Kapitularien sind keine eigenbrötlerischen Nomaden, sondern recht gesellige Wesen, die oft in der Gesellschaft anderer Texte zu finden sind; sei es weiterer Kapitularien, sei es sonstiger Rechtstexte, sei es auch ganz anderer Werke. Ein Ziel des Projekts ist es, solche charakteristischen Kombinationen – Sammlungen – zu identifizieren und zu erforschen. Derartige Sammlungskontexte können für die Editionsarbeit von großem Wert sein, zumal in solchen Fällen, in denen eine Gruppierung der handschriftlichen Überlieferung aufgrund eines Mangels an aussagekräftigen textkritischen Varianten (besonders bei kurzen Stücken) sonst entweder gar nicht möglich ist oder mehrdeutig bleibt. Zudem bieten Sammlungen eine Brücke zum besseren Verständnis der Interessen des ursprünglichen Schreibers bzw. Sammlers, mithin zu seiner Verortung, auch ganz handfest in Zeit und Raum.
Ein Beispiel für eine in mehreren Handschriften wiederkehrende Kombination von Kapitularien ist die in sieben Handschriften mit italienischem Bezug zu findende Abfolge der Stücke BK 20a, 22, 23 und 95. Zwei dieser Stücke sind sehr oft überliefert (Capitulare Haristallense, Forma communis BK 20a von 779; Admonitio generalis BK 22 von 789; Glatthaar 2013a, S. 14), das dritte (Duplex capitulare missorum BK 23 von 789 [?]) ist immerhin noch in 16 Handschriften ganz oder teilweise erhalten und zudem schon aufgrund seiner Entstehungsumstände oft mit BK 22 verbunden. Aber das vierte Stück (Karoli Magni capitulare Italicum BK 95 von 787 [?]) ist schon nur mehr in 13 Exemplaren erhalten – davon aber siebenmal in Kombination mit den vorgenannten anderen drei Kapitularien, und zwar jeweils bei geringfügigen Abweichungen stets in der gleichen Reihenfolge, wie die folgende Übersicht illustriert:
Abb. Reihenfolge der in ausgewählten Handschriften mit italienischem Bezug enthaltenen Kapitularien (die Farbskala repräsentiert das Alter der Stücke von Blau nach Rot).
Die in dieser Übersicht auf den ersten Blick leicht abweichende Reihenfolge in der Handschrift München lat. 19416 erklärt sich mit dem Einschub von Kapitel 8 von BK 93 in den Text (Mordek 1995, S. 358). Ähnlich ist in den Handschriften aus Gotha und Modena ein Brief Karls des Großen (BK 97) vor BK 95 ergänzt. In der Handschrift München lat. 3853 wie in der eng verwandten Handschrift Heiligenkreuz 217 schließlich sind lediglich Auszüge der vier Kapitularien enthalten. Am stärksten gekürzt wurde dabei BK 22, von dem lediglich noch ein Teil der Rubrik übernommen ist. Der eigentliche Text des Kapitulars fehlt also, aber in der exzerpierten Vorlage hatte der Bearbeiter das Stück offenkundig noch zwischen BK 20a und BK 23 vor Augen gehabt.
Die sieben Handschriften lassen sich, nicht zuletzt anhand unterschiedlicher Kapitelzählungen bei den vier Kapitularien, in drei Gruppen aufteilen: Die erste besteht aus den beiden Handschriften aus Ivrea (Nr. XXXIII und XXXIV) sowie dem Münchener Codex lat. 19416 (im Folgenden als Ivrea-Gruppe bezeichnet), die zweite aus den für die Rekonstruktion des sogenannten Liber Legum des Lupus wichtigen Handschriften Gotha Memb. I 84 und Modena O.I.2 (Lupus-Gruppe), die dritte schließlich aus den stark exzerpierenden Codices von Heiligenkreuz und München (Heiligenkreuz-Gruppe). Münsch identifiziert einen Kernbestand an Kapitularien, der in den meisten italienischen Sammlungen auftauche (Münsch 2001, S. 116), den er aber nicht weiter auf kleinere Teilsammlungen wie die vorliegende hin differenziert. Auf diesen Kernbestand habe Lupus bei der Abfassung seines Liber Legum, wohl um die „Mitte der 30er Jahre“ des 9. Jahrhunderts (ebd., S. 69), zurückgegriffen.
Tatsächlich weisen die Ivrea-Gruppe und die Lupus-Gruppe mehrfach Cluster auf, in denen sie einzelne Kapitularien in der jeweils gleichen Kombination bieten. Insgesamt unterscheiden sie sich jedoch so sehr hinsichtlich Bestand (Aufnahme oder Fehlen der Wormser Gesetzgebung von BK 191-193), Reihenfolge (Einordnung der gewichtigen Stücke BK 39-40 bzw. BK 43-44) und Ordnung (das Doppelkapitular BK 23 als zwei separat gezählte Listen oder als eine durchgängig gezählte Liste), dass eine unmittelbare Benutzung, gleich in welche Richtung, unwahrscheinlich ist. Mordek folgend nimmt Münsch an, dass die Heiligenkreuz-Gruppe zwar nicht direkt aus der Lupus-Gruppe abgeleitet, aber von dieser mittelbar „beeinflußt“ sei, nämlich durch eine „ander[e] Redaktion“ (Münsch 2001, S. 116 Anm. 110; Mordek 1995, S. 257). Nimmt man an, dass ein stark exzerpierender Sammler seine Auswahl entweder komplett inhaltlich umstrukturieren oder aber die vorgefundene Ordnung im Wesentlichen beibehalten wird, könnte z.B. die Aufspaltung von BK 94 in der Heiligenkreuz-Gruppe gegen deren Kompilation auf Basis der Lupus-Gruppe sprechen.
Bereits Mordek ging von der Existenz einer für die italienische Kapitularienüberlieferung insgesamt wichtigen Sammlung aus, deren „Mindestumfang“ (Mordek 1995, S. 677) in der ursprünglich wohl bereits kurz nach 789 entstandenen Zusammenstellung der (späteren) Handschrift Sankt Gallen 733 greifbar sei. Dort finden sich zwar nur die Stücke BK 20a, 22, 23, 89 (unikal!), 94 und 97, aber Mordek nahm an, dass in der (verlorenen) Sammlung selbst auch noch BK 39, 40, 95 und 98 enthalten waren, was aufgrund der Datierung von BK 39-40 eine Erweiterung des „Mindestumfangs“ ab 803 oder später voraussetzt. Ebenfalls aufgrund der Sankt Galler Handschrift sprach Zechiel-Eckes mit Bezug auf BK 22 von der Bodenseeregion als „‚Sprungbrett‘ nach Italien“ (in: Glatthaar 2013a, S. 98).
Folgendes Szenario sei daher in Erwägung gezogen: Zwischen 789 und 800, mutmaßlich aber eher zu Beginn dieses Zeitraums, brachte ein frisch nach Italien entsandter Amtsträger seine eigene Grundausstattung der wichtigsten Kapitularien mit, nämlich das Kapitular von Herstal in seiner fränkischen Fassung (BK 20a) und die große Reformagenda der Admonitio generalis (BK 22) von 789 mitsamt zugehörigem Doppelkapitular (BK 23). In Italien angekommen, verschaffte er sich zudem das neueste verfügbare Kapitular (BK 95) und ergänzte es in seinem mitgebrachten Textdossier. Dieses kleine Kompendium verbreitete sich in der Folgezeit weiter und wurde als ein Textblock in verschiedene größere Kapitulariensammlungen aufgenommen oder exzerpiert.
Ob diese Überlegungen zu einem in Italien zirkulierenden Textdossier letztlich belastbar sind, wird sich selbstverständlich erst nach einer genaueren textkritischen Untersuchung im Rahmen der Neuedition der vier Stücke erweisen.
S. Kaschke
Literatur:
de Clercq C 1936, S. 165-167
Ganshof 1961, S. 144
Manacorda 1968, S. 61-77
Bougard 1995, S. 24-52
Mordek 1995
Mordek 2000b, S. 40-43
Münsch 2001
Mordek 2005
Glatthaar 2013a
Davis 2015, S. 278-289