In der Handschrift München lat. 3853 aus der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts, sowie teilweise auch in ihren beiden Deszendenten (Heiligenkreuz 217, Paris lat. 3878), finden sich auf fol. 248r-314v fünf Kapitellisten. Alle fünf Listen haben jeweils eine eigene Capitulatio. Da Capitulationes in Kapitularienhandschriften eher selten anzutreffen sind, dürfte ihre Hinzufügung zu allen fünf Listen auf das Konto eines Sammlers gehen, der sein Material leichter erschließbar machen wollte. Doch ist dieser Sammler wohl nicht für die ursprüngliche Zusammenstellung jeder einzelnen Liste verantwortlich, sondern hat sie allenfalls aus einer oder mehreren Vorlagen zu seiner eigenen, recht unsystematischen Aneinanderreihung verbunden und mit Capitulationes angereichert. Darauf deutet jedenfalls nicht allein die disparate Bildung der Listen hin, sondern auch deren jeweilige Überschriften.
Um mit letzteren zu beginnen: Liste 1 nennt nach „Incipiunt capitula“ deren Aussteller (Ludwig den Frommen und Lothar I.) sowie die Mitwirkung ihrer Getreuen (fol. 248r), Liste 2 hat gar keine Überschrift, Liste 3 begnügt sich lakonisch mit „Incipiunt capitula“ (fol. 256r), Liste 4 formuliert ungelenk „De capitvlare Caroli qvod in diversis locis est perpetratvm“ (fol. 264r) und Liste 5 ist ohne Nennung des Ausstellers betitelt „Capitulare qvem (korr. zu quod) constituit in Papia“ (fol. 266r). Ein gemeinsames Muster ist nicht zu erkennen.
Übergang der Capitulationes zur 4. und 5. Liste in München, BSB, lat. 3853, fol. 266r (© BSB München)
Inhaltlich lässt sich ebenfalls schwerlich ein einziger Geist hinter den Listenbildungen annehmen: Liste 1 gruppiert vier Kapitularien von 829 jeweils nahezu vollständig, während Liste 2 allein aus Pippins des Jüngeren BK 16 von 756 besteht. Liste 3 mischt ohne chronologische Ordnung zwischen 751/755 und 829 entstandene Kapitularienexzerpte und weiteres Material. In Liste 4 enthält ein erster Block Auszüge und Vollversionen westfränkischer Kapitularien und Konzilsakten, wobei Zwischenüberschriften die jeweils benutzte Vorlage nennen, anschließend springt der zweite Block zurück zu Kapitularien Pippins von Italien und Karls des Großen. Liste 5 setzt diesen zweiten Block gewissermaßen fort mit Auszügen italienischer Stücke von Karl dem Großen, Pippin von Italien und Lothar I., endet jedoch mit den ersten 45 Kapiteln von BK 196, einer Zusammenfassung des Pariser Reformkonzils von 829.
Wir haben es also mit fünf Kapitellisten zu tun, die zwar wohl zur gleichen Zeit um Capitulationes ergänzt wurden, die aber als Sammlungen bereits früher entstanden waren. Wann genau, ist unklar, doch braucht zumindest nicht jede Teilsammlung erst nach 884 entstanden zu sein, dem Entstehungsjahr des jüngsten ausgewerteten Kapitulars (BK 287 des westfränkischen Königs Karlmann). Wer immer die fünf Listen zuerst aneinanderreihte, verspürte offenbar keine sonderliche Neigung dazu, sich auch nur um die elementarste chronologische Ordnung zu bemühen. Damit besteht aber die Möglichkeit, es hier trotz einer erst ab der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts einsetzenden handschriftlichen Überlieferung mit z.T. deutlich älteren Sammlungen zu tun zu haben.
Im Folgenden sollen uns nur die 33 Kapitel der ersten Liste interessieren, die allesamt aus dem Umfeld der Kapitulariengesetzgebung Ludwigs des Frommen von 829 stammen. Dass die enthaltenen Bestimmungen aus mehreren Kapitularien genommen wurden, ist für den Leser nicht unmittelbar ersichtlich. Der erste Eindruck ist vielmehr, es geradezu mit dem Paradefall eines einzigen Kapitulars zu tun zu haben: Einer Liste durchgezählter Kapitel mit einer Überschrift, welche die Abfassung der folgenden 33 Bestimmungen durch Ludwig den Frommen und seinen Sohn Lothar behauptet und dafür ausdrücklich den auch in der Forschung oft als essenziell für Kapitularien angesehenen Konsens der Großen proklamiert.
Listenüberschrift und Anfang der Capitulatio in München, BSB, lat. 3853, fol. 248r: „Incipiunt capitula que Ludouuicus cesar et hlotharius inperator filius eius cum consensu eorum fidelium dederunt. Cap. I. De liberis hominibus qui fidelitatem nondum domno imperatori promiserunt“. („Es beginnen die Kapitel, die Caesar Ludwig und Imperator Lothar, sein Sohn, mit Zustimmung ihrer Getreuen gegeben haben. Kapitel 1: Über die Freien, die dem Herrn Imperator noch nicht die Treue geschworen haben“) (© BSB München)
Doch wie bereits angedeutet, hat dieses vermeintliche Kapitular Ludwigs und Lothars einen Schönheitsfehler: Betrachtet man die einzelnen Kapitel genauer, so stellt sich rasch heraus, dass sie aus vier verschiedenen Kapitularien Ludwigs stammen (BK 188, 191, 192, 193), zuzüglich eines Einzelkapitels zur Immunität, das sonst vor allem aus der Sammlung des Benedictus Levita bekannt ist (dort c. 279 des 1. Buchs), in der vorliegenden Fassung aber nicht von dort stammen kann, sondern offenbar auf dessen authentische Vorlage zurückgeht (Lukas 2005; Patzold 2014).
Soweit es sich erkennen lässt, hat der Sammler dabei mit drei Ausnahmen kein Kapitel seiner Vorlagen ausgelassen. Auch die Kapitelreihenfolge ist mit einer Ausnahme so, wie wir sie aus den sonstigen Überlieferungen dieser Kapitularien kennen. Umso mehr überrascht, dass die sonst praktisch immer zu beobachtende Abfolge von BK 191-192-193 als ein geschlossener Block hier aufgebrochen ist zugunsten der Reihung BK 188 (c. 4) – BK 191 – Immunitätskapitel – BK 193 – BK 188 (c. 1-2) – BK 192. Dass das in der gesamten Überlieferung extrem instabile BK 188 hier nur mit drei, zudem aufgeteilten und umgestellten Kapiteln vertreten ist, verwundert dabei zunächst weniger.
Die Eröffnung der Liste mit dem 4. Kapitel von BK 188 passt inhaltlich sogar ausnehmend gut. Denn hier werden die mit der Verbreitung des (vermeintlichen) 33-Kapitel „Kapitulars“ beauftragten Missi ermahnt, bevor sie ihre eigentliche Legationsaufgabe „gemäß den weiteren Kapiteln“ („per cetera capitula“) durchführen, zuallererst („primo omnium“) nachzuforschen, welche der jeweils vor Ort anwesenden Freien noch nicht auf den Herrscher vereidigt wurden und jenen zunächst den Treueid abzunehmen.
Kapitel 4 von BK 188 zur Vereidigung der Freien in München, BSB, lat. 3853, fol. 248v (© BSB München)
Das Kapitel weist zwar kleinere Abweichungen, vor allem Transpositionen, zu anderweitig überlieferten Kopien von BK 188 auf, ist aber grundsätzlich korrekt wiedergegeben. Doch lässt sich bereits hier im Zusammenspiel mit der Rubrik ein auffälliges Detail erkennen, das eine Verbindung der 33-Kapitel-Liste zum Umfeld Kaiser Lothars andeuten könnte. Der (authentische) Kapiteltext bestimmt lediglich, dass dem Aussteller („uns“ – „nobis“) die Treue geschworen werden soll. Die nur in dieser Liste ergänzte Kapitelrubrik greift in damals üblicher Praxis Formulierungen des Kapiteltexts auf und objektiviert sie zum Teil: nicht „uns“ sondern dem „Imperator“ muss die Treue geschworen werden. Hier nun kommt die Rubrik der gesamten Liste ins Spiel, die die vermeintlichen Aussteller nennt: Ludwig den Frommen und Lothar, aber mit der ungewöhnlichen, nicht dem Usus der Kanzlei Ludwigs entsprechenden Titulierung von Ludwig als „Caesar“ und Lothar als „Imperator“. Ein Missus mit dieser Liste vor Augen hätte streng genommen davon ausgehen müssen, dass er die Bevölkerung nur auf „Imperator“ Lothar, nicht aber auf Ludwig den Frommen vereidigen sollte.
In ihrem Bestand weisen die Kapitularien noch weitere Besonderheiten gegenüber anderen Überlieferungen auf. In allen drei „Wormser“ Kapitularien (BK 191-193) fehlt jeweils ein Kapitel, nämlich c. 8 in BK 191 (zum Beweisverfahren in Fragen von Kirchengut), c. 12 in BK 192 (zum Verbot der Kaltwasserprobe) und c. 7 in BK 193 (zur Bildung von Gestellungsverbänden). Steffen Patzold hat gezeigt, dass es sich bei den Lücken in BK 191 und 193 nicht um Auslassungen handelt, sondern jeweils um eine frühere Fassung der betreffenden Liste, da die entsprechende Frage noch auf der Reichsversammlung in Worms im August 829 beraten werden musste (Patzold 2014, S. 79). Da wir wissen, dass auch die Kaltwasserprobe ausdrücklich im Frühjahr 829 als zu beratender Problemfall erwähnt wurde (in BK 186 c. 5), liegt die Vermutung nahe, auch hier habe der Kompilator der 33-Kapitel-Liste nicht etwa Inhalt unterdrückt, sondern schlicht eine noch etwas frühere Fassung von BK 192 vorliegen gehabt, in der das Kapitel noch nicht enthalten war.
Dies könnte auch erklären, warum die Nummern 191-193 nicht, wie in der gesamten übrigen Überlieferung, in der gewohnten Anordnung stehen, sondern das noch unfertige Kapitular Nr. 192 hinter den beiden anderen Stücken und zudem noch durch zwei Kapitel von BK 188 von jenen getrennt ganz am Ende der Liste platziert ist, während sich zwischen die Nummern 191 und 193 das in der endgültigen Wormser Fassung dann doch nicht aufgenommene, aber thematisch für die Vorberatungen relevante Immunitätskapitel eingeschoben findet. Auch die Einrückung von BK 188 c. 1-2 macht im Kontext einer frühen Fassung Sinn, denn c. 1 trifft eine vorläufige Regelung für die Frage zum Kirchengut, die erst durch das später ergänzte c. 8 von BK 191 abgelöst wurde.
Eine weitere vermeintliche Lücke der 33-Kapitel-Liste betrifft deren Umgang mit Zitaten aus der Kapitulariensammlung des Ansegis. In der auch von Boretius und Krause edierten Fassung der Nummern 191-193 finden sich solche explizit angekündigten wörtlichen Zitate in sieben Kapiteln. In der 33-Kapitel-Liste dagegen fehlen diese Zitate überall (mit Ausnahme des Zitats in BK 191 c. 9). Bisher wird gewöhnlich angenommen, dass ein bequemer Sammler, der die jeweiligen Kapitel in eine Handschrift eintrug, in der bereits ein vollständiges Exemplar der Ansegis-Sammlung vorhanden war, sich unnötige Schreibarbeit ersparen wollte und daher nur die jeweilige Referenz, nicht aber den Wortlaut des Zitats selbst kopierte. Im Lichte des Vorherigen sowie der Beobachtung, dass ausgerechnet das recht lange Zitat in BK 191 c. 9 doch vollständig abgeschrieben ist, ließe sich diese Annahme vielleicht auch umdrehen: der Sammler kopierte, was er vor Augen hatte – und das war eben eine frühe Entwurfsfassung direkt von den Beratungen am Hof bzw. auf der Reichsversammlung in Worms, in der sich die jeweiligen Schreiber eben überwiegend damit begnügt hatten, die Zitate nur zu referenzieren und sich die Kopierarbeit aus Ansegis für die endgültige Reinschrift aufzusparen.
Kapitel 1 von BK 193 mit Zusatz („Commotor rixę si ibi moritur sine uueregeldo. Alter qui se defendendo occisus fuerit uuerigeldo soluatur et alia compositio sicut supra dictum uel scriptum est perficiat“) in München, BSB, lat. 3853, fol. 251r (© BSB München)
Ein letztes Detail sei schließlich noch ergänzt: Wie gesehen kopierte der Kompilator der 33-Kapitel-Liste seine (mutmaßlich frühe) Vorlage weitgehend wortgetreu und ohne Verfälschungen oder Nachträge von erst später entstandenen Kapiteln wie BK 191 c. 8 oder BK 193 c. 7, aber mit weiterem Material aus dem Umfeld der Beratungen von 829 wie dem Immunitätskapitel. In diesem Licht wird es nun wahrscheinlich, dass auch der einzige Zusatz gegenüber den sonstigen Überlieferungen der Kapitularientexte, ein kurzer Satz nach einer Ansegis-Referenz (mit ausgelassenem wörtlichen Zitat) am Ende von BK 193 c. 1 über den Totschlag innerhalb von Kirchen, nicht später von einem Sammler oder Kommentator ergänzt wurde als Verweis auf eine weiter oben stehende Ansegis-Ausgabe („sicut supra dictum uel scriptum“ – „wie weiter oben gesagt und geschrieben“), sondern ganz konkret auf das in der 33-Kapitel-Liste – und nur hier – voranstehende Immunitätskapitel abzielte, in dem nämlich die im Zusatz nur pauschal erwähnte Buße („alia compositio“) für die Begehung einer Missetat innerhalb einer klösterlichen oder kirchlichen Immunität auf 600 Solidi beziffert wird. Mit der Auslassung des Immunitätskapitels in den späteren Fassungen dieses Kapitulars wäre dann auch dieser Zusatz, als nunmehr ins Leere gehend, gestrichen worden.
Lässt sich abschließend die noch sehr hypothetische Verbindung der 33-Kapitel-Liste, als Sammlung früher Fassungen der Kapitularien von 829, mit dem Umfeld Lothars weiter stützen? Sicherheit ist hier nicht zu erreichen, doch gibt es zumindest ein paar zusätzliche Indizien: Die in den drei Handschriften der 33-Kapitel-Liste enthaltene größere Sammlung war nach Mordek zwar (nur) in Süddeutschland verbreitet, doch erwägt er für ihren Kern eine Zusammenstellung in Oberitalien oder alternativ vielleicht in Mainz (Mordek 1995, S. 288). Italien aber war seit spätestens 829 dauerhaft Lothar unterstellt. Die Rubrik der Liste wiederum muss aufgrund der enthaltenen frühen Textfassungen noch vor September 829 entstanden sein, oder eben von Anhängern Lothars (vielleicht während dessen erster Rebellion gegen den Vater?) formuliert worden sein. Denn sie zeigt Ludwig und Lothar noch als nominell gemeinsam herrschend. Lothar war aber von der Reichsversammlung in Worms nach Italien verwiesen worden und die bis dahin übliche Nennung von Lothar als Mitaussteller der väterlichen Diplome endet entsprechend bereits im September 829. Ein späterer Sammler wiederum hätte sich eine solche Rubrik schwerlich ausdenken können, da sich aus der Zeit der gemeinsamen Herrschaft Ludwigs und Lothars von 825 bis 829 kein einziges Kapitular erhalten hat, dass beide Kaiser nebeneinander als Aussteller nennt. Und ein letztes Detail: Wenn der Grundstock von BK 188 tatsächlich nur die c. 1-4 der Edition von Boretius und Krause umfasste, wie Steffen Patzold in der Neuedition vermutet, dann hätte der Sammler doch ein einziges Kapitel seines Materials bewusst ausgelassen. Denn von diesem Kapitular fehlt c. 3, das die Rückerstattung von solchem Besitz regelt, den der bei Ludwig dem Frommen in Ungnade gefallene Graf Matfrid von Orléans zuvor unrechtmäßig erworben haben sollte. Matfrid aber war ein wichtiger Verbündeter von Lothar und von dessen (gleichfalls in Ungnade gefallenem) Schwiegervater, Graf Hugo von Tours (Depreux 1994a). Falls Lothar also bei seinem Weg in die italienische Verbannung eine frühe Fassung der Wormser Kapitularien mitnahm, machte es für einen Sammler aus Lothars Umfeld gleich doppelt Sinn, dieses Kapitel von BK 188 zu übergehen: einmal, weil Matfrid als Graf von Orléans schwerlich in Italien Besitz an sich gerissen haben dürfte, zum anderen weil Lothar kaum jemanden in Italien dazu ermutigen würde, seinen eigenen Verbündeten zu schädigen. Es könnte also sein, dass es sich bei der 33-Kapitel-Liste zwar nur um ein Scheinkapitular handelt, aber doch zumindest um ein Produkt aus dem unmittelbaren Umfeld eines karolingischen Herrschers.
S. Kaschke
Literatur:
Depreux 1994a
Mordek 1995, S. 287-305
Lukas 2005
Patzold 2014
Kaschke 2019b, S. 110-111