Anknüpfend an zwei Blogposts von März und Juli 2021 zu den Kapitellisten der Handschriften Cava de’ Tirreni, Biblioteca Statale del Monumento Nazionale Badia di Cava, 4 und Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Chigi F. IV. 75 soll diesmal ein näherer Blick auf die Zusammensetzung einer dieser Listen geworfen werden. Besonderes Augenmerk gilt dabei der Frage, welche Bestimmungen der für die Liste insgesamt herangezogenen Kapitularien der Sammler nicht übernommen hat. Idealiter sollten sich dadurch Erkenntnisse oder zumindest Hypothesen über die Interessenschwerpunkte und damit auch über die Position des Sammlers (z.B. als geistlicher oder weltlicher Amtsträger) ergeben. Als Testfall dient die „vierte Kapitelliste“, in der Gestalt, wie sie vor allem in der Chigi-Handschrift überliefert ist – oder gemäß der im Juli-Blogpost vorgestellten, an der Sigle der Handschrift im Editionsprojekt orientierten Terminologie: die „Collectio V5_4“ auf fol. 74v-84r.
Die Liste bezieht ihr Material aus sieben Nummern der Edition von Boretius/Krause (BK 67, 88, 104, 134, 135, 139, 140), welche zusammen 49 Kapitel enthalten. Einen Sonderfall stellt darunter BK 104 dar, eine von Boretius geschaffene Sammelnummer, die kein originales Kapitular ist, sondern verstreut überlieferte Einzelkapitel zusammenstellt. Der ursprüngliche Kontext der beiden in die Liste aufgenommenen Kapitel dieser Sammelnummer ist unbekannt. Der Sammler könnte sie also aus einem oder zwei umfangreicheren Kapitularien ausgewählt haben. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass er sie bereits in seinen Vorlagen mit dem vorangehenden BK 88 verbunden vorfand. Denn obwohl der Sammler sein Material zu einer integrierten, durchgezählten Kapitelliste verbindet, behält er dennoch die Überschriften der einzelnen Kapitularien bei, so dass der Wechsel von einem Stück seiner Vorlage zum nächsten jeweils sichtbar bleibt. Nur die zwei Kapitel von BK 104 haben keine separaten Rubriken, die sie voneinander bzw. von BK 88 absetzen. Offenbar war dem Sammler also nicht bewusst, dass diese Kapitel nicht zum originären Bestand von BK 88 gehörten. Ob in dieser erweiterten Fassung von BK 88 neben den beiden Kapiteln von BK 104 noch weitere Bestimmungen enthalten waren, lässt sich nicht mehr klären. Die Verbindung von BK 88 mit BK 104 c. 7-8 ist jedenfalls nur in drei Handschriften überliefert, ohne dass dort weiteres Material hinzutritt. Weitere Indizien in die eine oder andere Richtung werden sich möglicherweise bei der zukünftigen Neuedition von BK 88 ergeben.
Aus dem Fundus von 49 Kapiteln seiner Vorlagen hat der Sammler 41 übernommen. Im Chigianus scheint die Liste der Zählung nach nur 39 Kapitel zu beinhalten. Doch liegt das zum einen an einem Zählfehler (BK 139 c. 21 wurde irrig ohne Kapitelzahl belassen, obwohl sogar eine eigene Kapitelrubrik ausgeführt wurde). Zum anderen fehlt in der Handschrift zwar in der Tat BK 139 c. 12, doch ist dieses Kapitel in der Schwesterüberlieferung von Cava enthalten, wurde also zumindest in der gemeinsamen Vorlage noch nicht ignoriert und ging somit im Chigianus wohl erst durch ein späteres Kopistenversehen verloren. Umgekehrt fehlen auch in Cava einige Kapitel der Liste, die aber im Chigianus vorhanden sind.
Effektiv hat der ursprüngliche Sammler also acht von 49 Kapiteln, entsprechend (mindestens) 16% seines Vorlagenmaterials, ausgeschieden – immer vorausgesetzt, dass seine Vorlagen nicht bereits ihrerseits verkürzt waren. Im Einzelnen handelt es sich bei den Auslassungen um c. 4-5 von BK 134, c. 18-19 von BK 139, c. 3 von BK 140 (das allerdings in gleich zwei weiteren der acht Listen der Handschrift präsent ist, dort jeweils spiegelbildlich als das einzige aus BK 140 übernommene Kapitel) und c. 4-6 von BK 67.
Tab. 1: Reihenfolge und Kapitelbestand der Collectio V5_4; Abweichungen zwischen den Handschriften sind fett markiert.
Den in der Liste verarbeiteten Kapitularien ist gemeinsam, dass sie überwiegend Aspekte des weltlichen Rechts behandeln, insbesondere Verfahrensfragen im Grafengericht sowie Verbote und Bußen. In kleinerem Umfang adressieren sie auch Angelegenheiten des Fiskus bzw. der königlichen Grundherrschaft. Die vom Sammler übergangenen acht Kapitel bewegen sich im Wesentlichen innerhalb des gleichen thematischen Rahmens, z.T. aber mit einigen Besonderheiten. Im ersten Teil der Liste aus zwei frühen Kapitularien Ludwigs des Frommen (BK 135 und 134) finden sich diverse inhaltliche Überschneidungen und Wiederholungen, da BK 134 in c. 1, 3 und 4 jeweils eines der drei Kapitel des wenig älteren BK 135 aufgreift und modifiziert. Insofern könnte die erste Auslassung, c. 4 von BK 134, grundsätzlich als Versuch interpretiert werden, eine unnötige Wiederholung zu tilgen. Da jedoch bei allen drei Wiederaufnahmen von BK 135 in BK 134 nur gelegentlich einzelne Wendungen oder Begriffe wörtlich wiederholt sind, und von den drei Wiederaufnahmen nur eine ausgelassen wurde, scheint eine andere Erklärung wahrscheinlicher. Und zwar sind die beiden ausgelassenen Kapitel von BK 134, c. 4 und c. 5, von Ludwig dem Frommen wenige Jahre später, und diesmal über weite Strecken wörtlich, in BK 139 aufgegriffen und erweitert worden (als c. 12 und c. 11). Diese beiden erweiterten Fassungen sind aber weiter unten in der Collectio V5_4 aufgenommen, so dass dem Sammler die früheren Fassungen hier entbehrlich erschienen sein könnten. Allerdings wiederholt auch c. 10 von BK 139 ein früheres Kapitel nahezu wörtlich, nämlich BK 134 c. 1 – und dieses Kapitel hat der Sammler nicht als überholte Doublette ausgeschieden.
Im zweiten Block der Collectio, der zeitlich zu Karl dem Großen zurück springt, sind keine Auslassungen nachzuweisen. Dies gilt natürlich vorbehaltlich der oben ausgeführten Prämisse, dass der Sammler bereits eine Vorlage verwendete, in der BK 88 (nur) mit BK 104 c. 7 und BK 104 c. 8 als Zusatzkapiteln erweitert war. Beide Zusatzkapitel könnten im Umfeld der Rechtsreformen Karls des Großen um 802/803 entstanden sein und sind jeweils bemüht, ihre Materie möglichst umfassend und geradezu systematisch darzulegen. In c. 7 wird das Vorgehen bei Anfechtung einer Freilassungsurkunde für die verschiedensten Fälle durchdekliniert, wobei vier Alternativen, jeweils mit „si vero“ – „wenn aber“ eingeleitet, vorbedacht sind. Kapitel 8 wiederum listet die fünf Fälle auf, in denen jemand seinen „senior“ gerechtfertigterweise verlassen darf. Wie die meisten anderen Bestimmungen der Collectio auch sind diese beiden Kapitel also besonders für Personen von Interesse, die mit Streitfällen im weltlichen Gericht zu tun haben. BK 88 wiederum trifft in seinen vier Kapiteln Regeln für das Verfahren, wenn eine Partei von ihr eingegangene rechtliche Abmachungen (Schenkungen, Verkäufe, Selbstverknechtungen) später wieder rückgängig machen möchte.
Im dritten Kapitelblock, der wieder in die Zeit Ludwigs des Frommen springt, hat der Sammler lediglich drei der 29 Kapitel von BK 139 und BK 140 ausgeschieden. Inhaltliche Faktoren sind dabei schwer auszumachen: BK 139 c. 18-19 betrifft das Münzwesen (Pflicht zur Annahme guter Münzen, Strafen für Falschmünzer), BK 140 c. 3 die Sanktionen bei Vernachlässigung von Leihegut („beneficia“). Hier spielten möglicherweise die übrigen Listen der Handschrift eine Rolle, was Konsequenzen für deren Entstehungsgeschichte haben würde. Denn BK 140 c. 3 ist jeweils als Einzelkapitel in gleich zwei andere Listen (Nr. 2 und Nr. 8) des Chigianus aufgenommen, was nicht gerade für eine mangelnde inhaltliche Relevanz der Bestimmung spricht. BK 139 c. 18-19 wiederum sind wörtlich in dem von Kaiser Lothar I. 832 in Pavia erlassenen BK 201 wiederholt (dort als c. 9-10), und dieses Kapitular eröffnet prominent Liste Nr. 7 (ab fol. 98r im Chigianus). Sofern der für die Collectio V5_4 verantwortliche Sammler bei deren Konzeption also bereits einen Überblick über das für die übrigen Collectiones vorgesehene Material hatte, ergibt sich hier ein klares Motiv: Analog zu seinem Verfahren bei den in BK 139 wörtlich aufgegriffenen und (daher?) in BK 134 ausgelassenen Kapiteln hätte er sich im Fall von BK 201 erneut dafür entschieden, ältere Bestimmungen auszulassen, wenn sie in einem jüngeren Stück wörtlich wiederholt vorlagen. Allerdings müsste der Sammler dann übersehen haben, dass auch BK 139 c. 16 in BK 201 (als c. 8) wiederholt ist, denn dieses Kapitel hat er in seiner Kopie von BK 139 nicht übersprungen.
Im letzten Kapitelblock schließlich, der sich mit BK 67 erneut Karl dem Großen zuwendet, ist die gesamte zweite Hälfte des Kapitulars, c. 4-6, vom Sammler verworfen worden. Hier dürfte eine andere Motivation als zuvor ausschlaggebend gewesen sein: Anders als in den ersten drei Bestimmungen, die allgemeine Regelungen festsetzen, geht es in c. 4-6 um konkrete Aufträge an die seinerzeitigen Missi. Diese werden angewiesen, über Fremde („adventicii“) in ihren Bezirken zu berichten (c. 4), ferner Flüchtige sowie Fremde („fugitivos et adventicios“) aus Aquitanien und Italien zur herrscherlichen (Gerichts-)Versammlung („ad nostrum placitum“) zu führen (c. 5) sowie schließlich das vorliegende Kapitular (also BK 67) auch anderen Missi zu übermitteln (c. 6). Als in der Gegenwart des Sammlers längst ausgeführte und damit erledigte einmalige Handlungsanweisungen hielt er sie offenbar für überflüssig in einer Sammlung, die überwiegend nur allgemeine Rechtsnormen kompilierte.
Als Fazit für die künftige Analyse von Kapitulariensammlungen ergibt sich, nicht zum ersten Mal, die Erkenntnis, dass die Motive frühmittelalterlicher Sammler komplexer, differenzierter und auch (scheinbar?) widersprüchlicher waren, oder jedenfalls inkonsequenter gehandhabt wurden, als ursprünglich vermutet. Die Collectio V5_4 etwa lässt sich, isoliert betrachtet, einerseits als recht pauschale Zusammenstellung von Kapitularien zum Themenbereich des weltlichen Rechts verstehen, wie sie etwa für einen Grafen von praktischem Nutzen gewesen sein könnte. Andererseits offenbart die Liste, dass für die Auslassung einzelner Bestimmungen nicht nur das thematische Interesse ihres Kompilators von Bedeutung war. Denn es wurden sowohl „verjährte“ einmalige Anweisungen an die Missi ausgeschlossen wie auch durch jüngere, wörtlich wiederholende Bestimmungen „aktualisierte“ (oder bloß als redundant erscheinende?) Kapitel, und schließlich auch solche Regelungen, die mehr oder minder „zufällig“ bereits anderweitig (hier: in einer anderen Liste der gleichen Handschrift) für den Sammler greifbar waren. Was sich am gewählten Beispielfall gerade nicht verifizieren ließ, war, ob der Sammler aufgrund seiner individuellen Interessenlage auch etwaige rein „geistliche“ Bestimmungen ausgelassen hätte, so sie in den von ihm für die Collectio V5_4 herangezogenen Kapitularien enthalten gewesen wären. Es könnte sich lohnen, hierzu die einem ersten Eindruck nach noch stärker auswählende Liste Nr. 2 des Chigianus näher in den Blick zu nehmen, in der aus fünf der acht verwendeten Kapitularien jeweils nur 1-2 Kapitel übernommen wurden. Die Kategorie „Sammlung des Monats“ dürfte jedenfalls noch nicht den letzten Post zum „Cava-Chigi“-Komplex gesehen haben.
S. Kaschke
Literatur:
Mordek 1995, S. 98-111, 756-768
Britta Mischke, Sammlung des Monats März 2021
Sören Kaschke, Sammlung des Monats Juli 2021