Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Handschrift des Monats Juni 2016: Paris, BN, Lat. 4419

Ein Neufund in einer Handschrift mit römischem Recht

Hubert Mordeks “Bibliotheca capitularium” (Mordek 1995) ist nicht nur für dieses Projekt, sondern generell für die Erforschung mittelalterlicher (Rechts-)Handschriften eine unverzichtbare Grundlage. Aber selbst in dem über 1150 Seiten starken Werk sind nicht alle Handschriften mit Kapitularien verzeichnet, so der Pariser Latinus 4419, den man im Handschriftenregister vergeblich sucht. Was hat es also mit diesem Codex auf sich?

Im Zuge der Arbeiten für das Bibliotheca legum-Projekt, das alle Handschriften des weltlichen Rechts des frühen Mittelalters in einer Datenbank zusammenstellt, wurde auch Gustav Hänels Edition der Lex Romana Visigothorum, des wichtigsten Corpus römischrechtlicher Texte im Frankenreich, durchgesehen. Ein Vorteil seiner Edition ist, dass er neben der Lex auch deren Kurzfassungen bzw. kürzende Bearbeitungen edierte, so auch die in nur drei Handschriften auf uns gekommene sog. Epitome monachi, die wohl in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts entstanden ist (Liebs 2002). Zu diesen Handschriften zählt auch der Latinus 4419.

In Hänels Beschreibung des wohl im 10. Jahrhundert in Frankreich entstandenen, 78 Blätter umfassenden Manuskripts weist er auf ein Kapitel hin, das sich auf fol. 1v befinden soll. Eine Identifizierung des Texts hat er allerdings nicht vorgenommen. Trotz dieses – wenn auch nicht sehr eindeutigen – Hinweises hat es die Handschrift nicht in Mordeks monumentale “Bibliotheca capitularium” geschafft. Es lohnt sich daher ein etwas genauerer Blick auf das Folium mit dem nicht näher beschriebenen Kapitel:

Abb.: Paris, BN, Lat. 4419, fol. 1v (©Gallica)

Es handelt sich bei diesem Stück um c. 10 von BK 139, also der Capitula legibus addenda Ludwigs des Frommen von 818/819, das hier auf einem beigebundenen Pergamentblatt dem römischen Recht der Epitome monachi vorausgeht. Es ist mit der Überschrift DE FALSIS TESTIBVS CONUINCENDIS versehen. Interessant ist die darüber befindliche, leider durch den Beschnitt der Pergamentblätter etwas beeinträchtigte Überschrift, die auch schon Hänel wiedergibt. Dort steht: KAROLI cap(itulum) [Hänel: caput] decimu(m) . Legis salicae LX. Das Kapitel wird also nicht Ludwig dem Frommen, sondern dessen Vater, Karl dem Großen, zugeschrieben, und nicht den leges allgemein, sondern nur der Lex Salica zugeordnet, so wie es auch andere Handschriften tun (Boretius 1883, S. 280). Nach der Niederschrift des Kapitels blieb der Rest der Seite frei. Hänels Unsicherheit, ob denn auch wirklich die Zahl LX zu lesen sei, wie er in einer Fußnote erwähnt (Hänel 1849, S. LXXXII, Anm. 345: “Scriptum esse puto in codice LX; in schedis meis pallore numerus fere evanuit.”), kann durch das gute Farbdigitalisat der Bibliothèque Nationale ausgeräumt werden, bei dem kein pallor das Entziffern erschwert.

Wie wichtig solche Neufunde sind – auch wenn der Umfang des überlieferten Materials gering ist –, zeigt der Umstand, dass diese spezielle Fassung des Kapitels in einer weiteren Handschrift, die Mordek in seiner “Bibliotheca capitularium” verzeichnet, zu finden ist: Paris, BN, Lat. 18237. Beide Handschriften haben Boretius/Krause übrigens nicht für ihre Edition herangezogen bzw. nicht gekannt. Im Latinus 18237 hat eine Hand des 16. Jahrhunderts auf hinzugebundenen Papierblättern (hier: fol. 96 bis) ebenfalls nur c. 10 der Capitula legibus addenda kopiert:

Abb.: Paris, BN, Lat. 18237, fol. 96 bis r (©Gallica)

Schon die Überschrift, die das capitulum Karl dem Großen zuordnet und in Verbindung mit der Lex Salica bringt (allerdings ohne die Nennung einer Zahl), deutet auf eine nahe Verwandtschaft zur Kopie in Paris Lat. 4419 hin, auch wenn hier statt des zehnten Kapitels von cap(itulum) vltimu(m) die Rede ist. Wenn man bedenkt, dass der obere Teil der Überschrift dem Beschnitt der Seiten im Latinus 4419 zum Opfer gefallen ist, kann man sich gut vorstellen, dass vltimum aus decimum verlesen worden ist. Beide Handschriften teilen zudem einige Lesarten, sodass der Nachtrag aus dem 16. Jahrhundert durchaus auf unseren Neufund zurückgehen kann.

Anhand der Latini 4419 und 18237 lässt sich gut zeigen, dass man selbst auf Basis einer relativ schmalen Textgrundlage Abhängigkeitsverhältnisse von Handschriften herausarbeiten kann. Dieses Beispiel macht zudem deutlich, welche Relevanz z.B. beigebundene Blätter eines Codex haben können – Teile also, die nicht zur ursprünglichen Anlage einer Handschrift gehörten.

D. Trump


Zur Handschriftenseite (Beschreibung nach Mordek und Transkription)


Referenzen:
Beschreibung der Handschrift Paris, BN, Lat. 4419 und Blogpost zum Fund auf den Seiten der Bibliotheca legum
Boretius 1883
Hänel 1849
Liebs 2002, S. 249-254 (zur Epitome monachi)
Mordek 1995, S. 612-616 (zu Paris Lat. 18237)

Empfohlene Zitierweise
Dominik Trump, Handschrift des Monats Juni 2016: Paris, BN, Lat. 4419, in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/handschrift-des-monats-paris-bn-lat-4419/ (abgerufen am 05.11.2024)