auch mit den Überlegungen von Sören Kaschke (vgl. Blogpost zur Sammlung des Monats Juni 2022). Vollständig nachweisen lässt sich dies allerdings – wie auch für c. 7 – nicht.

Abschließend festzuhalten ist also, dass es sich bei unseren Kapiteln vermutlich nicht um Kapitel eines Kapitulars handelt, sondern um zwei unabhängig voneinander entstandene Texte. Für beide Texte kann nicht endgültig geklärt werden, ob sie unter Karl dem Großen oder erst unter Ludwig dem Frommen entstanden sind. Während für c. 7 Einiges darauf hindeutet, dass es bereits unter Karl entstand, sind die Indizien für c. 8 dünner. Dennoch scheint auch hier eine Entstehung unter Karl etwas wahrscheinlicher als unter Ludwig.

D. Leyendecker

Literatur:

Baluze 1677, S. 395-396
Pertz 1835, S. 196
Boretius 1883, S. 214–215
Mordek 1995, S. 113–118
Schmitz G 1996, S. 591 Anm. 170
Sören Kaschke, Sammlung des Monats Juni 2022
Britta Mischke, Sammlung des Monats November 2022

Empfohlene Zitierweise
Dominik Leyendecker, Kapitel des Monats Dezember 2022: Die Kapitel 7 und 8 der Capitula Francica, in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/kapitel-des-monats-dezember-2022/ (abgerufen am 22.12.2024)