Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Sammlung des Monats November 2023: Die Schreiber des Rechtscodex Münster, Landesarchiv NRW, Abt. Westfalen, Msc. VII 5201

Über die Rechtshandschrift Münster, Landesarchiv NRW, Abt. Westfalen, msc. VII. 5201 ist seit Langem bekannt, dass sie im Kloster Corvey von mehreren Händen mit „durchaus gleichartige[m] Schriftcharakter“ (Meyer 1937) geschrieben wurde. Nicht weniger als 24 etwa zeitgleich arbeitende Hände und 29 zeitgenössische oder spätere mittelalterliche Nachtragshände haben zu ihrer heutigen Gestalt beigetragen.

Von besonderem Interesse sind in diesem Post die erstgenannten 24 Schreiberhände, die im Jahr 946 den Hauptstoff – Kapitularien, Leges, Diplome frühmittelalterlicher Könige und Kaiser, ein Fragment aus den Institutionen Justinians, verschiedene Bußbücher, pseudoisidorische Dekretalien und Capitula Angilramni sowie Kanones aus verschiedenen frühmittelalterlichen Sammlungen – im Weserkloster abgeschrieben haben.

Bereits auf den ersten Blick ergibt sich aus dem Vergleich der ungewöhnlich großen Zahl der Hauptschreiber und der selten 60 Personen übersteigenden Zahl der Konventsmitglieder im frühmittelalterlichen Corvey, dass an der Herstellung der Rechtshandschrift fast jeder Konventuale arbeiten sollte, der die Kunst des Lesens und Schreibens einigermaßen beherrschte. Zum einheitlichen paläographischen Befund tragen auch die einheitliche Punktierung, Linierung und Bearbeitung des Pergaments aller vier kodikologischen Einheiten (p. 1–4, 5–60, 61–270, 271–328) bei: Die Angaben der Grundwissenschaften beweisen, dass alle kodikologischen Teile des Codex von Anfang an als ein Rechtsbuch angelegt wurden. Die Auswahl der Texte spricht dafür, dass die Handschrift zwischen Januar und Mai, spätestens bis August 946 geschrieben wurde. Die jüngste Urkunde im Codex mit einem Handelsprivileg für den Corveyer Ort Meppen wurde am 29. Dezember 945 ausgestellt, die darauffolgende vom 29. Mai 946 – mit seiner verfassungsgeschichtlich interessanten Erweiterung – wurde nicht aufgenommen, was auf die Anlage des Kopiars zwischen diesen beiden Daten hinweist. In diese Zeit müssen auch die eherechtlichen Exzerpte datiert werden, die für den Königshof Ottos I. mit dem Tod der Königin Edgith am 29. Januar 946 aktuell wurden, sowie die Auszüge aus Pseudo-Isidor mit dem Schwerpunkt der Prozessführung gegen einen Bischof: Sie stehen mit der Vorbereitung des Feldzuges Ottos I. im Herbst 946 zur Beilegung des Reimser Streits und der kirchenrechtlich richtigen Neubesetzung des Erzbischofsstuhls im Zusammenhang. An dem Feldzug nahm auch der Corveyer Abt Bovo III. teil und aller Wahrscheinlichkeit nach sollte die Rechtshandschrift seinen Beratungen am Königshof dienen.

Abb. 1: Anfang der jüngsten Urkunde des Kopiars vom 29.12.945 DO I. 73, Hand II. Münster, msc. VII. 5201, p. 301 (© Münster, LA NRW).

Der Codex enthält auf p. 28–60 das Capitulare Saxonicum Karls des Großen von 797 und drei Kapitularien Ludwigs des Frommen (s. dazu den Blogpost des Monats Januar 2017 von Sören Kaschke). Der umfassende Kapitularienteil wurde von einem einzigen Hauptschreiber ausgeführt, der von Hartmut Hoffmann als Hand F bezeichnet wurde. Zwei Hilfshände haben diesem erfahrenen Kalligraphen geholfen: Aus der unsicheren Schrift dieser Hilfshände, mehr aber aus dem ihnen zugeteilten winzigen Pensum (Hand G schrieb zwei, Hand H nur eine vollständige Zeile auf p. 30 und 33) wird ihre Rolle als Schüler eindeutig sichtbar. Der Schreiber F hingegen erscheint als erfahrener Kalligraph, der seine Ausbildung in der Corveyer Klosterschule im ersten Drittel des 10. Jahrhunderts bekommen hat. Seine steile und breite Buchschrift bietet ein Musterbeispiel der entwickelten karolingischen Minuskel. Seine kalligraphische Schulung beweisen der fast vollständige und zweifellos bewusste Verzicht auf Ligaturen, die für das frühmittelalterliche Corveyer Skriptorium typischen Abkürzungsformen sowie die reinen und klaren Buchstabenformen der karolingischen Minuskelschrift in ihrer klassischen Ausprägung der großen nordfranzösischen Schreibschulen der späteren Karolingerzeit.

Abb. 2: Kapitularienteil, Kapitelrubriken in Unziale und in Capitalis rustica sowie die Form von x, Hand F. Münster, msc. VII. 5201, p. 48 (© Münster, LA NRW).

Der Kalligraph F beherrschte die beiden im frühottonischen Corvey üblichen Auszeichnungsschriften: Die Titel der Kapitularien wurden in schmalerer Capitalis rustica (p. 34, 49, 53) und die Kapitelüberschriften in breiterer Unziale ausgeführt. In einigen Fällen, in denen der freigelassene Platz nicht für die Kapitelüberschrift ausreichte, wechselte der Schreiber von Unziale zu Rustica, verkleinerte die Abstände zwischen den Buchstaben und benutzte auch den Randraum (p. 37, 45, 46, 48, 50, 52). Kein Wunder, dass man die Hand dieses Kalligraphen auch in der Schrift des einzigen Schreibers des sogenannten „Kleinen Evangeliars“ aus dem Domschatz zu Essen in allen ihren grafischen Merkmalen erkennt. Als trefflichster Beweis dient dafür die Form von x, in der der Kapitularienschreiber des Corveyer Rechtscodex den längeren linken Haarstrich mit einem Kurzstrich nach rechts abschließt – sonst ist diese individuelle Stilisierung von x bei keinem anderen Kalligraphen der Rechtshandschrift nachweisbar. Der Vergleich beider Handschriften legt darüber hinaus die Vermutung nahe, dass zum Jahr 946, d. h. zur Zeit der Herstellung des Rechtscodex, der Kalligraph F schon in einem ehrwürdigen Alter gewesen sein dürfte. Die Schrift des Kleinen Evangeliars sieht bisweilen noch kraftvoller aus und das Latein der abgeschriebenen Heiligen Schrift weist wesentlich weniger Konzentrationsfehler auf, so dass mit diesem Befund das Kleine Evangeliar in die 920er – 930er Jahre datiert werden kann.

Von den anderen Hauptschreibern der Münsteraner Rechtshandschrift hebt sich in ihrem Bestreben zur harmonischen kalligraphischen Kreativität die Hand K ab, von der die drei ersten Lagen des kirchenrechtlichen Teils und eine Lage in seiner Mitte geschrieben wurden. Dabei verwendete Hand K die Ligatur von Buchstaben r und t mit auffälligem Hörnchen, das als ein gewölbter Strich die genannten Buchstaben verbindet.

Abb. 3: Schrift des Kalligraphen K mit seiner kalligraphischen Schöpfung, der rt-Ligatur. Münster, msc. VII. 5201, p. 64 (© Münster, LA NRW).

Diese Ligaturform kommt in früheren Corveyer Handschriften nicht vor: Der Kalligraph K beteiligte sich auch an der Herstellung des Evangeliars aus Klus Wolfenbüttel, HAB, Cod. Aug. 84 2° und schrieb alleine das Evangeliar aus Bibliotheque municipale de Reims, ms. 10; vermutlich ist seine Hand auch im Corveyer Teil des Isidor-Codex aus München, Clm, 6304 (z. B. fol. 29r) zu erkennen, in dem diese bemerkenswerte Corveyer Form der rt-Ligatur ebenfalls erscheint.

Allerdings haben sich an der Arbeit an der Rechtshandschrift nicht nur Kalligraphen beteiligt, sondern auch Schüler, deren Ausbildung um das Jahr 946 noch nicht abgeschlossen war. Drei Haupthände – von Hoffmann mit den Siglen E, O und S bezeichnet – sind den wenig erfahrenen Schreibern zuzurechnen, die jedoch mit großen Partien beauftragt wurden. Eine dieser Schulhände E kopierte unter Aufsicht der Lehrerhand D die Texte der frühkarolingischen Lex Saxonum und Lex Thuringorum alias Lex Angliorum et Werinorum hoc est Thuringorum für den Rechtscodex.

Abb. 4: Lehrer und Schüler bei der Arbeit. Lehrerhand D schrieb die drei ersten Zeilen der Seite 5, Schülerhand E setzte die Seite fort. Rechts sind die Spuren der Handschriftenbehandlung mit Reagenzien im 19. Jh. zu sehen. Münster, msc. VII. 5201, p. 5 (© Münster, LA NRW).

Die Schriften der Schülerhände sind im Vergleich zu den obengenannten Schreibern G und H fortgeschrittener, zeigen aber nicht so gut proportionierte Buchstabenformen wie bei den Kalligraphen, zu auffällige Unterschiede in der Breite der Schatten- und Haarstriche und bisweilen geben sie auch noch die älteren, im frühottonischen Corvey schon nicht mehr benutzten insularen Abkürzungen wieder, die sie in ihren Vorlagen vorfanden. Ist die Datierung der Handschrift um das Jahr 946 zutreffend, so kann man in diesen Schülerhänden die Corveyer Konventualen der jüngeren Generation vermuten, die ins Kloster erst Ende der 930er – Anfang der 940er Jahre aufgenommen wurden. Unter diesen Konventualen befand sich auch der künftige große frühmittelalterliche Geschichtsschreiber Widukind von Corvey, der den Rechtskodex zweifellos in der Klosterbibliothek gesehen hat und etwa zwei Dekaden nach seiner Herstellung in der ‚Sachsengeschichte‘ als eine von mehreren anderen Handschriften der Lex Saxonum mit den Worten beschrieb: „Wir wollen über die Verschiedenheit der Gesetze in diesem Büchlein nicht handeln, da man das Sachsenrecht (lex Saxonica) bei vielen sorgfältig aufgezeichnet findet“ (Kapitel I,14). Da uns Widukinds Handschrift unbekannt ist, kann die paläographische Wissenschaft in der Frage nicht weiterhelfen, ob unter diesen Händen der jüngeren Generation von Corveyer Konventualen auch Widukinds persönliche Handschrift nachweisbar ist. Könnte er sich aber vielleicht auch an der Herstellung der Rechtshandschrift beteiligt haben?

G. Borisov

Literatur:

Meyer, Eduard, Monumenta palaeographica, Ser. 3. Bd. 1. Lfg. 17 (1937).
Widukind von Corvey. Res gestae Saxonicae. Die Sachsengeschichte. Lateinisch/Deutsch. Reclam-Ausgabe. Übersetzt und herausgegeben von Ekkehart Rotter, Bernd Schneidmüller (2001).
Hoffmann 2012
Borisov, Grigorii, Die frühen Corveyer Handschriften aus paläographischer Sicht. Überlegungen zur Erstellung einer provisorischen Handschriftenliste (9. – 11. Jh.), in: Alexander Maul, Hans-Walter Stork (Hg.), Die mittelalterliche Bibliothek der Reichsabtei Corvey. Bestände, Forschungsstand, Perspektiven. Vorträge eines Interdisziplinären Workshops 27./28. Mai 2021 (im Druck).

Empfohlene Zitierweise
Grigorii Borisov, Sammlung des Monats November 2023: Die Schreiber des Rechtscodex Münster, Landesarchiv NRW, Abt. Westfalen, Msc. VII 5201, in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/sammlung-des-monats-november-2023/ (abgerufen am 21.11.2024)