Der Liber legum des Lupus
Die oberitalienische Handschrift Modena, BC, O. I. 2 wurde lange Zeit auf das Ende des 10. Jhs. datiert, könnte nach neueren Forschungen (Russo 1980, Braciotti 1998) aber wesentlich älter sein und schon aus dem Ende des 9. Jhs. stammen. Sie ist bekannt für ihre außergewöhnlichen Miniaturen, die frühmittelalterliche Gesetzgeber von den mythischen Weisen der Lex Salica bis zu den Karolingern zeigen. Die in ihr enthaltene Sammlung von Leges (Leges Salica, Ribuaria, Concordia de singulis causis = Leges Langobardorum, Leges Baiuvariorum sowie Alamannorum) und Kapitularien wird als der „Liber legum des Lupus von Ferrières“ identifiziert. Weitere Überlieferungszeugen dieses Rechtskompendiums sind der Codex Gotha, FB, Memb. I 84 (10./11. Jh., Mainz), der allerdings einige Unterschiede zu der Modena-Sammlung aufweist, sowie ein von Mordek neu entdecktes Freiburger Fragment (Freiburg i. Br., UB, Fragm. 65), das aber nur wenige Textbruchstücke enthält und im Folgenden nicht berücksichtigt wird.
Eine Besonderheit der Modena-Handschrift stellen die beiden Widmungsgedichte (fol. 10r-v, ed. Münsch 2001 S. 100f.) dar, die einen (nicht näher bezeichneten) Lupus als Verfasser sowie einen Evrardus (identifiziert als Markgraf Eberhard von Friaul) als Auftraggeber benennen. Darüber hinaus werden auch die Gesetzgeber genannt, deren Rechtstexte im Modeneser Codex enthalten sind; darunter auch die Frankenherrscher Karl der Große, seine Söhne Pippin von Italien und Ludwig der Fromme sowie dessen Sohn Lothar:
Quam pulchras poteris, si velis, forte videre
Effigies, lector, Francorum scema per ęvum!
En Carolus cum Pippino quam fulget in vultu,
En Hludowicus Cesar quamque Hlotharius heros,
Ipsorum quantum et leges per cuncta tonantes!
Die im Widmungsgedicht angesprochenen Darstellungen der Gesetzgeber (hier: Francorum scema; an anderer Stelle Depictos Salicos Francos, pictos multos Alamannos etc.) sind ebenfalls nur in dieser Handschrift enthalten; wenn man von einer fragmentarischen Federzeichnung zur Lex Salica im Gotha-Codex sowie den dort eventuell für Miniaturen freigelassenen Seiten vor den Leges Ribuaria und Langobardorum absieht (Gotha, FB, Memb. I 84, fol. 161r und 166v).
Abb.: Miniatur mit der Darstellung Karls des Großen und seines Sohnes Pippin als Gesetzgeber; Rubrik: Isti sunt qui constituerunt capitula congruentia omnium legum / Karolus christianissimus Imperator augustus . Pipinus gloriosus rex filius eius . Modena, BC, O.I.2 fol. 154v (© Archivio Storico Diocesano, Modena). Danach wurde ein Blatt herausgeschnitten, das nach der Vermutung Mordeks eine weitere Darstellung Ludwigs und Lothars enthalten haben könnte; eine solche fehlt nämlich im Modeneser Codex.
Den einzelnen Leges sind jeweils eigene Rubrikenverzeichnisse vorangestellt. Der Kapitularienteil wird durch Rubrikenverzeichnisse in drei Blöcke für die Kapitularien Karls des Großen, Pippins und Lothars unterteilt. Ein eigener Block für Ludwig den Frommen fehlt jedoch.
Nach Oliver Münsch, der dem Liber legum eine eigene Studie gewidmet hat, tradieren die beiden bekannten Hauptüberlieferungszeugen Modena und Gotha nur eine unvollständige Redaktion des Rechtsbuches. Er stützt seine These auf die Diskrepanz zwischen dem Inhalt des Widmungsgedichtes, in dem Ludwig der Fromme ausdrücklich als einer der Gesetzgeber genannt wird, und dem Fehlen eines eigenen Abschnittes mit dessen Kapitularien. Zwar sind einige Auszüge aus der Wormser Gesetzgebung Ludwigs von 829 enthalten, allerdings folgen sie chronologisch falsch auf die Kapitularien seines Sohnes Lothar und sind im Rubrikenverzeichnis zu dessen Kapiteln mit aufgeführt; dort werden sie ohne Nennung Ludwigs nur mit der pauschalen Rubrik It(em) cap(itulare) eingeleitet. Offenbar, so Münsch, habe ein Redaktor, der in den Spannungen zwischen Ludwig und Lothar in den 830er Jahren auf Seiten Lothars stand, einen ursprünglich umfangreicheren Teil mit weiteren Kapitularien Ludwigs absichtlich eliminiert (Münsch 2001 S. 87 f.). Für die Tatsache, dass einige Stücke Ludwigs dennoch in der neuen Redaktion enthalten sind, fand Münsch die Erklärung, dass die Wormser Gesetzgebung „wohl zu bedeutend [war], als daß man sie schlicht hätte auslassen können“ (ebd. S. 111).
Das betreffende Rubrikenverzeichnis ist allerdings nur in der Handschrift aus Modena enthalten (fol. 176v-177r).
Abb.: Rubrikenverzeichnis zu den Kapitularien Lothars (und Ludwigs), Modena, BC, O.I.2 fol. 176v-177r (© Archivio Storico Diocesano, Modena)
Im Gothaer Codex folgt der letzte Kapitularienblock nicht unmittelbar nach dem Kapitularienteil Karls und Pippins, sondern erst an viel späterer Stelle und in einem anderen Teil der insgesamt aus vier Teilen zusammengesetzten Handschrift. Es fehlt hier nicht nur ein Rubrikenverzeichnis, sondern jeglicher Hinweis darauf, dass die auf fol. 406v-409v kopierten Kapitularien und diejenigen Karls und Pippins auf fol. 215r-225v als Teil derselben Sammlung angesehen wurden.
Dieser Befund macht das singulär in der Modeneser Handschrift enthaltene Rubrikenverzeichnis umso interessanter. Lässt sich darin vielleicht ein Indiz dafür sehen, dass es (in der vorliegenden Fassung) kein ursprünglicher Bestandteil des Liber legum war, was die These Münschs von der Neuredaktion des letzten Kapitularienteils unterstützen könnte?
Bei einem Vergleich aller drei Rubrikenverzeichnisse des Kapitularienteils zeigt sich, dass sie keinem durchgängig einheitlichen Muster folgen. Allen gemeinsam ist nur, dass sie jeweils mit der Rubrik zur ersten Kapitelliste beginnen, die zugleich als Überschrift des gesamten Verzeichnisses fungiert. Dabei fällt jedoch nur das erste mit der Formulierung Incipiunt capitula legum domni Karoli prestantissimi imperatoris aus dem Rahmen; die beiden anderen ähneln sich stark: Incipiunt capitularis Pipini regis und Incipiunt tituli capitularis domni Lotharii imperatoris.
Auch im Aufbau weicht das Rubrikenverzeichnis zu den Kapitularien Karls des Großen (fol. 152r-154r) von den beiden anderen ab: alle darin enthaltenen Kapitellisten werden durch die Rubriken systematisch durchgezählt. Die erste, oben zitierte Rubrik zählt stillschweigend als I, danach geht es weiter: It. cap. sed. – It. cap. III – It. tituli cap. IIII – It. cp. Quinti – It. cp. VI.
Das Rubrikenverzeichnis zu den Stücken Pippins (fol. 169r-v) erscheint hingegen weniger konsistent. Auf die erste Rubrik Incipiunt capitularis Pipini regis (nicht, wie in Münschs Edition [Münsch 2001 S. 243], Incipiunt tituli capitularis Pipini regis; dieser Wortlaut findet sich nur in der Gotha-Handschrift!) folgt zweimal die pauschale Rubrik Item capitulare. Man sollte meinen, dass es sich um zwei weitere Stücke desselben Herrschers handelt – doch dem ist nicht so: Unter der zweiten und dritten Rubrik folgen nämlich gar keine Kapitularien Pippins, sondern solche Karls des Großen! (BK 20a, 22, 23, 39, 40, 95, 97) Und mehr noch: Auch in der ersten Kapitelliste, die ausdrücklich Pippin zugeschrieben wird, handelt es sich ab Position XV ausnahmslos nur noch um Auszüge aus Kapitularien Karls. Die Rubrik zu Position XV erwähnt ihn sogar explizit: Prelocutio domni Karoli de capitulis subiectis! Bis auf die Rubriken I-XIIII (= BK 94) sind also im Rubrikenverzeichnis, das angeblich die Kapitularien Pippins bieten soll, nur solche seines Vaters enthalten.
Dieser Befund stellt eine auffallende Parallele zum dritten Rubrikenverzeichnis dar, das angeblich nur die Kapitularien Lothars enthalten soll, aber faktisch auch solche seines Vaters Ludwig auflistet, die ebenfalls nur mit der Rubrik Item capitulare überschrieben werden. Nur hat in Bezug auf das Rubrikenverzeichnis Pippins – mit Recht – noch niemand den Verdacht geäußert, hierbei könnte eine absichtliche Falschzuschreibung der darin aufgelisteten Kapitularien Karls intendiert gewesen sein.
Das hier interessierende dritte Rubrikenverzeichnis fällt also gar nicht so sehr aus dem Rahmen und kann daher kaum als Indiz für die von Münsch angenommene Umarbeitung des letzten Kapitularienteils gelten. Gibt es vielleicht eine andere Erklärung für die geschilderten Ungereimtheiten?
Ein möglicher Erklärungsansatz wäre, dass die Rubrikenverzeichnisse im Kapitularienteil nicht systematisch von Lupus im Rahmen eines Gesamtkonzepts für den Liber legum entworfen wurden, sondern sich bereits in seinen Textvorlagen fanden (was für den Teil mit den Karlskapitularien wahrscheinlich ist) bzw. ad hoc anhand der in den Blöcken enthaltenen Texte erstellt wurden (was auf die beiden anderen Teile zutreffen könnte). Dann erklärt sich z.B. die Aufnahme des Capitulare Italicum (BK 98) als cc. XV-XXII in die mit Incipiunt capitularis Pipini regis überschriebene Liste damit, dass es in der Modena-Handschrift wie auch in anderen italienischen Kapitulariensammlungen direkt im Anschluss an ein Kapitular Pippins mit fortgesetzter Kapitelzählung folgt (vgl. Münsch 2001 S. 247 Anm. 232), so dass nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist, dass hier ein neues Kapitular eines anderen Gesetzgebers beginnt. Im Teil mit den Kapitularien Lothars und Ludwigs beginnt die Wormser Gesetzgebung Ludwigs zwar mit einer neuen Kapitelzählung, aber die Rubrik (Hec sunt capitula que aliqui ex missis nostris ad nostram notitiam detulerunt anno XVI imperii nostri) lässt ebenfalls nicht erkennen, dass sich hinter dem noster ein anderer Herrscher verbirgt als der in der ersten Rubrik einmal namentlich genannte Lothar – und hierbei handelt es sich um den üblichen Wortlaut der Rubrik, wie ihn auch zahlreiche andere Überlieferungen der Wormser Kapitularien bieten; Ludwigs Name wurde hier also nicht etwa eliminiert. Übrigens wird sein Name bei dem im Anschluss kopierten Text von BK 196 auch explizit in der Rubrik genannt (Rescriptum … ad domnum hludouuicum imperatorem; fol. 163r). Zwar ist der Text streng genommen kein Kapitular Ludwigs, weil das Schreiben ja von den Bischöfen ausging; da die darin enthaltenen Kapitel aber im Rubrikenverzeichnis aufgeführt werden, ist davon auszugehen, dass der Kompilator der Sammlung sie nicht von den anderen capitula unterschied. Ein absichtliches Verschweigen Ludwigs lässt sich also anhand der Rubriken im Text nicht nachweisen.
Die Diskrepanz zwischen dem Widmungsgedicht und dem fehlenden eigenen Teil für die Kapitularien Ludwigs bleibt dennoch weiterhin bestehen. Allerdings kann auch die These Münschs das Problem nicht zufriedenstellend lösen, denn es ist ja keineswegs so, dass sich die Eingruppierung von Kapitularien eines Herrschers unter diejenigen eines anderen, und damit eine indirekte “Falschzuschreibung”, nur im Teil Ludwigs und Lothars findet. Und wenn man nicht von den Zuordnungen in den Rubrikenverzeichnissen, sondern von den enthaltenen Texten selber ausgeht, sind sowohl von Pippin wie auch von Ludwig nur jeweils ein bis zwei Stücke in der Sammlung enthalten – und trotzdem werden sie beide ebenso prominent im Widmungsgedicht genannt wie Karl und Lothar, deren Kapitularien den Großteil der Sammlung ausmachen. Eine befriedigendere Erklärung kann an dieser Stelle auch nicht angeboten werden; dennoch erscheint es unwahrscheinlich, dass alle geschilderten Ungereimtheiten erst durch eine spätere Redaktion entstanden sein sollen, die die ursprünglich klare Konzeption des Werkes durch Lupus durcheinandergebracht habe – ein Werk, das nur in der von Münsch rekonstruierten Form in sich konsistent ist, aber in keiner der bekannten und zudem voneinander abweichenden Überlieferungen. Viel naheliegender erscheint es, die in der Modena-Sammlung vorliegende Überlieferung des Liber legum samt Widmungsgedicht und Bildprogramm als eine originäre Sammlung zu betrachten und von dieser Hypothese ausgehend ihre Besonderheiten zu erklären. Ein erster Ansatz dazu wurde hier versucht.
Ob die Modeneser Handschrift also wirklich eine verkürzende Redaktion des „Liber legum des Lupus von Ferrières“ tradiert, mit der eine Damnatio memoriae Ludwigs des Frommen intendiert war, ist fraglich; vielleicht haben wir es auch mit einer eigenständigen italienischen Rechtssammlung zu tun, die für den Markgrafen von Friaul aus unterschiedlichen Vorlagen kompiliert wurde. Weitergehende Überlegungen zu dieser Frage werden an dieser Stelle folgen.
B. Mischke
Zur Handschriftenseite (Beschreibung nach Mordek und Transkription)
Literatur:
Boretius 1864, S. 32-36
Russo 1980
Mordek 1995, S. 131-149, 256-268
Mordek 1995a, S. 1046 f.
Bracciotti 1998
Münsch 2001
Pohl 2001, S. 122-129