Verluste und Verwirrungen sind ein gängiges Problem bei der Arbeit mit der erhaltenen Überlieferung von Kapitularien. Im Falle einer Störung der ursprünglichen Gestalt einer Handschrift durch Lagenvertauschung, etwa nach einer Neubindung, lässt sich diese zum Glück oft noch mit hinreichender Sicherheit rekonstruieren. Wo sie sich erhalten haben, sind Kustoden dabei eine große Hilfe – die jedoch zuweilen auch selbst irreführend sein können. Beispielsweise finden sich in der ersten Hälfte der spätkarolingischen Rechtshandschrift Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 4613 aus Oberitalien durchgezählte Kustoden, in deren Reihe neben den ersten fünf Nummern auch die Nummer zehn fehlt.
Abb. Paris, BnF, Lat. 4613, fol. 31v und 38v: Kustoden 9 und 11 (© Gallica).
Die Vermutung liegt nahe, dass zu Beginn der Handschrift fünf Lagen im Laufe der Zeit verloren gegangen sind. Im Fall der zehnten Lage allerdings ergibt ein genauerer Blick auf den erhaltenen Text, dass hier, in den langobardischen Gesetzen König Liutprands, keine Lücke besteht und sich vielmehr der Schreiber bei der Durchnummerierung der Kustoden vertan haben muss (Mordek 1995, S. 469).
Im Schlussteil des aufgrund seiner zum Teil nur hier überlieferten Texte höchst wertvollen Pariser Codex finden sich keine Kustoden. Doch ist es auch hier, nach dem Lagenverlust zu Beginn und dem bloß scheinbaren Verlust nach fol. 31, zu einem (realen) Blattverlust gekommen. Zwischen fol. 91 und 92 klafft eine große Lücke im Text. Offenbar fehlt eine ganze Lage, und zwar, nimmt man die sechs vorangehenden Lagen als Indiz, wohl ein Quaternio.
Wie Steffen Patzold bereits herausgearbeitet hat, enthält die Handschrift eine Abfolge von Kapitellisten, die jeweils separat durchgezählt sind, aber innerhalb dieser Zählung stets Kapitel aus mehr als einem Kapitular enthalten bzw. in einem Fall ein Kapitular mit vier sonst nirgends überlieferten Zusatzkapiteln (Patzold 2007, S. 337-338). Vor dem hier interessierenden Lagenverlust begann die vierte Kapitelliste auf fol. 83v mit 33 unikalen Kapiteln aus dem Umfeld der Reformbemühungen Karls des Großen von 802 (ediert als BK 33, obwohl Patzold plausibel machen konnte, dass es sich bei dem disparat formulierten Material wohl nie um ein einzelnes Kapitular gehandelt hat). Es folgt der Beginn einer Admonitio (BK 121), ebenfalls wohl aus der Zeit um 801/802 (Buck 2002, S. 9). Dabei ist zunächst unklar, ob dieser Text die Kapitelliste fortsetzen oder eine neue Liste einleiten soll. Das Fehlen einer eigenen Rubrik spräche für ersteres, die aufwändig gestaltete Initiale eher für letzteres.
Der Text wird durch den Lagenverlust unterbrochen und fol. 92r beginnt entsprechend mit dem Schluss des letzten Kapitels von BK 141, an das sich unter der Nummer LXXXIIII ein Kapitel aus BK 191 anschließt.
Abb. Paris, BnF, Lat. 4613, fol. 92r: Seitenbeginn mit dem Schluss von BK 141 c. 29 (© Gallica).
Je nachdem, ob es sich hierbei um die Fortsetzung der auf fol. 83v begonnenen Liste handelt oder um den Schluss einer mit BK 121 auf fol. 91v neu eingesetzten Liste, fehlen hier also 49 oder 83 Kapitel (den Schluss von BK 141 jeweils eingerechnet). Was könnte nun auf den mutmaßlich 16 fehlenden Seiten gestanden haben?
Leider ist keine weitere Handschrift bekannt, die BK 33 oder genau die hier vorliegende Auswahl an Kapiteln von BK 191 enthält. Da die Handschrift mehrfach Kapitel und auch ganze Kapitularien unikal überliefert, ist es grundsätzlich durchaus möglich, dass uns mit den fehlenden Seiten auch weitere unbekannte Kapitularien verloren gegangen sind. Verschiedene Überlegungen könnten in dieser Hinsicht aber vielleicht Entwarnung geben, zumindest hinsichtlich umfangreicher Verluste an sonst nirgends erhaltenen Kapitularien.
Zum ersten ist BK 141, das zu einer Gruppe von 818/819 entstandenen Kapitularien gehört (BK 138-141), nur in einer der 18 Handschriften, die den Text überliefern, als einziges Stück dieser Gruppe enthalten: und zwar im vorliegenden Parise Codex Lat. 4613. Meist findet es sich gemeinsam mit BK 139 und BK 140 (so in 16 der 18 Handschriften), und in immerhin der Hälfte aller Fälle (9 von 18) dazu noch mit BK 138 kombiniert.
Weiterhin zeigt ein, notwendigerweise allerdings auf dünner Basis stehender, Vergleich der Lesarten der Handschrift mit dem Apparat der vorläufigen Edition von BK 141, dass sich eine größere Nähe mehrfach vor allem zu einem weiteren Pariser Codex zeigt, der Handschrift Lat. 18238. Diese Handschrift weist zudem die Besonderheit auf, dass dort alle vier Kapitularien in einem Block nacheinander und genau in der Reihenfolge der Edition stehen, d.h. mit BK 141 als letztem Stück.
Eine Betrachtung der früheren Kapitellisten ergibt, dass der Schreiber pro Quaternio etwa die Textmenge unterbrachte, die 300 Zeilen in der MGH Edition der Kapitularien entspricht, oder anders gerechnet: eine Handschriftenseite bietet Platz für knapp 19 Zeilen Editionstext. Der fehlende Text von BK 121 (das nicht in Kapitel untergliedert ist und daher wohl komplett und nicht auszugsweise kopiert war) benötigte etwa drei Seiten (58 Zeilen Editionstext). Auf den verbleibenden 13 Seiten hätten somit noch etwa 240 Zeilen für 49 oder eben 83 Kapitel zur Verfügung gestanden.
Alle vier Kapitularien zusammen (BK 138-141) umfassen 87 Kapitel mit etwas über 500 Zeilen. Der gesamte Text hätte also nicht auf den mutmaßlich noch verfügbaren Raum gepasst. Hier ist jedoch zu bedenken, dass die übrigen Kapitellisten der Handschrift in der Regel jeweils nur, im Umfang leider stark fluktuierende, Auszüge ihrer Kapitularien enthalten. Entsprechend kann davon ausgegangen werden, dass auch auf den verlorenen Seiten nicht vollständige Kopien von BK 138-141 standen, sondern nur eine mehr oder weniger reduzierte Auswahl an Kapiteln. Nimmt man, natürlich rein spekulativ und lediglich zur Abschätzung der möglichen Dimensionen, eine Kürzung um die Hälfte an, ergeben sich Werte, die erstaunlich gut passen würden: 43 Kapitel mit 250 Zeilen Editionstext für einen Schreibraum, der einem in 49 Kapitel aufgeteilten Textkorpus von 240 Zeilen Umfang Platz geboten hätte.
Selbstverständlich bleibt die genaue Identität des verlorenen Textes notwendigerweise im Dunkeln. Doch konnten diese Überlegungen es zumindest wahrscheinlich machen, dass der ab fol. 92r einsetzende Text noch Teil der auf fol. 83v begonnen Kapitelliste war.
S. Kaschke
Zur Handschriftenseite (Beschreibung nach Mordek und Transkription)
Literatur:
Mordek 1995, S. 469-476, 617-619
Buck 2002
Patzold 2007