Der aus dem Besitz des Klosters Tegernsee stammende Clm 19416 enthält in seinem älteren, ersten Teil eine italienische Kapitulariensammlung, die am Ende des 9. Jahrhunderts wohl in Südbayern aus einer unbekannten Vorlage abgeschrieben wurde. Im Unterschied zu anderen italienischen Sammlungen, die die fränkischen Herrschererlasse mit dem Langobardenrecht oder anderen Leges kombinieren, tradiert die Sammlung (von kleineren Einsprengseln abgesehen) ausschließlich Kapitularienrecht.
Die von Mordek konstatierte enge Verwandtschaft zu anderen Handschriften, die einen typisch italienischen Überlieferungszweig der Kapitularien repräsentieren, wird in einer spezifischen Textgestalt erkennbar. So ist das c. 17 des Capitulare Haristallense (BK 20) auf zwei Kapitel aufgeteilt und dem Capitulare legibus additum von 803 (BK 39) fehlt c. 9, das stattdessen nach c. 12 des Capitulare missorum (BK 40) als 13. Kapitel eingeschoben wird – zwei Merkmale, die sich z.B. auch in den Kapitulariensammlungen der Codices Ivrea XXXIII und XXXIV sowie Wolfenbüttel Cod. Guelf. Blankenb. 130 wiederfinden.
Boretius beurteilte die Handschrift wegen ihres „klaren und unverfälschten“ Textes sowie der Vollständigkeit und korrekten Trennung der einzelnen Stücke als wertvoll. Allerdings zeigt sich an den z.T. stark entstellenden Schreibungen einzelner volkssprachlicher Wörter, dass der Kopist (oder der italienische Schreiber seiner Vorlage?) deren Bedeutung anscheinend nicht verstand. Das Wort „scaftlegi“ (= Niederlegung der Waffen, BK 192 c. 13) wurde bei ihm zu „scat legi“, und mit dem Begriff „herisliz“ (= Fahnenflucht, BK 98 c. 3) konnte er offenbar ebenso wenig anfangen und versuchte, es in eine lateinische Form umzubilden, was zu “eris lex” führte.
Eine neuzeitliche Hand hat im gesamten Kapitularienteil der Handschrift Spuren intensiver Benutzung hinterlassen. Es finden sich korrigierte Wörter, Anstreichungen von Textpassagen, Unterstreichungen einzelner Wörter und Kommentare. Einiges spricht dafür, hinter diesen Spuren den ersten Editor der Sammlung zu vermuten – Veit Amerbach, der die Sammlung im Jahr 1545 unter dem Titel Praecipuae constitutiones Caroli Magni de rebus ecclesiasticis et civilibus im Druck herausgab. So finden sich etwa an den meisten Stellen, an denen im Codex volkssprachliche Begriffe unterstrichen wurden, Erläuterungen zu ebendiesen Begriffen in Amerbachs Druck.
Links: München, BSB, Lat. 19416, fol. 70v: “theutisca lingua … eris lex” unterstrichen, Stelle am Rand markiert; rechts: Druck von Amerbach, fol. 82r: Erläuterung zu “Eris lex” (© BSB München)
Und an einer Stelle, an der im zweiten Missi-Kapitular von Diedenhofen (BK 44) in c. 7 unter den genannten Orten, an denen Handel getrieben werden sollte, der Name „adaluesstat“ (korr. zu „adalgesstat“?) auftaucht, schrieb der Benutzer an den Rand „Halberstat“ – eine Identifizierung, die sich ebenfalls bei Amerbach findet (fol. 68v: „Sic Aluestat, quae iam, ni fallor, Halberstat …“), wohingegen es Pertz und Boretius für ein heute nicht mehr existierendes „Halazstadt“ (bei Bamberg) hielten.
Oben: München, BSB, Lat. 19416, fol. 57v: “Halberstat” als Randnotiz neben “adaluesstat”; unten: Druck von Amerbach, fol. 68v: Identifizierung von “Aluestat” mit Halberstadt (© BSB München)
Bei seinen ausführlichen Sachkommentierungen musste Amerbach an einigen Stellen, die der Kopist offenbar verballhornte oder aus seiner Vorlage falsch abschrieb, bisweilen auch kreativ werden.
So liest man zu c. 4 des Capitulare legi Ribuariae additum (BK 41) auf fol. 62v seiner Edition neben einer Erläuterung zu „uuadium“ (= Pfand) auch einen Erklärungsversuch des kryptischen Begriffs „clesoniste“, der sich auf fol. 52r in der Handschrift findet. Die Stelle lautet dort: „In eodem cap(itulo) clesoniste aut DC sol(i)d(os) conponat.“ Das hier kopierte Kapitular enthält Ergänzungen zum Volksrecht der Ribuarier, auf das jeweils mit Angabe des entsprechenden Kapitels Bezug genommen wird. Mit „eodem capitulo“ ist in diesem Fall Lex Ribuaria tit. 19 gemeint, in dem es um die Strafen für den Raub einer Schweineherde geht: „De soniste“. In der Handschrift, die dem Kopisten als Vorlage diente, stand vermutlich “In eodem capitulo: de soniste …”, was er ganz offensichtlich zu „clesoniste“ verlesen hat; ein Wort, das es nicht gibt. Doch Amerbach vertraute dem Wortlaut des Codex und sah darin einen ihm unbekannten, altertümlichen Rechtsbegriff, dessen Bedeutung er sich aus dem Kontext zu erschließen versuchte. Und so spekulierte er: „Clesoniste, uidetur significare reum, hoc est eum, qui accusatur.“ („Clesoniste scheint den reus zu bezeichnen, also denjenigen, der angeklagt wird.“) So wurde aus der Strafe von 60 Solidi, die man laut der Lex Ribuaria für den Raub einer „Schweineherde“ zu zahlen hatte, eine Strafe, die „der Angeklagte“ entrichten sollte – für was auch immer, denn der inhaltliche Bezug zum geraubten Gut blieb bei diesem Missverständnis auf der Strecke.
Links: München, BSB, Lat. 19416, fol. 52r: Unterstreichungen bei „In uuadium … mititere [sic]“, „clesoniste“, oben am Seitenrand: “vvadium”; rechts: Druck von Amerbach, fol. 62v: Erläuterungen zu “uuadium” und “clesoniste” (© BSB München)
Auch wenn Amerbach den Charakter der Sammlung falsch deutete – er sah darin eine Bestätigung von Kapitularien Karls des Großen durch Lothar I., was schon Pertz als Irrtum erkannte –, so bleibt sein Erstdruck mit der ausführlichen Kommentierung doch eine für das 16. Jahrhundert beeindruckende Leistung. Dass er die Originalhandschrift nicht mit der nach heutigen archivalischen Standards gebotenen Vorsicht behandelte, sondern sie im wörtlichen Sinne „bearbeitete“, wird man ihm nachsehen …
B. Mischke
Zur Handschriftenseite (Beschreibung nach Mordek und Transkription)
Zum Blogpost “Handschrift des Monats April 2018” (Zweiter Blogpost zu dieser Handschrift)
Literatur:
Amerpach 1545
Boretius 1864, S. 42-47
Bougard 1995, S. 31, 37-39, 42
de Sousa Costa 1993 S. 61 f., 283, 289
Mordek 1995, S. 357-364
Pertz G 1835, S. XXV f.