Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Handschrift des Monats Juli 2016: Paris, BN, Lat. 4632

Ein Rechtshandbuch aus dem Besitz eines Laien

Der in der Mitte bis zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts im St-Amand-Stil geschriebene Pariser Latinus 4632 gehört zu jenen frühmittelalterlichen Kodizes, die ihren herausgehobenen Stellenwert erst auf den zweiten Blick enthüllen: Äußerlich schmucklos und unscheinbar, scheint der Kodex mit seiner Kompilation aus Leges- und Kapitularientexten wenig Auffälliges zu bieten und sich nahtlos in die Reihe der Sammlungen weltlichen Rechts einzufügen, wie wir sie vielfach aus fränkischer Zeit kennen. Was also macht ausgerechnet dieses Kompendium zu einem besonderen?

Man muss sich freilich bis zum letzten Blatt der Handschrift vortasten, bis sich nach einer Zusammenstellung der Leges Ribuaria und Salica, sechs anschließender Kapitularien der Kaiser Karl und Ludwig von 803 bzw. 816-820, die als Addenda zur Lex Salica betrachtet und auch entsprechend tituliert werden, sowie der Lex Alamannorum das wohl interessanteste Detail der Handschrift offenbart. Auf fol. 59v findet sich – im Anschluss an den Gesetzestext – ein sechszeiliges Kolophon, das den Laienadvokaten Autramnus als Verfasser des Manuskriptes ausweist, der dieses in der Kirche St. Stephan zu Templeuve (unweit St-Amand, Nordfrankreich) geschrieben habe:

Omnis labor finem abet, premium autem eius non abet finem. Quia sicut nauiganti desiderabilis est portus, ita scriptori nouissimus uersus. Quia tres digiti scribunt, unde totus corpus laborat; ego enim auttramnus indignus aduocatus laicus scripsi hunc librum in ecclesia sancti estefani in uilla Nomine templouia. precor uos omnes.

Abb. 1: Paris, BN, Lat. 4632, fol. 59v (© gallica.bnf.fr)

„Alle Arbeit hat ein Ende, ihr Lohn aber hat kein Ende. Denn so wie der Seemann den Hafen herbeisehnt, so sehnt sich der Schreiber nach der letzten Zeile. Weil drei Finger schreiben, leidet dadurch der ganze Körper; ich nämlich, Autramnus, unwürdiger Laienadvokat, habe dieses Buch in der Kirche St. Stephan in der uilla Templeuve geschrieben. Ich bete für euch alle.“

Hatte die ältere Forschung die Notiz noch weitgehend wörtlich aufgefasst und Autramnus als Verfasser des Kodex identifiziert, so wirft die auf den ersten Blick offenkundige Schreibernennung doch Fragen auf: Dem Urteil Bernhard Bischoffs zufolge kann es sich bei besagtem Autramnus aus paläographischer Sicht keinesfalls um den Urheber der Handschrift handeln. Laut Bischoff sind mehrere Hände an der Handschrift beteiligt gewesen, von denen keine mit dem Schreiber des Kolophons identisch ist. Hubert Mordek interpretiert das Kolophon denn auch dahingehend, dass der Kodex nicht etwa durch eigene Hand, sondern auf Veranlassung des Autramnus entstanden sei (Mordek 1995, S. 516). Entsprechende Deutungen finden sich auch in der jüngeren Literatur (z. B. West C 2009, S. 195 f.).

In der Tat kann kein Zweifel daran bestehen, dass mehrere Schreiber an der Handschrift gearbeitet haben. Die Schrift des Kolophons macht dabei im Vergleich zu den restlichen Händen einen verhältnismäßig flüchtigen Eindruck. Könnte dies noch der Schreibsituation geschuldet sein, so wirkt sie zugleich auch sehr viel kleiner und gedrungener. Die Schlussformel bedient sich überdies einer markanten or-Ligatur, die man in der Handschrift ansonsten vergeblich sucht, und ist frei von der mitunter sinnentstellenden Fehlerhaftigkeit des vorausgehenden Textmaterials. Wir werden in Autramnus somit nicht den Schreiber, sondern den Auftraggeber und Besitzer der Handschrift zu sehen haben, der das fertige Produkt mit der entsprechenden Notiz für sich reklamierte. Autramnus war vermutlich klösterlicher Rechtsbeistand der nahe gelegenen Abtei Marchiennes, zu der der Ort Templeuve gehörte. Tatsächlich spiegeln die enthaltenen Leges und die sie ergänzenden Kapitularien Benutzerinteressen und Bedürfnisse, wie man sie Autramnus in Ausübung seiner Funktion wird unterstellen dürfen. Charles West bringt es auf den Punkt, wenn er zusammenfassend schreibt (West C 2009, S. 196): „It is hard to imagine a clearer case of an advocate’s legal handbook.“ Neben weitverbreiteten Texten wie dem Capitulare legibus additum (BK 39), dem Capitulare missorum (BK 40) von 803 und den Capitula legibus addenda von 818/19 (BK 139) findet sich etwa auch ein einzelnes Kapitel der Capitula legi addita von 816 (BK 134 c. 2), das sich mit dem Erfordernis befasst, Personen nach ihrem je eigenen Recht zu richten, wie es das im Mittelalter übliche Personalitätsprinzip vorsah (siehe Abb. 2).

Abb. 2: Paris, BN, Lat. 4632, fol. 37r (© gallica.bnf.fr)

Durch dieses eher ungewöhnliche Exzerpt, das sich in dieser Form, d. h. unabhängig von den anderen Kapiteln, in keinem anderen Manuskript findet, erhellt nicht nur die Bedeutung der diversen in der Handschrift vertretenen Leges; es reflektiert, wie Charles West zu Recht anmerkt, auch eine sehr bewusste Wahl des Kompilators abseits undurchdachten Abschreibens einer beliebigen Vorlage (West C 2009, S. 196). Woher Autramnus seine Texte bezog, bleibt freilich ungewiss. In der Forschung sind größere Bildungszentren wie Corbie oder Reims in Vorschlag gebracht worden (Corbie: Boeren 1954, S. 51; Reims: West C 2009, S. 197), zu denen Autramnus als Laienadvokat von Marchiennes – über die Beziehung zu diesem Kloster hinaus – in Kontakt getreten sein könnte.

Soviel jedenfalls steht fest: Als weltliches Rechtskompendium im Besitz eines Laien stellt Paris Lat. 4632 einen nur selten bezeugten Ausnahmefall dar. Für die Lex Salica sind neben dem vorliegenden lediglich zwei weitere – mit den Namen Markgraf Eberhards von Friaul und Graf Eckhards von Mâcon verbundene – Beispiele aus dem 9. Jahrhundert bekannt. Aus rechtshistorischer Perspektive kann die Bedeutung der Überlieferung, wie sie uns mit der vorliegenden Handschrift gegeben ist, daher gar nicht hoch genug veranschlagt werden.

 

Sarah Patt

 

Zur Handschriftenseite (Beschreibung nach Mordek und Transkription)
Zur Handschriftenseite der ‚Bibliotheca legum‘
Zum Handschriftendigitalisat auf ‚Gallica‘
 

Literatur:

Bischoff 2014, S. 99
Boeren 1954, S. 50-52
Brunterc’h 1997, S. 415
McKitterick 1989, S. 42 Anm. 61, S. 47, 51 Tab. A, S. 59 f.
Mordek 1995, S. 516-518
Ubl, Karl, Sinnstiftungen eines Rechtsbuchs. Die Lex Salica im Frankenreich (Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter 9) [im Druck]
West C 2009, S. 195-198

Empfohlene Zitierweise
Sarah Patt, Handschrift des Monats Juli 2016: Paris, BN, Lat. 4632, in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/handschrift-des-monats-juli-2016/ (abgerufen am 22.11.2024)