Das Prooemium generale Ludwigs des Frommen (BK 137) im Kurzschrift-Gewand
Ein Werkstattbericht
Der um 830 in Tours entstandene Latinus 2718 der Pariser Nationalbibliothek ist kein Unbekannter in der historischen Forschung. Durch seine Zuordnung zum sog. Leges-Skriptorium und durch die nur hier überlieferten Kapitularien und Formeln stand er häufig im Fokus des Interesses. Zuletzt hat meine Kollegin Sarah Patt der Handschrift und den sog. Formulae imperiales, die dort verstreut zu finden sind, ein ganzes Buch gewidmet. Daher soll der Codex an sich hier auch nicht im Zentrum stehen. Für einführende Informationen sei auf den Online-Beitrag der Kollegin verwiesen.
Eine weitere der zahlreichen Besonderheiten dieser Handschrift ist die Tatsache, dass sehr viele Texte größtenteils in tironischen Noten geschrieben sind. Martin Hellmann, einer der besten Kenner dieses Kurzschrift-Systems, hält allgemein fest: „Die Schriftdenkmäler der tironischen Noten sind fast ausschließlich in Handschriften und Urkunden aus dem frühen Mittelalter zu finden“ (Hellmann 2000, S. 6). Die nach dem Privatsekretär Ciceros benannte Kurzschrift wurde gerade in der Karolingerzeit rege benutzt, was ihre Verwendung vor allem in Rechts- und theologischen Texten sowie Kommentaren unterstreicht. Der Latinus 2718 gehört aber zu jenen Handschriften, die – laut Hellmann – eher zu den Kuriosa zu zählen sind, da die Noten sonst nicht als „eigenständige und der Langschrift gleichberechtigte Schriftart verwendet wurden“ (S. 14), sondern zumeist nur für kurze Anmerkungen genutzt wurden.
Da sich unsere digitale Edition für den jeweils spezifischen Text eines Herrschererlasses in den einzelnen Handschriften interessiert, ist es unumgänglich, sich mit tironischen Noten auseinanderzusetzen. Mir fiel nun die Aufgabe zu, das Prooemium generale Ludwigs des Frommen (BK 137) aus dem Jahr 818, das fast komplett in tironischen Noten geschrieben ist, zu transkribieren. Dieses selten überlieferte Kapitular ist nur im Parisinus und im Codex Kopenhagen, Kongelige Bibliotek, Gl. Kgl. Saml. 1943. 4° zu finden. Das Kurzschrift-System war mir zwar dem Namen nach schon vorher bekannt, aber ich hatte mich nie näher damit befasst. Da ich mich in meinem Dissertationsprojekt mit Handschriften römischen Rechts beschäftige und dort zuweilen ebenfalls tironische Noten zu finden sind, war meinerseits aber schon großes Interesse und ausreichend Neugier vorhanden.
Wie aber vorgehen? Ich fand schnell heraus, dass das Prooemium schon öfter ediert worden war. Boretius/Krause nennen die Ausgaben von Pierre Carpentier und Wilhelm Schmitz und geben ihren eigenen Editionstext nach dem von Schmitz wieder. Allgemeine Informationen über die Noten habe ich Martin Hellmanns Dissertation entnommen, was dabei half, ein erstes Verständnis für dieses Kurzschrift-System zu entwickeln. Nun aber zuerst ein kurzer Blick auf die Handschrift selbst. Beim Prooemium fällt sofort auf, dass die Noten die Hauptschrift sind, die Minuskel nur eine untergeordnete Rolle spielt:
Abb.: Paris, BNF, Lat. 2718: Das Prooemium generale auf fol. 78r (© gallica.bnf.fr).
Durch den Text von Schmitz’ Edition, der in seinem Apparat auch immer wieder auf Carpentier und auf die Handschrift selbst verweist, hatte ich eine gute Grundlage für meine eigenen Entzifferungsversuche. Drei Hilfsmittel haben sich dabei für den Laien als sehr nützlich erwiesen: zum einen das Lexikon von Ulrich Friedrich Kopp, das als zweiter Teil seiner Palaeographia critica erschienen ist und auf das Schmitz in seiner Edition ebenfalls hinweist; zum anderen Martin Hellmanns „Hypertext-Lexikon der tironischen Noten“ und eng damit verbunden die Rückwärtssuche für tironische Noten im Online-Angebot der MGH, die direkt mit Hellmanns Lexikon verknüpft ist. Da der Text von Schmitz, der sich als größtenteils sehr zuverlässig herausstellte, vorlag, leistete gerade die Rückwärtssuche der MGH sehr gute Dienste, da man so wusste, was an den entsprechenden Stellen stehen soll, und man ausgehend von einer sicheren Lesung der Noten allmählich ein Gefühl dafür entwickeln konnte, nach welchen Prinzipien sie gebaut waren. Mit fortschreitender Arbeit wurde das Entziffern dann auch flüssiger, und ich wusste, wie ich suchen musste, um die Noten und damit zusammenhängend die Editionstexte nachvollziehen zu können. So war es mit der Zeit auch möglich, die Eigenheiten des Schreibers kennenzulernen und besser zu verstehen, wie er die Noten zusammensetzte und auf welche spezifische Art und Weise er sie überhaupt schrieb. Gerade Letzteres ist nicht unbedeutend, kommt es doch teilweise darauf an, in welchem Winkel, welcher Neigung oder welcher Stärke der Strich oder die Linie geschrieben wird, da dies für die Bedeutung einer Note relevant ist. Leider hielt sich der mittelalterliche Schreiber nicht immer an die “normalisierte” Schreibweise, die mir meine Hilfsmittel vorgaben… Nach einiger Zeit war mir aber der persönliche Stil vertraut, sodass seine Eigenheiten mich nicht mehr irritierten.
Im Zusammenhang mit der genauen Schreibweise der Noten ist es daher hilfreich gewesen, dass Carpentier in seiner Edition seinem Text Tafeln vorschaltet, auf denen die Folio-Seiten des Latinus 2718 faksimileartig abgebildet sind. Die Noten waren dort nämlich „normalisierter“, d.h. in akkuraterer Weise gezeichnet, als es de facto der Fall ist, wodurch mir aber klarer wurde, welche Note gemeint ist.
Zwei Beispiele mögen die Arbeit mit den tironischen Noten illustrieren:
Abb.: Paris, BNF, Lat. 2718: Beginn des Prooemium generale auf fol. 78r, Z. 13 (© gallica.bnf.fr)
Wenn man die Noten auflöst, kommt die Invocatio des Prooemium zum Vorschein:
Kommt man mit der Rückwärtssuche der MGH und Hellmanns Hypertext-Lexikon nicht weiter, dann lohnt sich ein Blick in Kopps Lexikon. Weiterhelfen konnte es z.B. in diesem Fall, den ich über die Online-Angebote nicht recherchieren konnte:
Abb.: Paris, BNF, Lat. 2718, fol. 78r, Z. 19 (© gallica.bnf.fr) und Kopp, Palaeographia critica 2, S. 189.
Diese Verbindung von zwei Wörtern ist an sich einfach, wenn man die Einzelbestandteile betrachtet: . In und scriptura – Stellt man sich die Noten zusammen vor, kann man darin gut eine Ligatur sehen, bei der der in-Strich den s-förmigen Teil der scriptura-Noten ersetzt – so zumindest meine Vermutung. Wirklich verifiziert werden konnte die Notenfolge dann durch Kopps Eintrag. Eine kleine Besonderheit ist, dass der Schreiber – eventuell zur Verdeutlichung – einen Strich durch die Note zieht, in welchem man die Endungsnote für is erkennen kann: .
Nachdem das Prooemium fertig transkribiert war, war ich erst einmal erleichtert. Ich hatte viel gelernt und war in eine neue, spannende Welt eingetaucht. Ich würde (noch?) nicht behaupten, dass ich tironische Noten lesen kann, aber mein Verständnis für diese Kurzschrift ist durch die praktische Arbeit wesentlich größer geworden. Der nächste Transkriptionsauftrag wartet allerdings schon: das Capitulare ecclesiasticum (BK 138) schließt unmittelbar an das Prooemium generale (ab fol. 78v) an und ist ebenfalls zum Großteil in tironischen Noten geschrieben. Diesmal stolze 29 Kapitel lang…
D. Trump
Zur Handschriftenseite (Beschreibung nach Mordek und Transkription)
Literatur:
Boretius 1883, S. 273-275
Carpentier, Pierre, Alphabetum Tironianum, seu notas Tironis explicandi methodus […], Paris 1747, S. 2-5.
Hellmann M 2000, vor allem S. 6-22, 54-73
Kopp 1817-1829, Bd. 2
Mordek 1995, S. 422-430
Patt S 2016
Schmitz W 1882-1883, Bd. 1, S. 45-47