Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Handschrift des Monats Juni 2018: Paris, BnF, Lat. 4626

Die Rechtshandschriften des frühen Mittelalters erinnern nicht selten an Matrjoschka-Puppen: Sie bestehen aus mehreren Einzelteilen und sind ineinander verschachtelt. Hubert Mordek hat in seiner Bibliotheca capitularium mehrfach auf dieses Phänomen hingewiesen. In den seltensten Fällen lassen sich die Bestandteile historischen Persönlichkeiten zuweisen. Die Pariser Handschrift der Bibliothèque Nationale 4626 ist ein solcher Fall. Sie wurde im frühen 11. Jahrhundert geschrieben, wohl für die Dombibliothek des Bischofs von Mâcon in Burgund. Der Kern der Handschrift stammt aber noch aus der Zeit Karls des Großen und umfasst das fränkische Rechtsbuch Lex Salica sowie einige der wichtigsten Kapitularien Karls des Großen. Eine Rubrik erlaubt uns die Zuschreibung dieses Kerns an Bischof Jesse von Amiens, der zu den engen Vertrauten Karls zählte und für ihn Gesandtschaften nach Rom und nach Konstantinopel unternahm (Depreux 1997a S. 408 f.). Auf fol. 23v ist zu lesen: EXCARPSV CAPLI. DOMNO IMPERATORE KAROLI QVEM IESSE EPISCOPUS EX ORDINATIONE IPSIUS AUGVSTI secum detulit omnibus hominibus notum faciendum.

Abb.: Paris, BnF, Lat. 4626, S. 43/fol. 23v (Ausschnitt). (© GALLICA).

Die Sammlung passt zu einem kirchlichen Amtsträger, weil sich darunter ein Kapitular befindet, das speziell an Bischöfe adressiert ist (BK 43). Die zentrale Stellung der Lex Salica am Anfang der Handschrift entspricht der Tatsache, dass sich Amiens im Geltungsgebiet des fränkischen Rechts befindet. Aufgrund der Textkritik können wir die Sammlung sogar noch präziser einordnen und mit anderen Sammlungen in Beziehung setzen (Glatthaar 2013 S. 448; Ubl 2018 S. 69).

Zu dieser ältesten Schicht fügte wohl noch Jesse von Amiens selbst die Aachener Gesetzgebung von 818/819 an. Als Bischof nahm er alle Texte der Gesetzgebung Ludwigs des Frommen auf, auch das Capitulare ecclesiasticum, welches in Sammlungen weltlicher Amtsträger gewöhnlich fehlte. Diese Zusammenstellung entspricht sehr präzise den Intentionen Ludwigs des Frommen, der die Aachener Gesetzgebung als Fortschreibung des fränkischen Rechts und der Kapitularien Karls des Großen verstanden hat (Ubl 2017 S. 195-200). Genau diejenigen Kapitularien Karls, auf die Ludwig inhaltlich Bezug nimmt, sind in der Sammlung Jesses vorhanden. Darüber hinaus findet sich in dieser Handschrift am Anfang der Aachener Gesetzgebung eine singuläre Rubrik, die sowohl eine Zuschreibung des Textes an Ludwig den Frommen als auch eine richtige Datierung auf das Jahr 818 enthält. Dies sind Informationen, die sonst selten mitüberliefert werden. Die gesetzgeberischen Intentionen des Kaisers sind in diesem Fall weitgehend bewahrt worden.

Die nächste Anreicherung dieser Sammlung fand einige Jahrzehnte später statt. Jesse von Amiens hatte sich 830 an der Rebellion gegen den Kaiser beteiligt und starb 832 fern von seinem Bischofssitz im italienischen Exil (Patzold, Überlegungen, S. 159-169). Seine Sammlung geriet später in die Hände von Jonas, einem Notar der königlichen Kanzlei von Ludwigs des Frommen Sohn Karl dem Kahlen (vgl. Fees, Drei Urkunden; Pezé 2017 S. 203 f.). Dieser Notar stieg 850 zum Bischof von Autun in Burgund auf und ließ dort die Sammlung durch Gesetze Karls des Kahlen ergänzen. Eines davon (BK 266) ist ausdrücklich an die Königsboten Bischof Jonas und Graf Isembart adressiert. Dass Bischof Jonas und nicht der Graf der Urheber der Sammlung ist, wird durch die folgende Ansprache über die Verkündigung des Gesetzes nahegelegt, die man eher einem kirchlichen Amtsträger zuschreiben wird (BK 267).

Doch dies sind nicht die einzigen Ergänzungen. Darüber hinaus ließ Bischof Jonas von Autun eine Kopie des römischen und burgundischen Rechts an das Ende der Sammlung anfügen. Damit erhielt die Sammlung eine notwendige Erweiterung auf das regionale burgundische Gewohnheitsrecht sowie auf das römische Recht, das im Süden Galliens noch weitgehend praktiziert wurde. Dies ist insofern bedeutsam, als die Aachener Gesetzgebung Ludwigs des Frommen sonst in der Überlieferung keine enge Verbindung mit dem römischen Recht eingegangen ist. Auch inhaltlich gibt es kaum Berührungspunkte zwischen den Normierungen Ludwigs des Frommen und dem römischen Recht. In der Sammlung des Jonas von Autun wird somit der Aachener Gesetzgebung eine neue Bedeutung verliehen.

Auf welchen Wegen diese Sammlung in das benachbarte Mâcon kam und dort im 11. Jahrhundert abgeschrieben wurde, ist nicht bekannt. Bereits in der Vorlage der Handschrift muss dem Kopisten ein Fehler unterlaufen sein, wodurch die Abfolge der Lagen durcheinander geraten ist. Das Isidor-Exzerpt de legibus ist dadurch in zwei Teile zerrissen worden (fol. 25r in der Sammlung Jesses und fol. 47v-50v in der Sammlung Jonas‘). Vielleicht waren das Exzerpt sowie die vorgeschaltete Recapitulatio solidorum ursprünglich Teil der um die Lex Salica gruppierten Kompilation, wie der Vergleich mit anderen Sammlungen aus der Zeit Karls des Großen nahelegt. Eine Umgestaltung fand in Mâcon nicht mehr statt, aber man wird davon ausgehen können, dass in der veränderten politischen Situation des 11. Jahrhunderts im Frankreich der Kapetinger die Texte wiederum eine neue Bedeutung angenommen haben dürften.

K. Ubl


Zur Handschriftenseite (Beschreibung nach Mordek und Transkription)


Literatur:

Fees, Irmgard, Drei Urkunden des Bischofs Jonas von Autun und die (angebliche) Synode von Saints-Geosmes, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 51 (1995) S. 375-403
Depreux 1997a
Glatthaar 2013
Patzold, Steffen, Überlegungen zum Anlass für die Fälschung früher Papstbriefe im Kloster Corbie, in: Karl Ubl / Daniel Ziemann (Hg.), Fälschung als Mittel der Politik? Pseudoisidor im Licht der neuen Forschung (MGH Studien und Texte 57), Wiesbaden 2015, S. 153-172
Pezé 2017
Ubl 2017
Ubl 2018

Empfohlene Zitierweise
Karl Ubl, Handschrift des Monats Juni 2018: Paris, BnF, Lat. 4626, in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/handschrift-des-monats-juni-2018/ (abgerufen am 27.12.2024)