Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Sammlung des Monats Oktober 2023: Die Collectio capitularium Laudunensis (Teil 2)

Im Blogpost des Monats September wurde die Collectio capitularium Laudunensis aus der Handschrift Laon 265 vorgestellt. Es handelt sich dabei um eine thematisch organisierte Kompilation aus Kapiteln der Decreta Vermeriense von 756 (BK 16) und Compendiense von 757 (BK 15). In die Sammlung aufgenommen wurden lediglich eherechtliche Bestimmungen der beiden Vorlagen, wobei einige thematisch durchaus relevante Kapitel vom Kompilator aus unklaren Gründen nicht aufgenommen wurden – es ist nicht zu rekonstruieren, ob die fehlenden eherechtlichen Kapitel aus BK 15 und 16 entweder vom Kompilator oder von einem späteren Kopisten absichtlich oder versehentlich ausgelassen wurden.

Diese zweite Möglichkeit ergibt sich, da es sich bei der Sammlung in der Laonenser Handschrift nämlich zweifellos nicht um das Original handelt. Zum einen zeigt sich dies an den bereits erwähnten, (wohl irrtümlich) in den Haupttext eingegangenen Kapiteln aus dem Paenitentiale Umbrense und der Frage zu BK 16 c. 7; zum anderen findet sich vor BK 15 c. 4 die Zählung IIII. Da kein anderes Kapitel gezählt ist, muss davon ausgegangen werden, dass die Kapitel der Liste in der Vorlage unserer Handschrift (zumindest teilweise) durchnummeriert waren, was der Schreiber von Laon 265, abgesehen von dieser Ausnahme, versäumte zu übernehmen. Die Vermutung einer ursprünglichen Nummerierung erhärtet sich bei Betrachtung der beiden verwandten Überlieferungen in Vesoul 79 (73) und Paris Lat. 2796 – beide enthalten zwar lediglich die ersten vier Kapitel der Sammlung, zählen diese aber jeweils von I bis IIII. Ein weiteres Argument, das gegen die Annahme spricht, die Laonenser Handschrift könnte das Original der Sammlung sein, findet sich auch im bereits besprochenen, von Mordek als Capitulum post Decretum Vermeriense conferendum bezeichneten Kapitel, von dem vermutet werden darf, dass es zunächst nicht Teil des Haupttextes war.

Laon 265, fol. 162r

Spätestens bei der Betrachtung der Kapitel aus dem Paenitentiale Umbrense im letzten Block unserer Sammlung zeigt sich schließlich eindeutig, dass es sich bei der Sammlung um eine Kopie handeln muss. Die Kapitel sind inhaltlich durchaus passend, ein Umstand, der insofern nicht überrascht, da das Bußbuch auf den Versammlungen in Verberie und Compiègne bekannt war und genutzt wurde (vgl. Finsterwalder 1929, S. 226–227). Allerdings folgt in der Laonenser Handschrift auf die Kapitulariensammlung mit den darin inserierten Kapiteln nochmals eine Kopie des vollständigen Abschnitts (XII – De questionibus coniugiorum) aus dem Bußbuch (foll. 164v–167r). Wie ein Textvergleich zeigt, unterscheiden sich die Formulierungen der drei doppelten Kapitel maßgeblich.

Ähnliche Abweichungen finden sich auch bei den beiden folgenden Kapiteln.

Wären beide Teile der Laonenser Handschrift – die Kapitulariensammlung und der Auszug aus dem Paenitentiale Umbrense – gemeinsam entstanden, ließen sich diese Unterschiede nicht erklären. Möglich ist, dass die Kapitel im Kapitularienteil selbstständige Umformulierungen des Sammlers waren. Ein verwandter Textzeuge ist jedenfalls nicht zu identifizieren.

Wenn also Laon 265 nicht das Original der Collectio capitularium Laudunensis ist, ergibt sich die Frage, wer der Kompilator der Sammlung war bzw. wann er arbeitete. Über den Entstehungszeitpunkt unserer Collectio capitularium (Laudunensis) lässt sich nur spekulieren. Mordek (1995, S. 201) und ihm folgend Karl Ubl (2008, S. 269) erwägen eine Entstehung noch zu Lebzeiten Pippins. Als Gründe für diese Annahme können hier das Fehlen jüngerer Texte und die Verwendung einer Quelle der Beschlüsse von 756/757 – das Paenitentiale Umbrense – angeführt werden. Während diese Annahme also durchaus plausibel erscheint, kann auch eine spätere Entstehung der Liste nicht ausgeschlossen werden. Pippins eherechtliche Bestimmungen waren schließlich auch unter Karl und Ludwig noch von Bedeutung, wie etwa die Sammlung der Texte durch Magnus von Sens (Erzbischof von 802–816) bezeugt (vgl. ebd.; zu Magnus von Sens vgl. Kikuchi 2021, S. 725–727). Dass für die Kompilation keine späteren Texte benutzt wurden, könnte auch darauf zurückgeführt werden, dass weder unter Karl noch unter Ludwig Kapitularien (oder auch Synodalbestimmungen) entstanden, die sich so umfassend mit eherechtlichen Themen auseinandersetzten. Gänzlich irrelevant war die Thematik freilich nicht – die Admonitio Generalis (BK 22) etwa enthält eine Bestimmung zum Scheidungsverbot aus der Dionysio-Hadriana. Ihren Höhepunkt erlebte die Reform des Eherechts im Frankenreich dennoch zweifellos in den ersten Jahren nach Pippins Königserhebung. Daher wären die in Compiègne und Verberie behandelten Themen, zumal für angehende Priester, auch im 9. Jahrhundert weiterhin relevant gewesen. Ein zumindest ungefährer terminus ante quem ergibt sich aus der Datierung von Paris Lat. 2796, in der zumindest die ersten vier Kapitel der Sammlung ebenfalls enthalten sind (vgl. Mordek 1995, S. 431): Da die Handschrift wohl zu Beginn des 9. Jahrhunderts (vgl. Bischoff 2014, S. 82; Mordek 1995, S. 430: „813–815 oder bald danach“) entstand, muss die Collectio capitularium Laudunensis vor diesem Zeitpunkt, also wohl spätestens in den ersten Jahren von Ludwigs Herrschaft entstanden sein.

Während im Blogpost des Monats August 2023 festgestellt werden konnte, dass „Kapitularien im 8. und 9. Jahrhundert ein sehr offenes und flexibel handhabbares Genre der karolingischen Herrscher“ waren, zeigt die Betrachtung der Collectio capitularium Laudunensis, dass dies auch für Sammler und Kopisten galt; einzelne Kapitel wurden hier thematisch neu organisiert und durch Kapitel aus anderen Quellen ergänzt. Dabei ging es vermutlich nicht darum, Auszüge aus königlicher Gesetzgebung, also Kapitularien, zu sammeln, sondern alles greifbare autoritative Material zu einem bestimmten Thema, gleich welchen Ursprungs. Offen bleibt also: Möchte man eine Sammlung, die formal Kapitularienauszüge enthält, auch dann als eine Kapitulariensammlung bezeichnen, wenn für deren Kompilator überhaupt nicht relevant war, dass er Kapitularien verwendete?

D. Leyendecker


Literatur:

Finsterwalder 1929
Mordek 1995
Ubl 2008
Bischoff 2014
Kikuchi 2021

Empfohlene Zitierweise
Dominik Leyendecker, Sammlung des Monats Oktober 2023: Die Collectio capitularium Laudunensis (Teil 2), in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/sammlung-des-monats-oktober-2023-die-collectio-capitularium-laudunensis-teil-2/ (abgerufen am 22.12.2024)